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Arabellion
Für Karim El-Gawhary gehen die Aufstände weiter

Der arabische Frühling jährt sich zum zehnten Mal. Und er ist noch längst nicht zu Ende. Das führt der Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary in seinem lesenswerten Buch "Repression und Rebellion" aus.

Von Jan Kuhlmann | 25.01.2021
Hintergrundbild: Anti-Mubarak-Protestierende auf dem Tahir-Platz in Kairo in Ägypten - eine Frau steht auf einem Auto, sie hält eine ägyptische Flagge in der Hand und ruft in die Menschenmenge, aufgenommen am 11. Februar 2011 Vordergrund: Buchcover
Der Wettlauf zwischen arabischer Repression und Rebellion hält an (imago/United Archives International & Kremayr & Scheriau)
Tunesien gilt als das Musterland der arabischen Aufstände vor zehn Jahren. Den Tunesiern gelang es damals als ersten, ihren Langzeitherrscher Ben Ali zu vertreiben. Und nur Tunesien schaffte danach den Übergang in die Demokratie. Wenn auch auf einem steinigen Weg, der noch lange nicht zu Ende ist. Auch in anderen Ländern gingen die Menschen 2011 gegen ihre autokratischen Herrscher auf die Straße – doch dort nahmen die Umbrüche einen ganz anderen Verlauf, wie der Journalist Karim El-Gawhary in seinem Buch "Repression und Rebellion" schreibt.
"Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand gegen die arabischen Diktatoren gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der Diktator gewonnen, regiert aber über einen Scherbenhaufen. Libyen versinkt im Chaos der Milizen und in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie der Jemen. Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je."
El-Gawhary gehört zu den erfahrensten Kennern der Region. Seit fast drei Jahrzehnten berichtet er für den österreichischen ORF und andere Medien über die arabische Welt. In seinem Buch beschreibt er, warum sich die großen Hoffnungen auf mehr Freiheit und Demokratie in der Region kaum erfüllt haben.

Muslimbrüder wurden nicht "entzaubert"

In Kairo erlebte El-Gawhary aus nächster Nähe mit, wie erst Langzeitherrscher Husni Mubarak stürzte und dann die islamistischen Muslimbrüder bei den Wahlen am stärksten abschnitten – bis sie vom Militär bei einem Putsch abgesetzt wurden. Für El-Gawhary ein Fehler. Es wäre besser gewesen, wenn die Muslimbrüder in der Tagespolitik bloßgestellt worden wären.
"So aber kann sich die Muslimbruderschaft bis heute als eine Art politischer Märtyrer und als legitim gewählter Vertreter präsentieren, dem die Macht von einer nicht gewählten Institution entrissen wurde. Oder in anderen Worten: In Ägypten hat das Gestrige, das Militär, das Vorgestrige, die Muslimbrüder, vollkommen ausgeschaltet und damit das Morgen blockiert."
Dass in Ägypten die alten Strukturen weiter an der Macht blieben, verdanken sie nicht zuletzt zwei mächtigen Verbündeten: Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). El-Gawhary nennt die beiden Staaten "Die Heilige Arabische Allianz", die ähnliche Interessen hätten wie einst die europäischen Staaten des Wiener Kongresses 1815.

Die Monarchien erhalten ihre repressiven Systeme aufrecht

Angeführt werden sie von ihren De-Facto-Herrschern: dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman und dem Kronprinzen der Emirate, Muhammad bin Zayed. Deren anachronistische Herrschaft habe vor der Gefahr gestanden, im Mülleimer der Geschichte zu landen.
"Es geht den beiden Kronprinzen […] heute […] darum, die in Aufruhr geratene arabische Welt wieder in ihrem Sinne in eine Ordnung zu bringen, die den Status quo ihrer Macht nicht gefährdet. Sie eint die feste Überzeugung, dass die Gesellschaft kein Mitspracherecht besitzt und dass dieser bestenfalls Rechte von oben, sprich von ihnen, gewährt werden. Jeder Versuch, sich diese Rechte von unten zu erkämpfen, ist ihnen zutiefst suspekt."
Geradezu schamlos habe die Heilige Arabische Allianz das Chaos der Aufstände als Rechtfertigung genutzt, einen demokratischen Übergang in der Region zu verhindern, schreibt El-Gawhary. Aber auch Europa sieht der Journalist in der Verantwortung. Den europäischen Staaten wirft er vor, mit den Autokraten zusammenzuarbeiten – in der für ihn irrigen Annahme, so ließe sich dauerhaft Stabilität erreichen. Oder um die Zahl der Migranten einzudämmen. Von "Europas Eiertanz" spricht El-Gawhary.

Armut und Machtlosigkeit füttern die Instabilität

Ein Punkt ist dem Journalisten in seinem Buch besonders wichtig: Es ist nicht in erster Linie der Islam, der für die Verwerfungen in der Region verantwortlich ist – sondern vielmehr das arabische Dreigestirn, wie er es nennt: Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit. Armut sei in vielen Ländern zur Norm geworden.
"Mit Ausnahme Afrikas südlich der Sahara hat die arabische Welt die höchsten Raten extremer Armut weltweit. In Ägypten leben laut Definition des staatlichen Statistikamtes all jene unter der Armutsgrenze, die umgerechnet unglaubliche einen Euro und 30 Cent oder weniger am Tag zur Verfügung haben. Menschen, die unter diesen Umständen leben müssen, sind keine Randerscheinung und ihre Anzahl steigt."
Hinzu kommen Korruption und Vetternwirtschaft, beides in der Region weit verbreitet. Die Corona-Pandemie wird die Lage verschlimmern und das Unruhepotenzial weiter vergrößern.

Die Massenproteste gehen weiter

Für El-Gawhary ist deswegen klar: Die Aufstände in der arabischen Welt gehen weiter. Wie zuletzt erlebt im Libanon, im Irak und im Sudan, wo es zu Massenprotesten kam.
"Es ist unübersehbar, dass immer mehr junge Araber und Araberinnen das enge Korsett ihrer vollkommen ineffektiven politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme ablehnen, die sie all ihrer Möglichkeiten berauben. Die Frage ist eigentlich nur: Wann machen sie ihrem Ärger Luft, wie werden sie ihre Stimme erheben und wo werden sie politisches Mitspracherecht fordern?"
El-Gawhary sagt voraus: Die Zeichen in der Nahost-Region stehen weiter auf Sturm. Der Wettlauf zwischen arabischer Repression und arabischer Rebellion gehe weiter. Doch für die Autokraten ticke die Uhr, ist sich der Journalist sicher. Das klingt optimistisch, erweisen sich die autoritären Regime doch bislang als höchst widerstandsfähig, wenn nötig mit harter Gewalt. Den Demonstranten wiederum ist es bisher nicht gelungen, jenseits von Protesten politischen Einfluss zu gewinnen. El-Gawhary bietet zwar keine überraschenden Perspektiven, analysiert die Lage in der arabischen Welt aber fachkundig, schlüssig und mit klarer Linie. Das lesenswerte Buch eignet sich für alle, die sich einen Überblick über die komplexe Lage in der Region verschaffen wollen.
Karim El-Gawhary: "Repression und Rebellion. Arabische Revolution – was nun?",
Verlag Kremayr & Scheriau, 224 Seiten, 24 Euro.