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Architektursommer (2/4)
Bungalow Germania - eine Montage

Alex Lehnerer und Savvas Ciriacides haben für ihren Beitrag für die Architekturbiennale Venedig 2014 den deutschen Pavillon mit dem Kanzlerbungalow in Bonn zum "Bungalow Germania" verbunden. Im Interview erklären sie ihre Idee - dann folgen Auszüge aus dem Essay "Dein Bungalow ist mein Pavillon" von Quinn Latimer.

Mit Barbara Schäfer | 13.07.2014
    Blick in den deutschen Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig 2014
    Blick in den deutschen Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig 2014 (picture alliance / dpa / Adreas merola)
    Barbara Schäfer: "Absorbing Modernity 1914 - 2014" - so lautet das Thema, das Rem Koolhaas als Kurator der diesjährigen 14. Internationalen Architekturausstellung in Venedig den Teilnehmerländern in den Pavillons der Giardini vorgeschlagen hat. Der niederländische Architekt Koolhaas wirft mit dieser bislang unüblichen Mottovorgabe die Frage auf, ob die einst markanten architektonischen Unterschiede zwischen den Nationen im Lauf der letzten 100 Jahre weitgehend einer einzigen modernen Weltästhetik aus Stahl und Glas Platz gemacht haben.
    Die Antwort im deutschen Pavillon der beiden in Zürich ansässigen Architekten Alex Lehnerer und Savvas Ciriacides ist ebenso lapidar wie unerwartet. Im Inneren des 1909 errichteten Pavillons, einst Emblem der nationalen Identität, hat sich der 1964 gebaute Bonner Kanzlerbungalow aufgerichtet, einstiger Sitz des deutschen Bundeskanzlers und wiederum Emblem des International Style.
    "Das Projekt nimmt den von Koolhaas geprägten Titel wörtlich und stellt damit zugleich dessen Hypothese, wonach die Moderne als treibende Kraft die Architektur homogenisierte, in Frage", schreibt der Architektur-Professor Philip Ursprung. Denn hier ist es die Moderne selber, genauer gesagt, die modernistische Architektur, die absorbiert wird. Sie ist im deutschen Pavillon verschwunden wie im Bauch eines Leviathans, eines Seeungeheuers, das seine Beute mit Haut und Haar verschlungen hat.
    Bungalow - eine Montage
    Hören Sie ein Gespräch mit den Kuratoren des deutschen Pavillons Alex Lehnerer und Savvas Ciriacides zusammen mit Auszügen eines Architektur-Essays der amerikanischen Kunstjournalistin und Autorin Quinn Latimer "Dein Bungalow ist mein Pavillon", gesprochen von Frauke Poolmann.
    Savvas Ciriacidis: Wir wollten nicht diese 100 Jahre erzählen in einer Art chronologischen Abfolge, wir fangen 1914 an und gehen bis 2014, sondern wir haben nach einem Moment gesucht, wo diese zwei Erzählungen - also einmal die der Nation und ein zweites Mal die der Disziplin der Architektur - zusammenkommen. Und da hatten wir das Glück, dass wir den Kanzlerbungalow gefunden haben als Dialogpartner zu dem Pavillon hier in Venedig. Da ja beide explizit eine Instrumentalisierung, eine Art Erzählung über die Nation darstellen sollten. Aufgabe war, die Nation zu repräsentieren, und da war es auch möglich, diese Montage hier physisch umzusetzen.
    Alex Lehnerer: Das Aufregende ist, glaube ich, nicht, dass es eine Art von reiner Kontrastcollage ist, sondern diese zwei Gebäude überschneiden sich auch oder überlagern sich auch in dieser Bedeutung als Repräsentationsbauten. Und das fängt eben hier sehr stark auch sofort räumlich an zu funktionieren. Die Räume sind gar nicht so dissonant manchmal, also manchmal ergänzen sich diese zwei Gebäude auch recht harmonisch. Das ist, glaube ich, das eigentlich Überraschende, dass die zwei Gebäude, obwohl sie dezidiert eine andere Sprache sprechen und quasi auch in ihrer Art der Repräsentation eine Art von Antithese darstellen, dann doch auch quasi fast synchron und harmonisch miteinander arbeiten.
