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Argentinien
Suche nach den Verschleppten der Diktatur

Die "Großmütter der Plaza de Mayo" suchen seit Jahrzehnten nach argentinischen Babys, die vom Militärregime zwischen 1976 und 1983 verschleppt wurden. Nun hat die Vorsitzende ihren Enkel wiedergefunden - von Hunderten anderen fehlt immer noch jede Spur.

Von Victoria Eglau | 19.08.2014
    Demonstration der "Mütter und Großmütter des Plaza de Mayo". Die Organisation möchte das Schicksal der vielen Ermordeten und Verschleppten Argentiniens ausklären, die das Militärregime von 1976 bis 1983 zu verantworten hat.
    Demonstration der "Mütter und Großmütter des Plaza de Mayo" in Argentinien. (AFP / Daniel Luna)
    Während des Militärregimes von 1976 bis 1983 wurden rund 500 argentinische Babys ihren Müttern geraubt, die Mütter selbst getötet. Die "Großmütter der Plaza de Mayo" suchen seitdem nach ihnen. Nun hat die 82-jährige Estela de Carlotto ihren Enkel entdeckt und zum ersten Mal getroffen:
    "Ich möchte mit Ihnen die riesige Freude teilen, die mir heute das Leben geschenkt hat. Ich habe meinen Enkel gefunden, den ich so lange gesucht habe. Das ist ein enormes Glück, an erster Stelle für meine Familie."
    Die Argentinier hatten Estela de Carlotto noch nie so strahlend gesehen. In Buenos Aires verkündete die bekannte Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo die gute Nachricht: Der 114. der bislang wiedergefundenen Enkel ist ihr eigener. Die Enkel, das sind rund 500 Argentinier, die während des Militärregimes von 1976 bis 1983 ihren Müttern geraubt wurden. Die Frauen brachten ihre Babys in Geheimgefängnissen der Diktatur zur Welt, sie waren politische Gefangene. Eine von ihnen: Laura, die Tochter von Estela de Carlotto. Laura wurde 1978, kurz nach der Entbindung eines Sohnes, von den Militärs umgebracht, das Baby verschwand – die Großmutter bekam das Kind nie zu Gesicht. Nun hat die 82-Jjährige ihren Enkel zum ersten Mal getroffen: nach mehr als 30-jähriger Suche.
    "Er ist ein Künstler, ein guter Junge. Und er selbst hat mich gesucht. Es ist das wahr geworden, was wir Großmütter immer gesagt haben: Unsere Enkel werden uns suchen, so wie wir sie suchen."
    Zieheltern drohen strafrechtliche Konsequenzen
    Estela de Carlottos Enkel ist heute 36 Jahre alt. Seine leibliche Familie, die ihn vor wenigen Tagen kennengelernt hat, suchte ihn unter dem Namen Guido. Doch das Ehepaar, das den jungen Mann aufzog, gab ihm den Namen Ignacio und den Nachnamen Hurban. Auf welchem Wege er als Baby zu seinen Zieheltern kam und ob diese strafrechtlich belangt werden können, muss nun die argentinische Justiz klären. Ignacio Hurban, ein Musiker aus der Kleinstadt Olavarría, entschloss sich wegen des riesigen Interesses an seiner Person, auch in die Öffentlichkeit zu gehen.
    "Ich genieße diesen Augenblick sehr - vor allem die Freude meiner leiblichen Familie, mich endlich gefunden zu haben. Meinen Namen Ignacio möchte ich beibehalten, ich habe mich an ihn gewöhnt. Aber ich verstehe auch, dass ich für die Familie, die mich so lange gesucht hat, Guido bin. Darüber, nun meine wahre Geschichte und Identität zu kennen, bin ich sehr glücklich."
    Ignacio Hurban erfuhr erst vor zwei Monaten, dass er adoptiert wurde und wandte sich selbst an die Großmütter der Plaza de Mayo. Die Organisation schaltet seit vielen Jahren Anzeigen in den Medien und ermutigt Argentinier, die Zweifel an ihrer Identität haben, einen Gentest zu machen. Genau das tat Ignacio Hurban im Juli. Ein Abgleich mit der nationalen Gen-Datenbank ergab die direkte Verwandtschaft mit der Familie Carlotto. Für viele wiedergefundene Enkel ist die Entdeckung der wahren Abstammung ein Schock. Ignacio Hurban wirkt dagegen erstaunlich heiter und gelassen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er die Suche der Großmütter nach anderen gestohlenen Kindern und geraubten Identitäten künftig unterstützen will.
    "Ich wünsche mir, dass meine Erfahrung, die auch schon andere Argentinier gemacht haben, dazu beiträgt, der Suche nach den noch vermissten Enkeln einen kräftigen Schub gibt. Und dass die Gesellschaft versteht, dass es wichtig ist, jene Wunden zu schließen, die vor so langer Zeit entstanden sind - wozu ich jetzt ein klein wenig beitragen kann."
    Suche geht weiter
    Die Suche der Großmütter begann 1977 auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires. Hier, vor dem argentinischen Regierungspalast, demonstrierten die Frauen und forderten Aufklärung über das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder und Enkel. Die meisten der vom Regime verschleppten Angehörigen linker politischer Organisationen und Guerillero-Gruppen wurden ermordet, während sich die Militärs ihre Babys nahmen, sie selber aufzogen, verkauften oder verschenkten. Knapp 400 dieser heute erwachsenen Argentinier mit falschen Identitäten wurden noch nicht gefunden. Ignacio Hurban, eigentlich Guido de Carlotto, ermuntert alle, die an ihrer Herkunft zweifeln, sich bei den Großmüttern zu melden.
    "Als ich selbst diesen Schritt tat, hatte ich Angst, meine leibliche Familie nicht zu finden. Ich weiß daher, wie schwer es ist, die Suche nach der eigenen Identität zu beginnen. Da ist die Ungewissheit, ob man Erfolg haben wird. Aber ich glaube, wer Zweifel hat, muss das tun. Nicht nur, um die eigene Identität zu klären, sondern auch, um zum kollektiven Gedächtnis Argentiniens beizutragen."
    Wegen der illegalen Aneignung von Minderjährigen während der Diktatur wurden in Argentinien schon zahlreiche Personen zu Haftstrafen verurteilt. Estela de Carlotto:
    "Es gibt Enkel, die sich nicht an die Großmütter wenden, weil sie ihre Zieheltern mögen und nicht wollen, dass diese im Gefängnis landen. Manche kommen erst dann zu uns, wenn die Zieheltern tot sind. Doch das kann zu spät sein, denn auch die leiblichen Großeltern sind alt und sterben."
    Großmutter Estela de Carlotto, die neben Guido, alias Ignacio, noch 13 weitere Enkel hat, hat auch ein Glückwunschschreiben aus dem Vatikan bekommen. Der argentinische Papst drückt darin seine Freude aus und dankt Carlotto für ihre beharrliche Suche nach den Enkeln. Eine Suche, an der Jorge Bergoglio in seiner Zeit als Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz nicht viel Interesse gezeigt hatte. Estela de Carlotto hat angekündigt, ihre Aufgabe an der Spitze der Großmütter-Organisation weiterzuführen.
    "Ich appelliere an die Großmütter, nicht den Mut zu verlieren - sie werden ihre Enkel finden. Die Gesellschaft versteht immer mehr, dass diese Suche eine Aufgabe aller ist."