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Antonio Ortuño: "Die Verschwundenen"
Die Macht von Mexikos Clans

Antonio Ortuños Roman beschreibt bedrückend realistisch das Milieu der Geldwäscher und Immobilienspekulanten und lenkt den Blick auf einen rücksichtslosen Familienclan, dem eine korrupte Polizei und Justiz keinerlei Grenzen setzen. Und auf einen Machismo, der einer anderen Zeit entsprungen scheint.

Von Eva Karnofsky |
Buchcover: Antonio Ortuño: „Die Verschwundenen“
Ortunos Roman "Die Verschwundenen" - nichts für zart besaitete Leser (Buchcover: Verlag Antje Kunstmann, Foto: Lisbeth Salas)
Der Leser lernt Aurelio Blanco, den Protagonisten von Antonio Ortuños neuem Roman "Die Verschwundenen", im Gefängnis kennen, kurz vor seiner Entlassung.
"'Die Flores werden dich kaltmachen.' Während Rechtsanwalt Piña im Vorraum der Krankenstation des Gefängnisses darauf wartete, dass die Stichwunde, die man einem anderen seiner Mandanten zugefügt hatte, desinfiziert und genäht wurde, konfrontierte er Aurelio Blanco mit der Gewissheit, dass er umgebracht werden würde. 'Mach dir keine Illusionen. Wenn du rauskommst, werden sie zwei, drei Monate warten und dich dann abknallen.' In den fünfzehn Jahren Knast hatte Blanco keine Zeit und keine Kraft gehabt, diese simple Überlegung anzustellen, oder er war nicht in der Geistesverfassung gewesen. Doch er wusste, dass das, was er soeben gehört hatte, stimmte. Die Flores, seine angeheiratete Familie: Wegen ihnen saß er im Gefängnis. Und sie würden ihn abmurksen."
Mexikos Justizwesen ist korrupt
Und zwar, weil die Flores ihm Geld schuldeten, viel Geld. Sie hatten es ihm versprochen, als der Clan noch im Geld schwamm, doch die Flores hatten kürzlich finanzielle Rückschläge hinnehmen müssen. Aurelio, genannt Yeyo, hatte freiwillig für den Patriarchen des Clans, Carlos Flores, vor Gericht eine Schuld wegen Geldwäsche auf sich genommen, damit dieser sie nicht selbst absitzen musste und weiterhin seinen dubiosen Geschäften im Bausektor nachgehen konnte. In Mexiko sind solche Deals möglich, sagt der Schriftsteller Antonio Ortuño:
"Leider gab es solche Fälle oft, das Justizsystem steckt mit den verschiedensten Interessen unter einer Decke, mit Politikern und ihren Interessen, mit Verbrechern – mit jedem, der bezahlen kann. Dafür gibt es sehr viele Belege. In anderen Ländern mag das wie Science Fiction anmuten, aber in Mexiko lebt man jeden Tag damit."
Patriarch Carlos Flores hat fünfzehn Jahre lang dafür bezahlt, dass Yeyo in einem Gefängnistrakt untergebracht war, in dem es weniger gewalttätig zuging.
"Das gibt es in den mexikanischen Gefängnissen – Zonen, wo man dafür bezahlt, dass der Gefangene weniger Probleme hat und es ihm weniger schlecht geht."
Von der Macht der Familienclans
Doch ansonsten hat der Flores-Clan Yeyo in den fünfzehn Jahren im Stich gelassen. Alicia, Carlos Tochter, hat sich nach kurzer Zeit von Yeyo scheiden lassen und Adoptivtochter Carlita hat ihn nicht ein einziges Mal besucht. Schon als kleiner Junge, als Yeyo für die reiche Familie Flores das Auto wusch, war er für sie nichts weiter als ein Laufbursche. Daran hat sich auch nichts geändert, nachdem er Buchhalter in der Firma geworden war und Alicia auf Wunsch ihres Vaters geheiratet hatte, weil sie ein Kind erwartete und der Vater verschwunden war. Yeyo erinnert sich nur zu gut daran, und der allwissende Erzähler, der den Roman in der dritten Person und aus der Rückschau erzählt, teilt es dem Leser mit.
"Ich bin ganz sicher, dass es viele Familien wie die Familie Flores aus meinem Roman gibt, .die eine unermessliche Macht haben und die sich diese um jeden Preis über viele Jahre bewahrt haben. Sowohl in der Industrie und in den Privatfirmen im Allgemeinen, und vor allem auch in Guadalajara, einer sehr konservativen Gesellschaft, gibt es häufig dieses Phänomen der Familien-Clans, die sich so verhalten. Ich habe sie nicht übertrieben beschrieben, und in den Mafia-Familien geht es ähnlich zu."
