Remme: Das was wir gerade von Werner Müller gehört haben, Stichwort Tarifautonomie. War das schon eine unzulässige Parteinahme?
Bsirske: Na ja, das war ein Hauch von Andeutung in Richtung Parteinahme, aber sicherlich keine Bedrohung der Tarifautonomie. Denn die wird praktiziert von den Arbeitgeberverbänden und von den Gewerkschaften, und dann bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.
Remme: Herr Bsirske, alle wussten doch: Das wird keine einfache Tarifrunde. Ist so gesehen der Chemieabschluss nicht eher die Überraschung?
Bsirske: Na ja, man muss auch mal gucken wie dieser Abschluss seitens der Chemiefirmen kommentiert wird. Schering spricht von einem Abschluss mit Augenmaß. Bayer von einem tragfähigen Abschluss. Degussa von einem vernünftigen Abschluss. Das ist ja bemerkenswert angesichts des Getrommels zu Beginn der Tarifrunde. Was unter dem Strich bleibt, ist der Eindruck: Das Ziel, das die Chemie formuliert hatte - eine Umverteilung auch zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erreichen - ist ausgeblieben, aber man bewegt sich im Rahmen des kostenneutralen Verteilungsspielraums, also der Summe aus Produktivitätsentwicklung und Preisauftrieb. Und wenn man das überträgt auf die Metallsituation, dann muss man einfach der Tatsache Rechnung tragen, dass dort die Produktivitätsentwicklung deutlich über dem Durchschnitt der Wirtschaft liegt und auch deutlich, ganz deutlich über dem Niveau von Chemie Dem wird die IG Metall Rechnung tragen. Das ist das, was die Arbeitgeber bis jetzt verweigern. Und ich glaube, da wird man gespannt sein dürfen, wie lange die Arbeitgeber diese Position durchhalten.
Remme: Es geht aber - und das stimmt ja wohl - um Nachkomma-Stellen. Rechtfertigt das einen Arbeitskampf, Herr Bsirske?
Bsirske: Nein, es geht nicht um Nachkomma-Stellen, sondern es geht um Vorkomma-Stellen. Die Produktivitätsentwicklung in der Metallindustrie liegt ungefähr ein knappes Prozent über dem Durchschnitt der Wirtschaft - übrigens auch deutlich über dem, was sich in der Chemieindustrie abspielt. Insofern ist die Forderung der IG Metall auf eine 4 vor dem Komma aus meiner Sicht vollkommen gerechtfertigt, selbst wenn man innerhalb des kostenneutralen Verteilungsspielraumes bleibt. Und eins ist klar: Die Umverteilung zugunsten der Gewinne, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, das ist etwas das die Beschäftigten in den Betrieben so nicht fortsetzen wollen. Das ist das Signal aus Baden-Württemberg. Und ich denke, das ist ein richtiges Signal.
Remme: Nun hatten die Arbeitgeber ein Angebot vorgelegt, das auf der Chemieebene lag. Und Klaus Zwickel ist mit einer 4 vor dem Komma zufrieden. Das heißt wir bewegen uns in der Tat doch um maximal 0,7 Prozent.
Bsirske: Na ja, es geht um die Frage: Wird der kostenneutrale Verteilungsspielraum ausgeschöpft? Dann sind wir bei einer 4 vor dem Komma. Oder wird die Umverteilung zugunsten der Gewinne, die wir fortgesetzt erlebt haben in den letzten Jahren, weiter gehen? Das ist nicht gewollt, das sagen die Kollegen in den Betrieben. Und ich denke, sie werden das zum Ausdruck bringen bei der Urabstimmung.
Remme: Alle reden nun schon vom Streik. Sind wir schon so weit?
Bsirske: Ich glaube, dass jetzt der Prozess anlaufen muss. Ich denke, dass wir sehr dicht vor dem Streik sind, mit Sicherheit in die Urabstimmung gehen und so wie die Dinge stehen müssen wir uns darauf einstellen, dass es da zum Arbeitskampf kommt.
Remme: Klaus Zwickel hat ein Schlichtungsverfahren ausgeschlossen. Ist das aber nicht immer der richtige Schritt vor einem Arbeitskampf?
Bsirske: Ich denke, dass die Tarifvertragsparteien genügend Gelegenheit gehabt haben, die Gesichtspunkte auszutauschen. Jetzt ist die IG Metall in der Situation, mobilisieren zu wollen und auch zu müssen. Das tut sie. Und gut, man ist nie vor Überraschungen gefeit im Tarifgeschäft, und bei solchen Tarifverhandlungen ohnehin nicht. Aber ich rechne damit, dass jetzt die Zeichen tatsächlich auf die Durchführung der Urabstimmung gestellt sind, und dass es - so wie die Arbeitgeber sich verhalten haben - auch zu einem Streik kommen wird, wenn da nicht noch mal eine Kehrwende vollzogen wird. Und danach sah es ja, wenn man Kannegießer und andere gehört hat, zunächst nicht aus.
Remme: Herr Bsirske, wird Verdi die Metaller in einem Streik durch begleitende Aktionen unterstützen? Oder wird sich das in Solidaritätsadressen erschöpfen?
