Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Archivnetzwerk Pop
Die Erforschung eines Phänomens

Ob gesungen, gemalt, fotografiert oder gefilmt: Pop ist überall. Als Gegenentwurf zur "hohen Kunst" wurde er von der Wissenschaft lange Zeit vernachlässigt. Doch immer mehr Universitäten richten Lehrstühle für Popkultur ein. Und nun soll das neue Archivnetzwerk Pop die wissenschaftliche Aufarbeitung vereinfachen.

Von Alfried Schmitz | 15.06.2017
    Das rock'n'popmuseum in Gronau
    Im rock'n'popmuseum in Gronau wurde das Archivnetzwerk Pop gegründet. (imago stock&people)
    Erstmalig ist es jetzt gelungen, dass sich Poparchive zu einem Verbund zusammengeschlossen haben. Neben dem rock’n’popmuseum in Gronau gehören das Pop-Archiv der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das Archiv der Jugendkulturen in Berlin, das Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet in Dortmund, das Musikarchiv NRW in Köln und das Lippman+Rau-Musikarchiv in Eisenach diesem Verbund an. Einem Archiv-Verbund, von dem man sich große Synergieeffekte verspricht, wie Anna Seidel aus Münster, Hans Schreiber aus Dortmund und Matthias Schumacher aus Köln bestätigen:
    "Wir wollen sichtbarer werden, wir wollen uns vernetzen und uns auch austauschen, um sicher zu gehen, dass sich die Bestände nicht überall überschneiden, sondern wir Schwerpunkte setzen können."
    "Derjenige, der Recherchen betreibt, hat eine viel größere Breite an Material, auf die er zugreifen kann, weil wir dann eben auch die Bestände der anderen Archive zur Verfügung haben, zumindest erst einmal virtuell."
    "Das ist offen für Wissenschaftler, für Schüler, Studenten und für Musikfreunde, eigentlich für Jedermann. Ich denke, dass das in einem Netzwerk sehr, sehr gut funktionieren kann. Und das ist unsere Vision ja auch."
    Gründung des Archivnetzwerks im rock’n’popmuseum
    Der Ort für den Startschuss des Archivverbundes war gut gewählt. Er fand im rock’n’popmuseum im westfälischen Gronau statt. Der Stadt, in der Udo Lindenberg 1946 das Licht der Welt erblickte und seine Karriere startete. Lindenberg ist mit seiner Musik bis heute stilprägend für Rockmusik mit deutschen Texten. Mit seinen Songs wurde er auch für die jüngere Generation zum Idol und Vorbild. Der Musiker Udo Lindenberg war auch der Hauptinitiator, der die Idee zur Gründung des rock’n’popmuseums in seiner Geburtsstadt Gronau hatte, das im Juli 2004 eröffnet wurde. Es ist das bundesweit einzige Museum, das sich der Geschichte der Popmusik widmet. Geschäftsführer des städtischen Kulturbüros und zugleich Museumsleiter ist Thomas Albers.
    "Mittlerweile setzt sich bei den Menschen der Gedanke durch, dass die Popkultur eben nicht nur ein flüchtiges Gut ist, sondern durchaus auch Auswirkung und Prägung gehabt hat, die es lohnt, sich zu bewahren."
    Im rock’n’popmuseum in Gronau erinnert eine Dauerausstellung an die Anfänge der Popmusik. Mit Erinnerungsstücken, auf Fotos, Schaubildern, Plakaten und in Videos begegnet man legendären Bands und Interpreten. Man lernt aber auch Musiker kennen, die abseits des sogenannten Mainstreams stilprägend waren und zu Helden einer Subkultur wie zum Beispiel dem Punk wurden.
    Die Menschen hinter den Kulissen würdigen
    Die Protagonisten der Popmusik haben viele Generationen geprägt und begeistert. Zu den wichtigen Personen gehören aber auch die Menschen, die ihm Hintergrund die Fäden ziehen. In einer aktuellen Sonderausstellung werden im rock’n’popmuseum in Gronau die beiden verstorbenen Konzertveranstalter Horst Lippmann und Fritz Rau gewürdigt. Die beiden haben als "Päpste des Pop", wie sie in der Ausstellung genannt werden, internationale und nationale Künstler auf deutsche Bühnen gebracht. Ihren Nachlass verwaltet das Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach, das ebenfalls zum neuen Archivverbund gehört. Reinhard Lorenz, Kulturamtsleiter der Stadt Eisenach, ist einer der Archivleiter.
