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Appetitanregend

Die Großstudie zur "Ethik des Essens" zeichnet eine über zweieinhalb Jahrtausende währende Verdrängungsgeschichte des Essens als ethisch irrelevante Nebensache physischer Reproduktion nach. Gegen diese Denkweise bietet der Autor Harald Lemke in seinem Buch appetitanregende Kostproben und fordert mithin mehr Anerkennung für die Kunst des Zubereitens als Respekt vor der Konsistenz der Rohstoffe.

Von Michael Wetzel | 14.04.2008
    Und wieder einmal erschüttert dieser Tage eine Meldung die deutsche Öffentlichkeit, die einen unserer basalsten Bereiche des Lebens betrifft: das Essen. Diesmal ist es nicht Gammelfleisch, Pestizide im Gemüse oder Genmanipulationen, was die Gemüter erregt, sondern ein eigentlich bekannter Effekt unserer modernen oder besser postmodernen Ernährungsweisen, den man aber gern im Zerrspiegel degenerierter Industriestaaten wie den USA belächelt. Dennoch, eine Enquete des Bundesgesundheitsministeriums hat jetzt schwarz auf weiß bestätigt, dass über 70 Prozent der deutschen Männer an Übergewicht leiden, wobei es bei den Frauen nicht viel besser ausschaut.

    Wen wundert's außer vielleicht den Bundesgesundheitsminister, wo doch kein Thema soviel Aufmerksamkeit auf sich lenkt wie die Nahrung und im Zeitalter von Aids Nahrungsrituale sogar das Interesse an Paarungsritualen in den Schatten gestellt haben: sozusagen als allabendliche im Fernsehen bei Kerner, Mälzer oder anderen mitzuerlebenden Beschäftigung mit einem Genuss ohne Reue! Oder doch?

    Die überwältigende Popularität von Kochbüchern, Kochsendungen, ja -shows ist jedenfalls nicht schuld an den gesundheitlichen Problemen. Denn, wie die Studie zugleich feststellt, steigt die Rate der Problemfälle gerade bei denen, deren Bildungshintergrund eine Beschäftigung mit den Geheimnissen der Küche weniger vorsieht. Was fehlt ist eher Aufklärung über die Beschaffenheit dessen, was täglich zur Stillung des Hungers und darüber hinaus einverleibt wird.

    Kampagnen für mediterranes Essen mit viel Fisch, Gemüse und Olivenöl oder gar engagierte Gegenmodelle für regionale und authentische Zutaten wie "Slow food", die nicht zuletzt durch den Kampf für den Rohmilchkäse bekannt wurden, scheitern an der McDonaldisierung nicht unserer, sondern der ganze Welt.

    Und die mittlerweile aus der Randexistenz der "Körnerfresser" herausgetretene Ökobewegung hat zwar den Durchbruch zu eigenen Supermarktketten geschafft, erreicht aber nur urbane Schichten des gehobenen Bildungsbürgertums, während in den ländlichen Regionen weniger bäuerlich gut, als vielmehr industriell vorproduziert schlecht gegessen wird.

    Ein Grund für diesen Missstand hat die ebenfalls in den letzten Jahren sprunghaft angestiegene Forschungsliteratur zu gastrosophischen Themen darin ausgemacht, dass die zumal philosophische Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens das Essen in den Keller niederer Sinnlichkeit verbannt statt auch auf dieser Ebene die normative Praxisform eines ethisch guten Lebens zu entwickeln.

    Die engagierten Kritiker dieser Geschmacksfeindlichkeit verstricken sich zwar sogleich in den performativen Widerspruch, dass sie viel Material in den Archiven finden, das sich explizit mit dem Nahrungsthema auseinandersetzt: aber es bleibt festzustellen, dass gerade trotz der Verbreitung von "Geschmacks"-Metaphern im ästhetischen Bereich deren kulinarische Herkunft ebenso unterbelichtet blieb wie das hohe Materialwissen der Künstler am Herd.

    Grund genug für Denker wie Harald Lemke, mit gewichtigen Untersuchungen gegen dieses Vergessen anzutreten. Seine gastrosophische Großstudie zur "Ethik des Essens" zeichnet eine über zweieinhalb Jahrtausende währende Verdrängungsgeschichte des Essens als ethisch irrelevante Nebensache physischer Reproduktion nach. Schon Platon sieht in der Kochkunst eine bloße Geschicklichkeit, die er von der Heilkunst wohl unterschieden wissen will. Die Beschäftigung mit der Nahrungsaufnahme gehört für die Antike eher in den Bereich der Komödie und wird hier zur Karikatur üppiger Völlerei oder habgieriger Streitigkeiten um die besten Bissen. Für den Philosophen ist die Essstörung nur der Beweis für einen Mangel an freier Selbstbestimmung, sich über sein irdisches physisches Dasein zu erheben. Lemke sieht darin eine Angst vor dem Rückfall in das Tierstadium und fasst zusammen:

    Einstweilen hängt aber am Geist noch ein Bauch, lebt die Menschheit durch die Mahlzeit, bleibt das Vernunftswesen ein Lebewesen, mithin ein unphilosophisches Tier, das sich ernährt. Wegen dieses Umstandes droht dem Menschsein fortwährend die Gefahr, an der Unvernunft des Essens und seines essistenziellen Wesens zugrunde zu gehen. Eine Menschheit, die das Essen zu einem wesentlichen Lebensinhalt macht und ihm zu viel Bedeutung beimisst und lebt, um zu essen, reduziert sich selbst auf ihre Animalität.