Bsirske: Solidaritätsadressen, das Beschreiben von Papier ist nicht genug. Diese Auseinandersetzung wird auch im gesellschaftlichen Umfeld mit entschieden. Und ich will keinen Zweifel daran lassen, dass das, was jetzt seitens der IG Metall auf den Weg gebracht werden muss, unsere volle Solidarität hat. Und das wird sich auch in Unterstützungsaktionen niederschlagen.
Remme: Was heißt das konkret?
Bsirske: Wir werden dort, wo Metaller im Streik sind, mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen sicherlich auftauchen. Wir werden in den Betrieben dafür sorgen, dass die Argumente der IG Metall in diesem Streik auch bekannt sind, nachvollzogen werden können. Solche Streiks entscheiden sich ja in nicht unerheblichem Maß auch in der Öffentlichkeit. Und in der Öffentlichkeit wird Flagge gezeigt, in den Betrieben wird Flagge gezeigt. Das ist eine erstrangige Aufgabe zur Unterstützung der IG Metall, die wir auch umsetzen wollen.
Remme: Dieses Verhaltensmuster in der Chemie- und in der Metallbranche, das beobachten wir ja nicht zum ersten Mal. Es geht hier offensichtlich auch um einen unterschiedlichen Stil von der Wahrnehmung von Interessen. Welcher liegt denn Ihnen und Verdi näher?
Bsirske: Es geht um Stil, aber es geht vor allen Dingen um Inhalte und um die Frage: Gelingt es, den kostenneutralen Verteilungsspielraum auszuschöpfen? Das scheint bei Chemie vollzogen. Bei Metall haben die Arbeitgeber genau das verweigert. Und das ist eine inhaltliche Frage und keine Stilfrage. Hätte sich der Arbeitgeberverband Gesamtmetall so verhalten wie Gesamtchemie, hätten wir jetzt einen Abschluss. Das ist die eine Seite. Und wenn sie nach der Position von Verdi fragen: Ich muss und werde in den Branchen am Verhandlungstisch Lösungen suchen, dafür die Verhandlungsfähigkeit von Verdi einbringen - das ist ganz klar. Wir suchen Lösungen am Verhandlungstisch, aber wir sind auch bereit - wie übrigens auch die IG Chemie, da bin ich mir ganz sicher - dann zuzuspitzen und Streiks durchzuführen, wenn keine andere Wahl bleibt und wenn die Verhandlungsstrategie der Arbeitgeber so wie bei Metall uns eine solche Vorgehensweise aufzwingt.
Remme: Beim Öffentlichen Dienst haben Sie ja noch bis zum Herbst Zeit. Bedeutet das für den Öffentlichen Dienst jetzt einen Korridor zwischen 3,6 und 4 Prozent?
Bsirske: Das bedeutet sicherlich eine Orientierung des Öffentlichen Dienstes an dem, was sich in der Gesamtwirtschaft abzeichnet. Da muss man abwarten, wie sich die Dinge auch in den anderen Branchen entwickeln. Das sind wichtige Orientierungsdaten. Und natürlich, mit dem Chemieabschluss ist eine wichtige Wegmarke gesetzt für die Tarifrunden in diesem Jahr. Metall wird folgen, und dann wird man im Herbst für den Öffentlichen Dienst eine Zwischenbilanz ziehen und sich an dem orientieren, was sich in den Branchen vorher abgeschlossen worden ist.
Remme: Herr Bsirske, abschließend: Ich habe den Wahlkampf und das politische Umfeld angesprochen. Ein Arbeitskampf kann dem Kanzler jetzt alles andere als Recht sein. Viele Gewerkschaftsvorsitzende sind in der SPD, Sie selbst sind bei den Grünen. Und auch wenn Sie jetzt gleich sagen, dass Sie kein verlängerter Arm der politischen Parteien sind...
Bsirske: …was stimmen würde.
Remme:… kann es denn im Interesse der Gewerkschaften sein, die Erfolgschancen für eine Fortsetzung Rot-Grün zu gefährden?
Bsirske: Egal, welche Parteien die Regierung stellen würden, würde sich die Situation bei Metall jetzt so entwickeln wie das der Fall ist. Wir müssen uns orientieren an den Interessen der Beschäftigten, der organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und das tun wir, egal wer da an der Regierung ist. Die Frage, wer an der Regierung bleibt oder an die Regierung kommt, die wird in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Wahlkampf entschieden. Da ist deutlich, dass die CDU/CSU und die FDP für ein Programm antreten, das mich so ein bisschen an den Film "Zurück in die Zukunft" erinnert. Noch mehr von dem machen zu wollen, was 16 Jahre schon nicht geklappt hat, scheint mir keine besonders überzeugende Alternative. Und da wo Kritik notwenig ist, werden die Gewerkschaften in diesem Wahlkampf auch ihre Stimme einbringen und deutlich machen, was aus ihrer Sicht den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eher entspricht. Und diese Auseinandersetzung wird letztlich die Weichenstellung erzeugen für die Zukunft und nicht die Auseinandersetzung über die Lohnhöhe in der Metallindustrie.
Remme: Frank Bsirske war das, der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Herr Bsirske, ich bedanke mich für das Gespräch.
Bsirske: Bitteschön.