    Helmut und Hannelore Kohl stehen bei einem Empfang 1988
    Helmut und Hannelore Kohl haben am längsten im Kanzlerbungalow gewohnt (AFP/Sanden)
    "Alle Elemente entfunktionalisieren sich hier"
    Schäfer: Harmonisch ist ein gutes Stichwort. Es ist eigentlich eine sehr sinnfällige Ergänzung, auch wenn noch nie jemand auf die Idee gekommen ist. Also, es gibt nicht den Eindruck, dass etwas tatsächlich sich reibt oder bricht.
    Lehnerer: Ja, die Brüche gibt es schon auch sehr stark. Es gibt natürlich spektakulärere Brüche, aber dann auch sehr subtile, kleine Dinge, wo sich die Gebäude widersprechen. Aber die Idee ist einfach, dass niemals ein Gebäude generell die Überhand über das andere gewinnt. Überall, wo man steht, sieht man immer einen Teil Pavillon und einen Teil Bungalow. Und ich glaube, in dieser Montage, auch haptisch und visuell erlebbaren Montage, da liegt, glaube ich, auch der Trick dieser Ausstellung.
    Ciriacidis: Ja, und auch im Hinblick auf die Frage nach dem Material und seiner Bedeutung gibt es hier Momente, die man als Brüche oder Widersprüche beschreiben könnte. Zum Beispiel das Glas, das hier in Venedig das Versprechen auf Weite und Transparenz nicht erfüllt, weil man durch das Glas auf die eiskahle Wand des Pavillons schaut. Und das passiert eigentlich mit allen Elementen, auch mit den Stahlstützen, die eigentlich hier in Venedig nicht mehr die Funktion haben, dieses Dach zum Fliegen zu bringen.
    Lehnerer: Ja. Aber natürlich alle Elemente entfunktionalisieren sich hier. Sie haben nicht mehr ihre ursprüngliche Aufgabe. Die Glasfassade ist nicht mehr die thermische Trennung, sondern diese Glasscheiben werden teilweise zu Objekten. Das heißt, sie sind natürlich Medien aus Bonn, die diese Bedeutung tragen, aber gleichzeitig verlieren sie hier auch ihre Funktion der Repräsentation oder ihre architektonische Funktion. Das heißt, da absorbiert sich das Ganze erneut.
    Ciriacidis: Man könnte fast sagen, dass hier in Venedig die Instrumentalisierung der Gebäude verloren geht und wieder die Bauten zurück zur Architektur kehren. Aber dadurch, dass wir natürlich hier diese Montage gemacht haben, die wieder als Raum, als Plastik gedeutet werden muss, gibt es wieder den Schritt zurück in die Ebene der Bedeutung.
    Schäfer: Ist es tatsächlich so, dass das monumentale Gebäude, der Pavillon, dadurch, dass er nur noch die Hülle gibt hier, doch etwas in den Hintergrund tritt, und der Kanzlerbungalow mit dem 1964er Auftreten der neuen Bundesrepublik in den Vordergrund?
    Lehnerer: Das ist unentschieden. Wenn Sie auf dem Parkplatz stehen, haben Sie das genaue Gegenteil im Kopf. Und dann kommen Sie rein und werden auf das Bonner Maß hinuntergedrückt. Also, ich glaube, das passiert nicht. Sie sagten "Hülle", ich glaube, diese Hierarchie gibt es nicht. Auf den ersten Blick vielleicht schon, manche sagen, der Bungalow wurde vom Pavillon verschluckt, aber das passiert eigentlich im Innenraum nicht. Das eine Gebäude ergänzt das andere oder es konterkariert es, aber das Ziel war wirklich diese Art von Auf-Augenhöhe-Bringen dieser zwei Gebäude in einer nicht von vornherein festgelegten Hierarchie.