    Der Autor hätte auch die berühmte Anekdote vom Menenius Agrippa ins Feld führen können, der über das Gleichnis vom Zusammenspiel zwischen nährendem Magen und arbeitenden Gliedern die ausgewanderten Plebejer zur Rückkehr nach Rom bewog. Aber die Philosophie bleibt nun einmal so genussfeindlich, dass ihr eigentliches Ideal in Sachen Essen nur der Hungerkünstler sein kann.

    Auch das Christentum, das ja nun gerade durch seine gastrotheologische Symbolik der Theophagie beim Abendmahl eine besondere Nähe zu Speise und Einverleibung bekundet, entfernt sich auf dem Wege der so genannten "Brotrhetorik" sogleich wieder von einer allzu buchstäblichen Verständnisweise. Was bleibt, ist die "Mahlgemeinschaft" der zeichenhaft Brot und Wein Teilenden. Bei der alltäglichen Nahrungsaufnahme herrschen dagegen die seit Augustinus gepredigte Verachtung der Fleischeslust und das Ideal christlichen Fastens vor.

    Spannender wird es dagegen im Königsberg des 18. Jahrhundert, wo der mit seiner Diätmoral einen vernünftigen Umgang mit Lebens- und Genussmitteln fordernde Philosoph Kant gegen den Mediziner Hufeland zu Felde zieht. Dessen diätetische Makrobiotik sah im Vermeiden aller raffinierten Speisen vor allem französischer Art einen Weg zur Verlängerung des Lebens, aber was nutzt ein langes Leben, so konterte Kant mit seinem unüberbietbaren Humor, wenn man es nicht genießt.

    Lemke bietet appetitanregende Kostproben der unbekannten Gastrosophie Kants, der ein geschätzter Gastgeber war und die Tischgesellschaft als verfeinerte Lebensart liebte. Aber zu einer wirklichen "Essthetik" des Geschmacks in seiner kulinarischen Bedeutung konnte auch er sich nicht durchringen.

    Erst der so genannte "Zweite Hauptgang" des Buches sammelt die Brocken, die eine Vorgeschichte des gastrosophischen Denkens hinterlassen hat. In ihr erfährt die Kunst des Kochens als Respekt vor der Konsistenz der Rohstoffe und als Wissen um die geheimen Kräfte der Nahrungssubstanzen und ihrer Wandlung die gehörige Anerkennung. Angefangen bei der Säftelehre des Hippokrates und dem kulinarischem Selbstgenuss Epikurs geht die Reise über Rousseaus Rohkostethik eines einfachen, qualitativen und sozialverträglichen Essens bis hin zu den Anfängen der ästhetisierten Esskultur im 19. Jahrhundert. Ausgehend von Feuerbachs viel zitierter Maxime: "Der Mensch ist, was er isst!", wird die Kreativität und Genialität der über die schnöde Speisezubereitung sich erhebenden Meisterköche entdeckt, um die von Nietzsche betonte moralische Wirkung der Nahrungsmittel zu steigern. Man erfährt ebenso viel über die Renaissance des Geschmacks in der Rückkehr zu unverfälschten Ingredienzien - frei nach dem Wahlspruch, dass auch der Naturschutz durch den Magen gehe.

    Hier setzt Lemkes zweites Buch an, das sich komplementär mit der Ästhetik des kulinarischen Geschmacks beschäftigt und genau noch mit der Geschichte künstlerischer Experimente bei der Transformation der Zutaten zu einem schmackhaften Gericht. Seit der letzten Documenta sind die Errungenschaften der so genanten Molekulargastronomie des katalanischen Kochs Ferran Adrià in aller Munde, der mit Hilfe chemischer Prozesse zum Beispiel Melonen in Kaviar oder Parmesan in Speiseeis verwandelt. Das an den Landsmann Dali erinnernde genialische Spiel mit der Artifizialität einer Geschmacksinszenierung hat seine Vorläufer bei den italienischen Futuristen um Marinetti, die mit ihrer Revolutionierung der Kochkunst eine völlig ungebundene Formgebung bei der Speiskreation forderten.

    Lemke führt eine ganze Reihe von weiteren künstlerischen Beispielen an, unter denen Spoerris "Eat-Art"-Projekt mit seiner Präsentation exotischer Kreationen hervorzuheben ist, die - wie beispielsweise "Ameisenomelett" oder "Krokodilaugen in Aspik" - auch mit der Grenze zum Geschmacklosen spielten. Aber vergessen wir nicht Spoerris Zeitgenossen Beuys, der nicht nur in seinem Atelier gut und gern kochte, sondern in jedem Menschen einen Kochkünstler witterte. Und 1978 trat der österreichische Künstler Kubelka in Frankfurt sogar eine Professur für "Kochen als Kunstgattung" an, um mit seinen Kochvorlesungen die kreative Veränderung der Speisen zu lehren.

    Was all diese Beispiele auf würzige Weise schmackhaft machen wollen, ist ein Bewusstsein für eine bewusste Lebenskunst des guten Essens, die gegen den täglich wachsenden Verfall der Nahrungskultur ankämpft. Lemke scheut sich deshalb nicht, von einer "gastrosophischen Ästhetik des Widerstandes" zu sprechen, eines Widerstandes gegen die Industrialisierung der naturidentischen Aromastoffe, der ergonomischen Fertiggerichte und anderer chemischer Synthetisierungen des "Food-Designs". Beide Bücher geben Anregungen an die Hand für eine ernährungsspezifische Selbstsorge, die das Nützliche des ethisch guten Essens mit dem Angenehmen kulinarischen Genießens verbindet, - und sie verdienten deshalb eine nachhaltige Förderung durch das Bundesgesundheitsministerium.


    Harald Lemke: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie. Akademie Verlag Berlin 2007

    ders.: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Transcript Verlag Bielefeld 2007