    "Wir machen viele Schüler- und Studentenprojekte, haben eine Kooperation mit der Musikhochschule in Weimar. Und wir merken, die jungen Leute haben das Interesse, aber sie haben nicht die Geschichte dazu."
    Pop ist mehr als Musik
    Diese Geschichtsvermittlung in Sachen Popkultur möchte der Archivverbund leisten. Und dabei möchten sich die Beteiligten nicht alleine auf die Musik als Teil der Popkultur beschränken, sondern ihre vielen Facetten in Klang, Bild, Text, Wort und Design beleuchten. Auch im Vermächtnis der beiden Konzertveranstalter Lippmann und Rau wird diese Verzahnung deutlich. Teil ihrer Sammlung sind zum Beispiel auch die künstlerisch gestalteten Schallplattencover und Konzertplakate des bedeutenden Grafikdesigners und Bildhauers Günther Kieser. Seine Werke, vor allem die aus den 1960er Jahren, sind einzigartige Zeitzeugen einer interessanten Jugendkultur.
    "Und Jugendkultur aus dem Heute heraus zu erforschen, ist eine ganz wichtige Geschichte und ein Punkt für uns, wo wir sagen: Mein Gott, was ist da in den 60ern passiert?! Auf welche Zeugnisse stoßen wir im Nachlass von Horst Lippmann beispielsweise?! Daraus ergeben sich Projekte wie 'Musik und Umweltforschung in den 60er-Jahren'. Wann hat das wie begonnen, mit welchen Songs?"
    Popmusik als Ausdruck des Zeitgeistes
    Die Popmusik als wichtiger Bestandteil der Popkultur hat gesellschaftliche Zeitströmungen begleitet, geprägt und gefördert. Das gilt für den eben erwähnten Umweltschutzgedanken, der sich in vielen Liedern der 1970er und 1980er spiegelt. Das gilt auch für die vielen Songs gegen den Vietnamkrieg und den Krieg im Allgemeinen, die zu Hymnen der "Love & Peace"-Bewegung Ende der 1960er wurden. Und das gilt für die Rock-gegen-Rechts-Kampagne, die sich Anfang der 1990er formierte und bei der sich seitdem viele deutsche Musikerinnen und Musiker gegen rechtsradikales Gedankengut einsetzen. Für die Erforschung solcher und ähnlicher Themen sind die Archive des neuen Popkulturverbundes ideale Fundgruben.
    "Das versuchen wir einfach klarzumachen, wenn wir eine Abiturientin haben, die eine Arbeit schreiben will über Amy Winehouse und sagt: 'Dazu haben Sie doch bestimmt nichts zu, die ist doch viel zu modern!' Der habe ich dann gesagt: 'Doch, da haben wir einen Meter Bücher und Artikel. Kennst Du denn das Vorbild von Amy Winehouse?' – "Nö, hatte die eins?' – 'Ja, eine alte Jazz-Sängerin namens Billy Holiday!' Und dann wird das eine völlig andere Arbeit natürlich."
    Die wissenschaftliche Erforschung von Popkultur wurde lange Zeit nur sehr stiefmütterlich behandelt. Doch seit einigen Jahren hat sich das geändert. War es früher überwiegend die Popmusik, die wissenschaftlich analysiert wurde, erkennt man an immer mehr Universitäten, wie viel mehr Facetten die Popkultur hat und wie sehr die moderne Gesellschaft von ihr geprägt wurde und wird. Vor zwei Jahren wurde an der Universität Siegen die Forschungsstelle "Populäre Kulturen" ins Leben gerufen. Dort arbeiten Wissenschaftler aus Soziologie, Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte oder Medienwissenschaften an der Analyse von Popkultur in all ihren Bereichen.