    Ciriacidis: Es geht eigentlich um diese Art von doppelter Lesbarkeit. Wir haben versucht, das eine Gebäude durch das andere zu lesen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Auszüge aus dem Essay "Dein Bungalow ist mein Pavillon" von Quinn Latimer:
    In einem vergangenen Jahrhundert schreibt einmal jemand (ein Spötter und Witzereißer): "Bonn ist nicht Beverly Hills". Auch Venedig nicht. Auch Venedig "ist nicht Beverly Hills". Und doch sind wir hier. In diesem Gebäude - besser gesagt: Bungalow. Oder Pavillon. Oder noch genauer, wir sind in einem Bungalow - mit eingebautem langen, niedrigen, modernistischen Horizont für lange modernistische Aussichten durch durchlässige modernistische Wände über grüne Gründe in eine glänzende modernistische Zukunft -, hineingestellt in einen Pavillon. Der Pavillon selbst (falls er ein Selbst hat, oder mehrere Selbst, wie viele von uns) eröffnet eine eher vertikale Ansicht. Er ist immer noch hoch und unterstützt mit all seinen faschistischen Pfeilern und Gewölbedecken einen eher hierarchischen, autoritären, imperialen Gestus. Also, wo waren wir? Oder besser gesagt, wo sind wir, hier und jetzt? In einem Gebäude. In einem Unterschlupf. Oder kunstvoller ausgedrückt: Wir sind in Bonn, eingefügt in das, was wir erfahrungsgemäß als Deutschland kennen - in seinen Pavillon, der eine Bandbreite des deutschen Empire des 20. Jahrhunderts und seine empirischen Veränderungen ausstellt -, eingefügt in Venedig.
    Beverly Hills gehört nicht zu diesem Erfahrungshorizont. Doch apropos Anbauten, Umbauten, Einbauten, Ideologien und ihren dazugehörigen Stilen und Ansichten könnte man unseren Standort auch so beschreiben: Modernismus eingefügt in Faschismus eingefügt in Neoklassizismus eingefügt in die Neorenaissance. Was wieder wie Beverly Hills klingt, um ehrlich zu sein.
    Aber darum geht es hier nicht. Es geht hier nicht um die genaue, geo-spezifische Rekonstruktion von Plätzen und die Konstruktion ihrer Landschaften. Wir haben Unterschlupf gefunden in etwas weniger Gesichertem, weniger Definiertem, in etwas - irgendwie - Spekulativem. Ein Gebäude, das nicht existiert, nicht existieren darf, nicht da sein kann, und doch plötzlich einfach da ist. Du stehst mittendrin.
    "Bonn ist nicht Beverly Hills"
    Wie fühlt es sich an? Wenn Glas und Ziegel dich einschließen, einrahmen. Ein westdeutscher Nachkriegsbungalow. Manche haben ihn mit "Moderater Mittelstands Modernismus" umschrieben, und nichts, was einen so bescheidenen Namen trägt wie der Bungalow, in dem du gerade stehst, hätte oder würde jemals in Beverly Hills stehen können. Trotzdem bleibt diese amerikanische Stadt, dieses Stadtzentrum, dieses Zentrum des Kapitalismus dialektisch wichtig. Die spöttische Bemerkung "Bonn ist nicht Beverly Hills" bezog sich auf den Kanzlerbungalow, der entlang der blauen und grünen Ufer des Rheins ein architektonisches Exempel für die optimistisch in die Zukunft blickenden Kanzler Nachkriegsdeutschlands statuieren sollte. Doch Exempel für was, fragst du dich als Bürger eines (vielleicht) anderen Landes von deinem Standpunkt aus, jetzt in diesem Bungalow. Oder in einer Version davon.
    Psst.
    Ich weiß, da draußen schimmern die Lagunen Venedigs in Blau und Silber, schwimmen unzählige Vaporettos an zerfransten Holzpfählen entlang, verschwimmen im Dunst. Trotzdem, schließ die Augen. Fühl die Rheinland-Sonne. Wie sie durch die gereihten Fenster dort oben hindurchströmt. Gebäude, die am Wasser gebaut sind, haben eine gewisse Atmosphäre, eine gewisse Stimmung. Sie reflektieren einen diskreten Standpunkt, wie Licht auf Wasser. Fühlt es sich rheinisch oder venezianisch an? Der Dunst über dem glitzernden Wasser sieht auch gleich aus: wie Dunst. Licht strömt durch die Fenster: wie Wasser. Die beiden Bauten geben dir Schutz und einander. Warum tun sie das? Was ist ihre Entsprechung? Worin besteht ihre Autonomie? Was ist ihre Funktion, ihre Form? Was ist zweckmäßig an ihnen? Was utopisch? Und wer ist dieser Bau eigentlich - jetzt ist es plötzlich nur noch ein Gebäude - und für wen? Das ist hier die Frage.
