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Appell zum Hinsehen

Mehr Engagement des Staates ist nach Einschätzung von Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, nicht ausreichend, um Gewalt in Familien zu verhindern. "Wir brauchen auch hier eine kinderfreundlichere Kultur", sagte Ehrmann. Dann würden Missbrauchsfälle in der Gesellschaft erkannt und gegen sie eingeschritten.

Moderation: Dirk Müller |
    Dirk Müller: Guten Morgen!

    Georg Ehrmann: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Ehrmann, viele sind nach wie vor und immer wieder aufs Neue fassungslos. Gibt es eine Erklärung?

    Ehrmann: Tja, leider muss man sagen, dass es eigentlich statistisch gesehen eine normale Woche wäre in Deutschland. Denn es sterben in Deutschland im Schnitt mehr als drei Kinder pro Woche an den Folgen der Gewalt ihrer Eltern. Es waren 178 im letzten Jahr. Und wir stellen einfach fest, dass wir einen weiten Bereich mittlerweile außer Acht gelassen haben, nämlich dass wir eine immer größere Anzahl von völlig überforderten Eltern haben und dass wir diese im Grunde genommen völlig allein gelassen haben, dass es an Hilfsangeboten fehlt, dass die Anzahl psychischer Erkrankungen immer stärker geworden ist, dass das Suchtverhalten sich verändert hat und dass wir noch keine Antworten darauf gefunden haben, wie wir diesen Familien helfen können.

    Müller: Oft, Herr Ehrmann, sind die Zeiten im Rückblick früher immer besser gewesen. War das in den 60er, in den 70er, in den 80er Jahren anders?

    Ehrmann: Nein, das Phänomen Gewalt gegen Kinder hat es natürlich immer schon gegeben. Was wir allerdings beobachten müssen, dass schon in den letzten zehn Jahren, verstärkt in den letzten fünf Jahren, die Gewalt gegen die Kinder zugenommen hat. Es ist ja ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu beobachten, dass wir eine steigende Anzahl von Gewalttaten haben. Das kann man in der allgemeinen Kriminalstatistik sehen. Das beobachtet man in den Medien, und das bekommen natürlich insbesondere dann auch die Schwächsten zu spüren, nämlich die Kinder in den Familien, in denen die Not auch so groß ist, dass dort Gewalt Alltagsmittel ist und dadurch die Kinder zu Schaden kommen.

    Müller: Auf den Punkt gebracht, mal ungeschützt könnte man auch sagen, das ist auch alles eine soziale Frage?

    Ehrmann: Das ist überwiegend eine soziale Frage. Der aktuelle Fall gestern passt nicht ganz ins Schema, da muss man ja auch erst mal schauen, was dort die Hintergründe sind. Das war ja eher ein bürgerliches Milieu. Die Fälle von starker Verwahrlosung und Misshandlung, gerade die wir eben auch gehört haben, das sind Fälle von erziehungsunfähigen Eltern in der Unterschicht. Die Politik hört es nicht gerne, wir haben aber wirklich einen breiten Teil gerade von jungen Familien von der gesellschaftlichen Teilhabe abgehängt, die leben in den sozialen Brennpunkten, die sind teilweise schon in der zweiten, dritten Generation im sozialen Sicherungssystem. Und daraus haben wir uns vollkommen zurückgezogen, aus diesen Brennpunkten, aufsuchende Jugendhilfe findet dort nicht statt. Und das System funktioniert ja so, dass wir immer erst dann eingreifen, wenn etwas schon ein Fall geworden ist. Das heißt, die aufsuchende Jugendhilfe, die präventive Arbeit mit diesen Familien, die haben wir eingespart in den letzten Jahren.

    Müller: Könnte man sagen, in sozialer Armut verschwinden Maßstäbe, verschwinden auch die Hemmschwellen?

    Ehrmann: Natürlich ist ein andere Gewaltbereitschaft da. Wir haben ein hohes Maß an Suchterkrankungen in diesem Milieu, Alkoholabhängigkeit spielt da eine ganz große Rolle gewaltsteigernd. Und es sind auch neue Formen von Suchterkrankungen, die zur Verwahrlosung führen, Internetabhängigkeit spielt da eine große Rolle, auch ungezügelter TV-Konsum. Das sind ja alles Faktoren, die zur Verwahrlosung führen und damit auch die Gewaltbereitschaft steigern. Und es ist vor allen Dingen auch der Verlust an Werten und Maßstäben, die wir überall gesellschaftlich beobachten. Dort aber besonders, weil wir keine Korrekturen mehr haben. Es gibt ja keine funktionierende Familienverbünde mehr, wo so was aufgefangen werden kann.

    Müller: Wir suchen ja auch gerne, Herr Ehrmann, nach Verantwortlichen, weil wir das wollen, weil wir das müssen, weil es vielleicht auch Erklärungen bringt. Gibt es Verantwortliche?

