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Architekt des Bewusstseins

Der Architekt, der nie gebaut hat, begann mit 26 Jahren zu zeichnen und bald darauf zu malen. In wegweisenden Manifesten bereicherte er die Debatten über die Kunst. Darin lehnte er die Rationalität ab und suchte nach einer Identität von Sein und Schein, von Bewusstem und Unbewusstem.

Von Peter B. Schumann | 11.11.2011
    "Die wahre Biografie wird nicht bestimmt durch den Ort der Geburt, sondern durch die Schwierigkeiten, die man hat, um die Welt zu erkennen."

    Mit dieser Äußerung wollte Roberto Matta deutlich machen, dass er zwar in Santiago de Chile geboren wurde, am 11. November 1911, aber die Stadt nur ein Nebenschauplatz in seinem neun Jahrzehnte dauernden Leben blieb. Er verließ sie nach seinem Architektur-Studium als 22-Jähriger und kehrte nur noch selten und für kurze Zeit dorthin zurück. Er wurde ein unsteter Weltreisender und fand erst spät in Italien eine Heimstatt, wo er 2002 starb. Die erste Station war Paris, der Sehnsuchtsort vieler lateinamerikanischer Künstler und Intellektueller. Dort war er im Architektenbüro von Le Corbusier tätig und suchte seinen künstlerischen Weg in Gesprächen mit den Surrealisten André Breton und Marcel Duchamp. Die Begegnung mit Pablo Picasso wurde 1937 zur entscheidenden Wende im Leben des bis dahin nur als Architekt auftretenden Roberto Matta.

    "Als wir eines Tages spazieren gingen, kamen wir an einem Löwen vorbei, dem Wahrzeichen von Belfort. Picasso fragte mich: 'Was ist das?' 'Ein Löwe natürlich.' 'Nein', sagte er, 'das ist eine Stadt.' Das fand ich wunderbar. Wenn ein Löwe alles Mögliche sein konnte, sogar ein Stadt, dann stellten doch die Dinge nicht nur das dar, was die Bilder davon zeigten ... Da habe ich mich entschieden, keine Architektur der Ziegelsteine zu machen, sondern Architektur des Bewusstseins."

    Der Architekt, der nie gebaut hat, begann mit 26 Jahren zu zeichnen und bald darauf zu malen. In wegweisenden Manifesten bereicherte er die Debatten über die Kunst. Darin lehnte er die Rationalität ab und suchte nach einer Identität von Sein und Schein, von Bewusstem und Unbewusstem. Der Kreis der Bretons und Duchamps war begeistert von seiner Vitalität und seinen Ideen, vor allem aber auch von seinen Räumen mit den wabernden Farben, von seinen inneren Landschaften der Träume und Ängste, von den amorphen Formen, die sie durchziehen und gasartige, flüssige, kristalline Aggregatzustände annehmen können. Für den Kunsthistoriker Wieland Schmied war Roberto Matta ...

    " ... der letzte Surrealist, der letzte bedeutende Künstler, der noch einen wesentlichen Beitrag zur surrealistischen Bewegung geleistet hat."

    Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs veränderte seinen Kosmos. Menschenähnliche Wesen und roboterhafte Gebilde begannen ihn bedrohlich zu bevölkern, Zukunftsvisionen nahmen Gestalt an. Roberto Matta, der bisher nur nach innen schaute, blickte mit Entsetzen auf seine Zeit.

    "Ich bin kein Maler. Was ich mache, verstehe ich nicht als Malerei ... Ich bin ein Umherschweifender. Mein Name 'Matta' heißt ja im Baskischen, wo ein Teil der Familie herstammt, Matxa, und das bedeutet der Irrende, der Umherirrende. Ich bin ein Spion derer, die sich bemühen, Orientierung zu geben."

    Dieses Engagement für den Menschen und die Gesellschaft unterschied Roberto Matta von vielen Surrealisten. Es führte auch zum Bruch mit den Vertretern des abstrakten Expressionismus, der Avantgarde in New York, wo er in den 40er-Jahren weilte. Er lehnte deren reine Abstraktion ab – wie Wieland Schmied ausführt.

    "Matta wollte und konnte auf inhaltliche Bedeutungen und Anspielungen nicht verzichten. Erst die Verbindung mit der Realität gab seinen Bildern Sinn. Er wurde mehr und mehr zum engagierten Künstler, für den es aber im Amerika des Kalten Krieges keinen Platz gab."

    "Dabei Sein" hat Matta ein programmatisches Bild jener Jahre genannt. Er begann sich immer stärker für die politischen Veränderungen zu interessieren, vor allem für die auf dem Kontinent seines Ursprungs. Er trat für den Sozialisten Salvador Allende genauso ein wie für die kubanische Revolution und verurteilte den Militärputsch in Chile ebenso wie den Krieg in Vietnam. Der wachsende Bezug zur Wirklichkeit brachte diesen künstlerischen Weltgeist, der nur selten als Chilene wahrgenommen wurde, auch der lateinamerikanischen Kunst näher. Der Schrecken in seinen Bildern vermag bis heute ihre Betrachter zu bewegen. Roberto Matta: Architekt des Bewusstseins.