    Die Bedeutung der Popliteratur
    An der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster beschäftigt sich speziell das germanistische Institut mit der Popkultur.
    "Zunächst hat uns vor allen Dingen die Popliteratur interessiert und zu schauen, was fließt da an kulturellen Quellen ein", sagt die Literaturwissenschaftlerin Anne Seidel von der Universität Münster. "Ein Kollege von mir, Philipp Pabst, der forscht zu ganz früher Popliteratur. Und über sein Forschungsprojekt sind wir zu frühen Popzeitschriften gekommen. Also von der frühen 'Bravo' über die 'Constanze', der Vorgängerin der 'Brigitte', aber auch ganz aktuelle Zeitschriften wie die 'Spex', das 'Missy-Magazine'."
    Allesamt Zeitschriften, die Bestandteil einer umfangreichen Popliteratur-Sammlung an der Wilhelms Universität Münster wurden, die ebenfalls zum neu gegründeten Archiv-Verbund für Popkultur gehört. Wie wichtig die Analyse der Popkultur aus Sicht der Literaturwissenschaften ist, beschreibt Anna Seidel so:
    "Wenn man unsere Kultur generell verstehen möchte, darf man sich natürlich auch dem Pop nicht versperren. Wir haben den Forschungsschwerpunkt Kultur-Poetik. Wir kümmern uns darum, wie ist die Kultur beschaffen, welche kulturellen Energien florieren um bestimmte Zeiten, um bestimmte Themen. Und dafür ist es wichtig, in Popzeitschriften hineinzuschauen, um zu sehen, was für Themen werden da eigentlich verhandelt, wie werden die verhandelt. Ist das ein sehr ernst, fast schon akademischer Zugang oder ein Zugang von Fanseite."
    Songtexte als Forschungsgegenstand
    Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der Münsteraner Literaturwissenschaftler im Feld der Popkultur ist die Textanalyse von Rock- und Popsongs. Zum Beispiel ist das Thema einer aktuellen Dissertation die Poetik des Deutsch-Rap und welche Unterschiede zwischen dem modernen Sprechgesang und den Gedichten vergangener Epochen besteht.
    "Es gibt definitiv Leute, die sich mit Pop auseinander setzen, und es gibt eine nachwachsende Generation wie mich und meine Kollegen und Kolleginnen, die sich ganz selbstverständlich mit Pop auseinander setzen, ohne die literaturwissenschaftliche Tradition aus dem Blick zu verlieren. Der Exotenstatus, das Besondere ist einfach, dass es sich da um ein sehr junges Forschungsfeld handelt, eins, wo auch noch sehr viel Arbeit geleistet werden kann. Man muss literaturwissenschaftlich sehen, dass eben nicht nur der Thomas Mann-Roman ein interessanter Gegenstand ist, es kann auch ein "Beatles'-Album sein zum Beispiel."
    Das Berliner Archiv forscht zu verschiedensten Themen
    Neben den Sammlungen in Köln, Dortmund, Erfurt, Münster und Gronau gehört dem neu gegründeten Verbund auch das Archiv der Jugendkulturen in Berlin an. Daniel Schneider ist dort als Projektleiter für Berliner Pop- und Subkultur zuständig. Er nennt Beispiele für die enorme Bandbreite an Themen, die das Berliner Archiv abdeckt.
    "Wir hatten letztes Jahr einen amerikanischen Historiker zu Gast, der zu deutschen Festivitäten forscht. Der hat ein Buch über deutsche Weihnachten geschrieben und jetzt schreibt er ein Buch über die Love-Parade als deutsches Techno-Großereignis. Andere Leute recherchieren zu Musikjournalismus und elektronischer Musik um 1990. Es können auch politische Themen sein. Wir haben auch eine Sammlung an rechtsextremen Fanzines aus der Skinhead- und Neonazi-Szene für Leute, die darüber recherchieren. Fußballfankultur ist auch ein Thema, worüber wir sammeln und einiges haben. Das wird auch immer wieder gefragt. Es sind kulturwissenschaftliche, historische, sozialwissenschaftliche Themen."