    Ehrmann: Das Problem ist zu komplex, als dass man sagen könnte, die Politik hat versagt, was ja gerne gemacht wird. Natürlich ist im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe stark gekürzt worden. Natürlich haben wir Fallzahlen von 150 Fällen, aber nicht alle Fälle sind immer so dramatisch, dass man dieses Eingreifens bedarf. Ich glaube, das Problem kriegen wir nur in den Griff, wenn wir es gesamtgesellschaftlich angehen. Beim Kampf gegen rechte Gewalt ist es uns sehr gut gelungen, die gesamte Gesellschaft zu aktivieren. Da ist die Bürgergesellschaft im Grunde genommen, funktioniert dort. Die Kultur des Hinsehens, dass wir die Möglichkeit haben, Nein zu sagen, dass es bundesweit eine Hotline gibt, an die ich mich wenden kann. Das fehlt ja im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vollkommen. Gerade der Bereich der Familie ist ja ein sehr geschützter Bereich. Man möchte sich nicht einmischen, man guckt nicht hin. Wie werden Kinder in unserer Gesellschaft wahrgenommen? Meist als Lärmverursacher oder als fehlende Beitragszahler oder als, im Koalitionsvertrag steht, sie sollen nicht Karrierehindernis ihrer Eltern sein. Wir brauchen auch hier eine kinderfreundlichere Kultur, weil dann schaut man auch hin, dann sieht man Kinder ja auch als Bereicherung. Und es fällt auf, wenn Kinder verwahrlost sind, und es fällt auf, wenn in der Nachbarschaft oder in der engen Verwandtschaft jemand schwanger ist, man kann auch Hilfe anbieten, und man gibt das Signal, es ist etwas Positives. So lange wir so eine kinderunfreundliche Gesellschaft haben, werden wir mit mehr Staat das Problem nicht lösen können, sondern wir müssen hier wirklich die Gesellschaft aktivieren.

    Müller: Es gibt ja immer wieder direkt in diesem Zusammenhang bei vielen, vielen Fällen, Herr Ehrmann, auch immer deutliche, harsche, barsche Kritik an den Behörden, an den Jugendämtern. Ist die berechtigt?

    Ehrmann: Die Kritik ist leider in vielen Fällen sehr berechtigt, denn die Jugendämter arbeiten teilweise wirklich personell und finanziell am Limit. Das ist aber nicht das Kernproblem, das wir haben. Wir haben im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten 20 Jahren die dringend notwendige Qualitäts- und Mentalitätsreform schlichtweg verschlafen. Selbst jetzt, wo immer mehr spektakuläre Fälle hochkommen, gibt es noch viele Jugendämter, die nach dem Weiter-so-Prinzip arbeiten. Das heißt, es wird sehr stark auf das Konsensprinzip gesetzt. Es wird sehr stark der Dialog mit den Eltern gesucht. Natürlich ist das Jugendamt auf der einen Seite der Vertraute der Eltern, es hat aber auf der anderen Seite auch genauso den staatlichen Wächterauftrag für das Kindeswohl.

    Müller: In vielen Fällen nicht konsequent genug?

    Ehrmann: Nicht konsequent genug. Wenn man im Fall Lea-Sophie sieht, dass die Eltern einbestellt wurden ins Amt zur Abklärung einer Kindeswohlgefährdung und man nicht in die Wohnung geht, und das ist durchaus Standard, wenn man sich überlegt, dass es in Deutschland immer noch keine einheitlichen Diagnosestandards gibt, zum Beispiel bei Kindern alkoholkranker Eltern. Wenn man sich überlegt, dass alle von Vernetzung reden, aber sie faktisch nicht stattfindet, weil dort eine Wagenburgmentalität besteht, muss man sagen, dass in dem Bereich große Defizite bestehen.

    Müller: Diese Qualitäten, die Sie ansprechen, die Sie vermissen, ist das irgendwo in anderen Ländern besser geregelt?

    Ehrmann: Das ist, wenn man sich zum Beispiel Skandinavien anguckt, Schweden anguckt, Dänemark anguckt, wesentlich besser geregelt, weil dort eben schon im Vorfeld mit den Familien gearbeitet wird. Da kommt es nicht erst dazu, dass das Jugendamt eingreift, wenn eine Gewalttat vorliegt oder wenn es ein Fall geworden ist, sondern dort wird frühzeitig, wenn beobachtet wird, es gibt Probleme in der Familie, von der Kindertagesstätte, von der Schule, von den Nachbarn, dann gibt es eben die Möglichkeit, dass dort speziell ausgebildete Krankenschwestern in den Familien arbeiten und engmaschig mit denen zusammenarbeiten. Das Stichwort heißt ja engmaschige Betreuung von Problemfamilien. Und da sind wir in Deutschland hinterher.

    Müller: Heute Morgen live im Deutschlandfunk Georg Ehrmann, Geschäftsführender Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe Direkt. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Ehrmann: Wiederhören, Herr Müller!