Guadalajara – Zentrum der Geldwäsche
Antonio Ortuño kennt sich aus in Mexikos zweitgrößter Stadt Guadalajara, denn er stammt selbst daher. Und so hat er seinen Roman dort angesiedelt. Auch die schmutzigen Geschäfte im Immobiliensektor, die die Familie Flores im Roman betreiben, kennt der Autor aus seiner Heimatstadt:
"In Zapopan, dem Teil der Stadt, wo ich geboren wurde und wo ich wohne, haben sich viele dieser Firmen niedergelassen, die in Mexiko das schmutzige Geld der Kriminellen waschen. Außerdem gab es über Jahre in Guadalajara eine Art Immobilien-Boom, der durch dieses Geld explodierte. Und mich interessierten schon seit langem die Geschichten der Geldwäscher, mehr noch als die Kriminellen selbst. Mich interessierte die andere Seite, die Leute, die aus meiner Stadt sind, einige Familien mit sehr viel Geld, mit sehr viel Stammbaum, die Geld gewaschen haben, die die legale Fassade errichtet haben für solche Geschäfte, die das Geld aus dem Verbrechen benutzen."
Die Familie Flores ist eine solche Familie. Und dass im Roman, wie der Titel bereits vermuten lässt, Menschen verschwinden, ist ebenfalls der Realität abgeschaut. Nach seiner Haftentlassung nimmt Yeyo trotz der Warnung seines Anwalts, die Flores trachteten ihm nach dem Leben, Kontakt zu ihnen auf, denn er braucht das Geld, das sie ihm versprochen haben. Und bei dieser Gelegenheit erfährt er, dass von den Bewohnern eines Grundstücks, das Carlos Flores bebauen wollte, jede Spur fehlt.
Menschen begehen jede Art von Barbarei
"In Mexiko verschwinden viele Menschen, aus den verschiedensten Gründen. Im Roman im Zusammenhang mit der Immobilienspekulation. Das gibt es, es verschwanden Menschen, die sich geweigert haben, ihr Grundstück zu räumen. Es gibt viele Beispiele von Vorkommnissen dieser Art. Es handelt sich um Entführungen, mit vorgehaltener Waffe, durch kriminelle Elemente. Das Wort Verschwinden ist im Grunde ein Euphemismus."
Yeyo möchte die eineinhalb Millionen Euro kassieren, die Carlos Flores ihm als Gegenleistung für den Gefängnisaufenthalt seinerzeit versprochen hatte. Es wird nicht verraten, ob er sie bekommt und ob die Flores ihm tatsächlich nach dem Leben trachten. Doch so viel sei gesagt: Kaum befindet Yeyo sich wieder auf freiem Fuß, geht es ihm schlechter als im Gefängnis, und auch er selbst ändert sich, und keinesfalls zum Guten:
"In den 15 Jahren, weit entfernt von dem schändlichen Einfluss der Flores, ist er eine viel sanftere, einfachere Person. Obwohl er versucht, dem Einfluss zu entkommen, bringen die Umstände ihn so weit, wieder in das gleiche Spiel zu verfallen, in dem er vor seinem Gefängnisaufenthalt war: Er hat nie aufgehört, ein Angestellter der Flores zu sein. Und mir scheint, das spiegelt wieder, was im mexikanischen Alltag passiert: Die Umgebung in Mexiko ist so schrecklich, dass sie viele Menschen aller sozialen Klassen dazu bringt, jede Art von Barbarei zu begehen."
Vom sanften Gefangenen zum rücksichtslosen Mann
Die Beschreibung von Yeyos allmählicher Verwandlung vom sanften Gefangenen zum rücksichtlosen Mann zählt zu den Stärken des Romans. Der im Übrigen sehr spannend ist, weil man wissen möchte, warum sich Alicia von Yeyo hat scheiden lassen, wie genau die zwielichtigen Geschäfte aussahen, in die Carlos Flores verwickelt war, warum Menschen verschwinden mussten, warum die Polizei nichts dagegen unternommen hat und wie es zu den finanziellen Rückschlägen der Flores kam, kurz: man möchte wissen, was passiert ist, während Yeyo im Gefängnis saß. Und im Laufe des Romans wird dies auch enthüllt.
Wie fast zu erwarten, ist die Sprache des Romans dem Thema und dem Milieu entsprechend rau und oftmals sexualisiert. Frauen wie Yeyos Ex-Frau Alicia werden fast ausschließlich als Sexualobjekt gesehen:
"Die weiblichen Charaktere im Buch sehen sich fast durchgängig sexuell belästigt, verfolgt, sie müssen ständig in der Defensive sein, da sie dauernd angegangen werden von den Männern. Die mexikanische Wirklichkeit ist so. Mexiko ist ein Land, in dem man gerade erst anfängt, öffentlich über den allgegenwärtigen Machismo zu diskutieren, den es seit vielen Jahren gibt. In Mexiko war der machistische Charakter der Volkskultur fast ein Motiv für Nationalstolz."
"Die Verschwundenen" ist kein Roman für zart besaitete Leser. Er setzt da an, wo Journalisten in Mexiko aus Angst um ihr Leben meist nicht weiter recherchieren können: Er beschreibt die Verflechtung von Verbrechen, Politik, Polizei und feiner Gesellschaft. Das ist seine größte Stärke. Autor Antonio Ortuño wird noch bis Juli in Berlin bleiben. Und genießt, dass er dort keine Angst haben muss, seine Töchter könnten nicht heil von der Schule nach Hause kommen, weil jemand sie überfallen oder gar entführt hat, wie es in Mexiko inzwischen zum Alltag gehört.
Antonio Ortuño: "Die Verschwundenen"
aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartmann
Verlag Antje Kunstmann, München. 255 Seiten, 20 EUR.