    Darf ich eine Geschichte loswerden? Wir befinden uns im Jahr 1905 in Venedig möglicherweise genau dort, wo du jetzt stehst. Tritt etwas nach rechts. Ja, dorthin. Eines Tages werden hier Bäume symmetrisch angeordnete Schatten werfen, wunderschön. Doch heute noch nicht. Wir schreiben das Jahr 1909, eine Beinah Dekade nach der "Wende" des Jahrhunderts.
    Daniele Donghi, Architekt des Stadtrats von Venedig, hat den Padiglione Bavarese entworfen und gebaut, um bayerische Kunst zu pflegen. (Der wahnsinnige König Otto, eingeschlossen in seinem Appartement in Bayern, kann damals nur davon träumen, durch die fluoreszierenden Giardini zu wandeln, die vom Hof in Auftrag gegebenen Gemälde und Skulpturen auf sich wirken zu lassen und das temperierte italienische Klima zu genießen.) Keine Schlösser an den Toren des Padiglione. Die hohe symmetrische Ausstellungshalle verfügt über einen Portikus, ionische Säulen und ein Neorenaissance-Flair. Daniele mag den Bau, in dem seine Arbeit steckt. Er bereitet ihm Freude. Er steht in einer Reihe mit den ersten aufkommenden Nationalpavillons der europäischen Supermächte: BRITANNICO, FRANCESE et cetera.
    Einige Jahre gehen dahin. Auch ein paar Blätter.
    "Und dann hat Hitler eine Idee (er hat ja viele)"
    Es ist 1912. Die Ziegelmauern der Seitengebäude werden strahlend weiß verputzt und mit dem größeren Gebäude verbunden; dem Gebäude wird ein "antikisierendes Figurenfries mit begleitendem Ornamentband" verpasst. Der Pavillon durchsteht also in neuer neoklassischer Verkleidung (die ihm wirklich gut steht) die stürmischen Tage der Weimarer Republik, bis 1938 die Gewalt des Dritten Reichs eskaliert. Jenes befremdende, bestürzende Jahr. Und dann hat Hitler eine Idee (er hat ja viele). Er steht im Schatten der Bäume, der ach so symmetrischen, so wie er es mag. Die Giardini summen und flirren um ihn herum, flimmern wie Neon. Und in seinem Kopf flackern und fackeln die Worte von einem anderen Adolf, dem Münchner Kunstprofessor Ziegler - seines Zeichens der heimliche Hirte der "Entartete Kunst"-Ausstellung und ihrer "reißerischen" bis zur Gemeinheit reichenden Zurschaustellung von moderner Malerei und Bildhauerei. Doch als er so im kühlen Schatten der Bäume direkt vor dem deutschen Pavillon steht, macht Hitler Zieglers Idee zu der seinen und beschließt die sofortige Umgestaltung. Der bestehende Pavillon ist malerisch, aber ihm nicht machtvoll genug. Er vermittelt nicht das, was er unter Stärke versteht. Er wählt einen neuen Entwurf des Architekten Ernst Haiger, der eben erst die kühle Innenausstattung des Hauses der Deutschen Kunst in München gestaltet hat; auch so, wie er es mag. Der Bau erfolgt hinter den Bäumen am Ufer der Lagune. Die Blätter fallen, gehen dahin. Licht fällt, geht dahin.
    Die Neugestaltung des Pavillons sieht drei zusätzliche Räume vor sowie die Erhöhung und Vergrößerung des Gebäudes, jeder Raum soll von oben Licht erhalten. Luft durchlassen. Die Blätter wenden und schütteln sich im Wind hinter den Fenstern. Der Portikus wird zerschlagen und zu einer zentralen Halle umfunktioniert, über der hoch oben die Mahnung prangt: GERMANIA. Wir sind ja so ermahnt. Falls die hohe, viereckige Kolonnade außerhalb des Pavillons an den Ehrentempel in München erinnert, eine Ehrenstätte für die "Blutzeugen" auf dem Königsplatz ganz in der Nähe des Hauses der Kunst - kein Zufall.
    Noch eine Beinah-Dekade geht dahin. Etwas Licht. Und es ist 1947: Der Ehrentempel wird gesprengt. Und etwas weniger laut wird in Venedig das Nazi Emblem, jene Swastika, von seinem zentralen Platz an der Symmetrielinie über dem Eingang des deutschen Pavillons entfernt werden; zum Verschwinden gebracht, was die Bauten selbst (hätten sie ein Selbst) kaum vollbringen könnten. Der Schatten der Bäume geht in diese Leerstelle über, in diese Abwesenheit. Blätter übergehen sie. Wolken. Mond.
