
In seiner ersten Regierungserklärung legte Bundeskanzler Friedrich Merz die Latte für seine zukünftige Politik hoch: „Mehr Freiheit, mehr Anreize für Engagement und eigene Anstrengung schaffen wir auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“ Und: „Leistung muss sich wieder lohnen.“
Wie das gelingen kann, sagt Merz auch: „Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Betrieben mehr Flexibilität durch eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit.“ Nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von Beiträgen in einer Debatte um längere Arbeitszeiten.
Worum geht es in der aktuellen Arbeitszeitdebatte?
Im Zentrum steht der Vorwurf, in Deutschland werde zu wenig gearbeitet; dies sei der Grund für wirtschaftliche Probleme. Aktuell befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer schwierigen Situation, das Jahr 2024 schloss wie das vorhergehende mit einer Rezession.
Aktuell sind verschiedene Punkte in der Debatte. Zum einen wird über die Abschaffung eines Feiertags diskutiert. So sollen die Beschäftigten einen Tag im Jahr mehr arbeiten. Zudem wird der im Arbeitszeitgesetz festgeschriebene Acht-Stunden-Tag infrage gestellt. Unter dem Stichwort der Flexibilisierung sollen Arbeitstage auf maximal 13 Stunden ausgedehnt werden, beschränkt wäre dann die Wochenarbeitszeit. Das würde der im Gegensatz zum deutschen Gesetz weniger strengen EU-Arbeitszeitrichtlinie entsprechen.
Die Gewerkschaften lehnen das ab, Friedrich Merz ist dafür: „Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Betrieben mehr Flexibilität durch eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit“, sagte er in der Regierungserklärung am 14. Mai.
In der laufenden Diskussion sprang dem CDU-Politiker das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zur Seite. Das IW mit Sitz in Köln wird als arbeitgebernah beschrieben; in dessen Trägerverein sind die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Industrie – deren Führungen haben sich auch für längere Arbeitszeiten ausgesprochen.
Wie viel wird in Deutschland gearbeitet?
Die Arbeitszeit ist ein wichtiger ökonomischer Kennwert. Wie sie berechnet wird, hängt von den jeweiligen nationalen Statistikbehörden ab. Auch spielt es eine Rolle, wie Daten miteinander in Bezug gesetzt werden – oftmals verbunden mit einer politischen Agenda oder an die Politik gerichteten Forderungen.
Nach einer Berechnung des IW mit Zahlen der OECD arbeiten Deutsche im erwerbsfähigen Alter im Jahr im Schnitt 1036 Stunden. In Griechenland lag die Zahl bei 1172 Stunden, in Polen bei 1304 Stunden. Spitzenreiter im IW-Ranking ist Neuseeland mit 1400 Stunden.
So viele wurde noch nie gearbeitet
Außerdem weist das IW darauf hin, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen werden. „Die Folge: Das gesamtdeutsche Arbeitsvolumen, also die Summe aller gearbeiteten Stunden in Deutschland, könnte zurückgehen“. Beim IW leitet man daraus ab: „Umso wichtiger dürfte es deshalb werden, die individuelle Arbeitszeit in Deutschland zu erhöhen.“
Eine andere Perspektive nimmt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ein. Das hatte in einer Studie für das Jahr 2023 errechnet, dass das Gesamtarbeitsvolumen in Deutschland bei knapp 55 Milliarden Arbeitsstunden gelegen hat. Ein Höchststand. Gleichzeitig zeigt das DIW auf, dass die durchschnittliche Arbeitszeit der Beschäftigten gesunken ist.
Vor allem Frauen in Teilzeit
Die gestiegene Gesamtarbeitszeit sei darauf zurückzuführen, dass mehr Frauen eine Erwerbsarbeit nachgehen, so Mattis Beckmannshagen, einer der Macher der DIW-Studie. Er sieht bei Frauen das Potenzial, um zumindest teilweise dem Fachkräftemangel zu begegnen, denn viele arbeiteten in Teilzeit, wünschten sich aber „häufig eine Ausweitung ihrer Arbeitszeit“, so der Ökonom. Dazu seien eine bessere Kinderbetreuung oder andere steuerliche Anreize notwendig. Etwa 15 Prozent der Frauen würden gerne mehr arbeiten.
Insgesamt arbeiten in Deutschland vier von fünf Menschen, die dazu in der Lage sind. Das heißt, in der Bundesrepublik arbeiten anteilig an der Bevölkerung mehr Menschen als in jedem anderen Industriestaat. Knapp ein Drittel der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit, bei Frauen ist der Anteil mit 48,5 Prozent deutlich größer als bei Männern mit 11,7 Prozent.
Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja von der Universität Göttingen weist noch auf einen weiteren Aspekt hin. Deutschland liege an der Spitze in Europa, wenn es um Überstunden geht - „vor allen Dingen von undokumentierten und unbezahlten Überstunden.“ Im Jahr 2024 betrug die Zahl der bezahlten Überstunden rund 552 Millionen, rund 638 Millionen Überstunden waren indes unbezahlt.