    Neumond. Jahrhundertmitte geht in Jahrhundertende über: Schatten gehen weiter, hier ausgesät. Nun dort. Im Jahr 1964 - Hitler weg, Ziegler weg, Haiger weg -, und da steht Eduard Trier im deutschen Pavillon. Er untersucht die Wand, die die Halle von der Apsis trennt, schreibt etwas in sein Notizbuch, denkt plötzlich an seine Eltern. Dann an das Lager am Ende des Krieges. Dann an die Ausstellungen in Kassel, die sich Deutschland neu vorstellen und vor Augen stellen. Es neu herstellen. Der Kunsthistoriker und Kurator spürt das temperierte Wetter. Wie heiter es ist. Er denkt über das Außenlicht nach und wie er es in diesen Raum lenken kann. "Wie Wasser", denkt Trier, und muss über die poetische Metapher lächeln. Er beschließt eine Neugestaltung. Er will eine neue "Perspektive" auf die nationalsozialistischen Umbauten werfen, wie später jemand schreiben wird. Das bedeutet in jenem Moment vor allem: Er wird diese Wand entfernen und die abgesenkte Decke herausnehmen. Architekturhistoriker werden dies später eine "subtile Brechung" der Ästhetik des Dritten Reichs nennen.
    "Pavillons haben immer etwas mit Macht zu tun"
    Pavillons haben immer etwas mit Macht zu tun, wie ihre Ausstellungen und ihre Nationen. Wer auch immer gerade regiert, darf sie erneuern, neu ausstellen, neu formulieren, neu denken, neu bauen. Worüber denkst du nach, wenn du durch diese Räume gehst? Durch Texträume oder Glas- und Ziegelräume. Welche Worte schreiben sich in dein Gehirn ein, während du vor einer Wand stehst, die nicht mehr da ist, und aufblickst - zu der dichten Reihe von schmalen Fenstern, die immer wieder neue Rahmen bilden um das bisschen Blau - und eine Decke erblickst, die du nie hättest sehen sollen?
    Es ist bereits 2014. Wie schnell die Zeit rast, wie der Rhein, wie die Strudel in der Lagune von Venedig.
    Der Pavillon ist auch verändert worden, vorläufig, von innen. Wir blicken ins Innere - in die Seele, wie sie einmal war, oder in ein Gebäude oder in eine Nation oder in alles zusammen. Ein Bungalow, einst an das Rheinufer in Bonn gebaut, ein Symbol für Nachkriegsdeutschland und sein kapitalistisches "Wirtschaftswunder" ist in den deutschen Pavillon hineingestellt, der jenes Empire auf der internationalen Bühne repräsentiert. Eine Bühne, die gleichzeitig eine Insel ist - ist eine Insel nicht immer eine Bühne? - mit ihrem Pavillon-Park, mitten in Italien. So wächst der Kanzlerbungalow (den "American Style" beschwörend - dabei stammt diese Ästhetik von Richard Neutra, der im Vorkriegs-Wien studierte) im Bauch eines Pavillons, wenn auch nicht sehr hoch, in die Höhe. Jetzt herrschen zwei Dächer. Wie finden wir denn das. Warum fällt mir ausgerechnet jetzt das Wort "Form" ein? Der Gedanke, etwas umzuformulieren. Sich selbst umzuformen, zum Beispiel. Oder eine Nation, eine Gesellschaft, durch ihre Strukturen, durch die Umformulierung der Form ihrer symbolträchtigsten Gebäude. Alles auf (den oder einen) Anfang.
    Wenn man eine Nation neu formieren will, sollte man vielleicht bei ihrer innersten Einheit anfangen: dem Unterschlupf. Aber was findet in einem Pavillon Unterschlupf außer Repräsentanzen, Symbolen, Ausstellungen? Was schlüpft in einem Kanzlerbungalow anderes unter als Kanzler und Symbole, Repräsentationen und Aspirationen, Projektionen und Politiker? Was sind Gebäude schon, wenn sie nicht Unterschlupf bieten?
    Kanzler Ludwig Erhard dachte, der Kanzlerbungalow würde Deutschland einen neuartigen Unterschlupf gewähren, den er ihm bereits gewährt hatte. Ein neues Außen, ein neues Innen. Doch er gewährte nicht. Die Deutschen mochten ihn nicht. Er bot ihnen keinen Unterschlupf, keinen Zutritt in seine stahlgerahmten Flächen oder in deren Inneres.
    "Ein modernistisches Nachkriegsprojekt"
    Der Architekt und der Bundeskanzler sind Freunde. Sie sind Nachbarn. Beide besitzen Häuser am Tegernsee, das Haus des Bundeskanzlers wurde vom Architekten entworfen. Der Architekt heißt Sep Ruf - so kurz und einsilbig, brutal und modern wie eine Beckett-Figur -, der Kanzler heißt Ludwig Erhard, was imperialer und monarchischer klingt, obwohl Erhard ein brennender Verfechter des Modernismus, des "Neuen" ist. Es ist Anfang der 1960er-Jahre. Zusammen planen sie ein neues Gebäude. Es soll in Bonn errichtet werden, in einem grünen Park, verklärt von den rheinischen Bäumen in der Nähe des Palais Schaumburg, wo der Kanzler arbeitet. Das schwebt ihnen vor, und so wird es umgesetzt: der lange Rasen, der sich vom Rhein bis zu dem schlanken, niedrigen Glasbungalow erstreckt - unzählige Rahmen und Reflexionen, eine Art gläsernes Buch (mit gleißenden Seiten). Wie ein Drehbuch. Der Rasen, eine grüne Bühne oder Flagge oder Teppich - Naturhandwerk vom Experten -, ausgerollt für Würdenträger auf Staatsbesuch. Die laufen da drüber? Aber sicher. Es gibt offizielle, von der Regierung autorisierte Fotografien von europäischen Männern in dunklen Anzügen, die paarweise oder in Gruppen im Gleichschritt über den Rasen gehen, mit ernsten gesenkten oder mit erhobenen lächelnden Häuptern. Darunter einst auch ein äthiopisches Staatsoberhaupt. Manchmal eine Frau, eine Ehefrau.
    Wir sinnen über das modernistische Nachkriegsprojekt: Transparenz, Macht, Autorität, Ideologie, Markt, Glas-und-Stahl-Horizonte aus Gebäuden, die Flächen der Flachdächer, die über der melancholischen Landschaft schweben, die Natur, natürlich in die Hand genommen: dann angeboten. Man reicht dir die Hand. Was hat sie zu bieten? Ein bisschen Ideologie, ein bisschen System, ein bisschen Patriarchat und ein bisschen inszenierte Natur. Ein bisschen Gebäude.
    "Geschichte ist gegenständlich, während Zeit abstrakt ist", schreibt ein amerikanischer Künstler im Jahr 1967. Einige Jahre früher versucht ein deutscher Politiker - Erhard -, Zeit in der Form jenes neuen Gebäudes zu vergegenständlichen, damit er (und im erweiterten Sinne Deutschland) darin wohnen kann. Ihm ist damals nicht bewusst, dass er auf diese Weise den Bungalow zu "Geschichte" macht - oder vielleicht doch. Während er also da am Tegernsee sitzt, sieht er sich bereits mittendrin: in der Zukunft Deutschlands. Doch Geschichte heißt immer, (Ge-)Schichten der Vergangenheit. Und er ist schon eine dieser Schichten. 1964 hält er das Gebäude für revolutionär, aber die Revolution wird erst vier Jahre später, in der Zukunft, stattfinden. Im "Sommer" 1968. Und als jener Sommer stattfindet, ist Le Corbusiers Drohung von 1923 - "Architektur oder Revolution" - schon längst von der herrschenden Klasse vereinnahmt worden. Von Männern wie Erhard. "Für die italienischen und französischen Denker", notiert Łukasz Stanek, "war Architektur um 1968 kein Instrument des Fortschritts, sondern ein Mittel, die Verwüstungen des Kapitalismus fortzusetzen: Weit davon entfernt, Revolution unnötig zu machen, blockierte das Fach geradezu radikale Veränderung." Also ist Erhards Bau im heißen Sommer '68 kein Instrument des Fortschritts, sondern wird für sein Gegenteil instrumentalisiert. Erhard ist einfach nur ein weißer europäischer Mann im Anzug. (Macht war noch nie so simpel.) Und er hat keine Macht mehr. Im selben Bild sitzen der neue Kanzler und noch viele andere Männer im Wohnzimmer des Kanzlerbungalows. Heiß ist ihnen auch. Die Sonne strömt (wie Wasser) durch die Glaswände, von denen sie (wie in so vielen Fotos) umschlossen, umrahmt werden. Eine Frau, Ehefrau oder Sekretärin, lässt die Jalousien herunter. Nützt nichts. Es bleibt stickig.