Um die Arbeits- und Erholungszeiten besser zu erfassen, hat der Europäische Gerichtshof 2019 geurteilt, dass die Arbeitszeit besser erfasst werden muss. In Deutschland zog 2022 das Bundesarbeitsgericht nach. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Stefan Chatziparaskewas, verweist dabei darauf, dass es bei der Arbeitszeiterfassung um den Gesundheitsschutz gehe.
Wie gefährlich sind längere Arbeitszeiten?
Der Acht-Stunden-Tag wurde von der Arbeiterbewegung und den mit ihr verbundenen Gewerkschaften in vielen Ländern der Welt erkämpft. Dabei handelt es sich vor allem auch um Gesundheitsschutz. Denn nach acht Stunden geht die Konzentration zurück, worauf Gewerkschaften immer wieder hinweisen. Das zeigen auch Statistiken. Dort wo es viele Überstunden gibt, steigt das Risiko für Unfälle – besonders wenn auch nicht ausreichend Erholungszeit gewährt wird.
Darauf weist auch die Soziologin Yvonne Lott von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hin: „Nach acht Stunden steigt das Unfallrisiko bei der Arbeit, die Konzentration nimmt ab – die Produktivität nimmt ab, das Gesundheitsrisiko steigt“, so die Expertin, die auch Teil des Beirats des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ist.
Außerdem zeigen Untersuchungen, dass sich gesundheitliche Belastungen im Berufsleben auch noch danach zeigen – so haben Beschäftigte mit niedriger Gesundheitsbelastung im Beruf eine höhere Lebenserwartung, wie aus einer Untersuchung des IW hervorgeht.
Lott nennt auch noch einen weiteren Punkt, der in der Debatte um längere Arbeitszeiten wenig berücksichtigt wird. „Wenn wir uns Fehlzeitenreporte oder die Berichte der Krankenkassen anschauen, nehmen psychische Belastungen und Burn-out zu.“ In der Erwerbsbevölkerung gebe es „eine starke psychische, empfundene Belastung“, so die Soziologin.
Unter dem Vorwand der Flexibilisierung verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, unterstreicht Bettina Stadler – das führe zu Problemen bei den Beschäftigten. „Dieses Gefühl, immer online zu sein, immer verbunden zu sein mit der Arbeit, führt längerfristig zu gesundheitlichen Problemen“, so die an der Universität Graz forschende Soziologin. Denn was flexibel und selbstbestimmt scheint, führe meist zu längeren Arbeitszeiten. Das werde in der Forschung unter dem Begriff „Flexibility Paradox“ verhandelt, so Stadler.
Und Lott sieht in der Debatte um mehr Anreize für längeres Arbeiten auch einen geschlechtspolitischen Aspekt. Dabei gehe es nicht darum, das weibliche Potenzial des Arbeitsmarkts zu aktivieren. Vielmehr würden Anreize vor allem Männer ansprechen, „die dann eventuell noch länger arbeiten und noch weniger von der Sorgearbeit auf sich nehmen würden“, befürchtet Soziologin Lott.
Welche anderen Arbeitszeitmodelle gibt es?
Einer der meistdiskutierten Ansätze für ein anderes Arbeitszeitmodell ist die Vier-Tage-Woche. Diese wird bereits in Unternehmen praktiziert, meist bei Berufsgruppen mit höheren Einkommen, die für mehr Freizeit auf einen Teil ihres Lohns verzichten. Studien deuten zudem darauf hin, dass es wirtschaftliche Vorteile gibt.
Eine Untersuchung der Universität Münster kommt zu dem Schluss, dass in Betrieben, die testweise eine Vier-Tage-Woche eingeführt hatten, die Mitarbeiter zufriedener gewesen seien. Auch fühlten sie sich mental und körperlich gesünder. Die Produktivität stieg leicht an. Ein Großteil der teilnehmenden Unternehmen und Organisationen wollen auf das Arbeitszeitmodell umschwenken.
Einen anderen Vorschlag hat die Göttinger Soziologin Nicole Mayer-Ahuja. Sie spricht sich für „eine kurze Vollzeit als neue Normalarbeitszeit“ aus – 30 Arbeitsstunden in der Woche für alle. Aktuell sind es noch rund 40 Stunden, was auch für die Berechnung der Rente relevant ist. Um eine volle Rente zu erhalten, braucht es zudem 45 Beitragsjahre.
„Wenn man festlegen könnte, man will genau diesen Standard halten, aber für Menschen, die 30 Stunden die Woche arbeiten – zum Beispiel mit Lohnausgleich, mit Personalausgleich – wäre das eine völlig andere Geschichte“, unterstreicht Mayer-Ahuja. Davon würden vor allem Frauen profitieren, die in Teilzeit und Minijob arbeiten. „Wenn die ihre Arbeitszeit verlängern könnten, hätten sie weniger Armut trotz Arbeit und weniger Armut im Alter.“
Bei einem solchen Arbeitszeitmodell gehe es zudem um eine gesellschaftliche Umverteilung von Reichtum und Zeit. Davon würden auch die Beschäftigten profitieren, die viele Überstunden machen: „Wenn die auf 30 Stunden runterkämen im Sinne von kurzer Vollzeit, das wäre ein echter emanzipatorischer Fortschritt“, so die Soziologin. „Das wäre wirklich im Sinne einer menschlicheren Arbeitswelt.“
rzr