    Was sagt ein Gebäude über einen Mann aus? Was sagt ein Gebäude über einen Staat aus? "Sie lernen mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus ansehen, als etwa wenn Sie mich eine politische Rede halten sehen", sagt Kanzler Ludwig Erhard. Er sitzt in einem dieser farblosen Drehstühle von Eames, die Helmut Schmidt bald gegen etwas dunklere, schwerere und viereckigere Sessel eintauschen wird; solche, die fest auf vier Füßen stehen. "Kein Zweifel, der Kanzlerbungalow ist ein historisches Anschauungsbeispiel erster Ordnung", wird später ein Historiker auf wundervoll vage Weise kommentieren.
    "Der historische Wert dieses Pavillons rechtfertigt nicht seinen Erhalt"
    Aber hier und jetzt, aus einem anderen Winkel des Raums, von etwas weiter oben, beinahe von einem anderen Gebäude herab, in der luftigen Leere oberhalb des Bungalows und unterhalb des gewölbten Dachs des Pavillons, kommen andere Staatsoberhäupter zu Wort. Fast ausschließlich Männer, deutsche Männer. Ihre Architekten, an westlichen Akademien geschult, soufflieren. Und was sagen sie? Irgendeine Bundesarchitektenkammer spricht im pressemitteilungstypischen trockenen Singsang:
    "Der Pavillon entspricht so ganz und gar nicht mehr unserem demokratischen Staatsverständnis. Es wird Zeit, dass wir uns von dem jetzigen Gebäude mit der ausgesprochen nationalsozialistischen Monumentalität verabschieden. Auch wenn das Haus unter italienischem Denkmalschutz steht, sollte das keine unüberwindliche Hürde sein. Der historische Wert dieses Pavillons rechtfertigt nicht seinen Erhalt."
    Immerhin rücken einige Künstler an und werfen ein Auge auf den deutschen Pavillon. Und jedes zweite Jahr reisen die deutschen Künstler zur Biennale, für die der Pavillon einst gebaut wurde, und bringen ihre Axt mit. Wie soll man sich sonst diesem Bau nähern? Gewalt nährt Gewalt und so weiter. Aber so einfach ist es nicht, natürlich nicht. Die Frage ist viel schwieriger. Da niemand jemals wirklich das "jetzige Gebäude mit der ausgesprochen nationalsozialistischen Monumentalität verabschiedet hat", müssen die Künstler diesen Abschied immer wieder neu inszenieren. Eine geschlossene Tür, ein entehrtes Gebäude. Irgendwo steht Eduard Trier und schaut zu. Er kannte den Krieg und die Räume und die Umformulierungen für die Ausstellungen und Gesellschaften, die nach ihm kamen. Er steht im Schatten eines Baumes, im Schatten einer Säule. Eine aus Holz, eine aus Marmor. Wir können seinen Gesichtsausdruck kaum ausmachen. Wo sind die Frauen in dieser imaginierten Erinnerung? So viele Männer und ihre Gelüste. Ludwigs Lust und so weiter. Ganz schön anstrengend.
    Was ist ein Staatsbungalow? Was ist ein Staatspavillon? Was sind die beiden, wenn sie zusammengebracht werden, sozusagen, ohne dass sie jeweils die ideologischen Zwecke ihrer begierigen, fiebrigen Schöpfer erfüllen? Sondern einen anderen Zweck. Wenn "architektonische Projekte als kognitive Objekte verstanden werden, die uns erlauben, das Potenzial der gesellschaftlichen Raumproduktion zu begreifen", wie Łukasz Stanek feststellt, was lässt uns dieses merkwürdige, spekulative Projekt des still und leise in den deutschen Pavillon eingefügten Kanzlerbungalows über Raum und seine relationale Ordnung begreifen? Ich erwarte keine Antwort von uns. Aber Fragen sind aufschlussreich. Sie weisen den Weg (weg von der Insel oder in ihr mit Blättern übersätes Innere).
    Teil 3 (Architekturgeschichte als Gesellschaftsgeschichte) am 21.07.2014