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Argentinien
Wirtschaftskrise als zentrales Wahlkampfthema

Argentiniens Wirtschaft ist stark gebeutelt. Das setzt vor allem den aktuellen Präsidenten Mauricio Macri unter Druck. Alles deutet auf einen Linksruck hin - doch für politische Erneuerung steht der nicht. Denn dahinter steckt die 13-fach wegen Korruption angeklagte Ex-Präsidentin Cristina Kirchner.

Von Anne Herrberg | 26.10.2019
Protest gegen die Wirtschaftskrise in Argentinien in der Hauptstadt Buenos Aires am 10. Oktober. Tausende Menschen auf der Straße mit Bannern und Plakaten.
Protest gegen die Wirtschaftskrise in Argentinien in der Hauptstadt Buenos Aires am 10. Oktober (picture alliance/dpa/ZUMA Press/Claudio Santisteban)
Hier glauben sie noch an ihn. In Barrancas de Belgrano, einem traditionellen Viertel der wohlhabenden Mittelschicht im Norden von Buenos Aires, mit seinen alten Herrenhäusern, edlen Wohntürmen und dem hübschen Park mit griechischen Statuen. "Si se puede", ja, wir schaffen das, rufen sie. Etwa 5000 sind gekommen, die meisten haben die 50 bereits überschritten. Sie schwenken kleine hellblau-weiße Argentinienfähnchen und halten gelbe Tücher in die Luft: Ich wähle Macri, steht darauf.
"Wir sind hier, um die Regierung zu verteidigen, damit diese Bande von Korrupten nicht zurückkommt, die vorher regiert hat, und das Land in den Abgrund geführt hat."
"Wir alle hoffen, dass Macri gewinnt. Wir wollen nicht wie Venezuela werden. Wir wollen wieder die Kornkammer der Welt sein."
Es ist ein Heimspiel für den Präsidenten. In aufgekrempeltem Hemd, Steppweste und Jeans winkt Mauricio Macri in die Menge. Kameradrohnen kreisen über der Szenerie. Macri braucht diese Bilder. Denn eigentlich glaubt in Argentinien gerade kaum noch einer daran, dass er Chancen auf eine zweite Amtszeit hat. Bei den Vorwahlen, einer Art Generalprobe für den Urnengang Ende Oktober, hat er haushoch verloren gegen seinen Herausforderer aus dem peronistischen Lager. Nun versucht Macri zu retten, was zu retten ist. Mit der "Si-Se-Puede"-Rally. Er reist durchs Land, schwenkt Fähnchen, reckt die Faust, küsst sogar Füße.
"Ich weiß, dass die letzten anderthalb Jahre sehr schwierig waren und dass ihr, die Mittelschicht die größten Anstrengungen unternommen habt. Ihr wart wütend, zu Recht, aber ich habe euch gehört, ich habe Notiz genommen."
Mauricio Macri - einst marktliberaler Hoffnungsträger
Dazu muss man wissen: Der steinreiche Unternehmer Macri war 2015 als Hoffnungsträger angetreten. Nach dem Autarkie-Kurs der linken Kirchner-Regierung, die Argentiniens Wirtschaft immer mehr abschottete und das Budget überzog, versprach er nichts weniger als einen Epochenwechsel: Mit marktliberalen Reformen wollte er das Land von Inflation und Armut befreien, den Weg zu Wohlstand und Wachstum ebnen. Zuerst jedoch musste gespart werden. Die Märkte jubelten, die Argentinier schnallten den Gürtel enger.
"Ich möchte euch sagen, dass der Aufwand nicht umsonst war, weil wir damit begonnen haben, die Probleme der letzten 70 Jahre zu lösen. Jetzt kommt das Wachstum, die Arbeit und die Erleichterung, die wir alle so dringend am Monatsende in unseren Taschen brauchen."
Macris Problem ist: Die versprochene Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Um Argentiniens Wirtschaft steht es heute schlechter als vor vier Jahren. Und das, obwohl der Internationale Währungsfonds Macri mit 57 Milliarden US-Dollar unter die Arme gegriffen hat. Bei den Argentiniern weckt das böse Erinnerungen: an 2001, den letzten großen Staatsbankrott.
Der amtierende argentinische Präsident Mauricio Macri Ende September auf einer Wahlveranstaltung in Buenos Aires. Ein älterer Mann hält ein Mikro in der Hand und hält eine Rede.
Der amtierende argentinische Präsident Mauricio Macri auf einer Wahlveranstaltung in Buenos Aires. (imago images/Fotoarena)
Sie wurden zum Symbol für diese Zeit – nun werden es wieder mehr: Die Cartoneros, die mit ihren meterhoch beladenen, scheppernden Handkarren durch Buenos Aires ziehen und Müll sammeln. Wie Ani Rodriguez.
"Brot zum Beispiel, das Kilo kostet heute 100 Pesos! Zucker, 54 Pesos! Ja, gut, sie haben die Straße hier breiter gemacht und eine Schnellbuslinie gebaut, alles schön und gut, aber fürs Essen reicht es nicht mehr. Ohne Essen, was sollen wir da tun? Etwa Asphalt essen?"
Ani Rodriguez zieht sich am Rand einer Mülltonne hoch, schwingt über und lässt sich hinabsinken in den stinkenden Abfall. Eine schmale Frau mit harten Zügen. Sie fischt Dosen, Karton und Altpapier heraus, und ab und an auch mal eine aufgeweichte Teigtasche, eine Empanada, oder eine halbleere Colaflasche.
Sechs bis 20 Peso bekommt sie beim Recyclinghof, je nach Material, das sind weniger als 30 Eurocent pro Kilo. Zum Vergleich: Ein Kilo Brot kostet umgerechnet 1,50 Euro. Morgen können es auch 1,60 sein, denn die Preise klettern fast täglich nach oben. Und das hat, wie fast alles in Argentinien, mit dem US-Dollar zu tun – beziehungsweise damit, dass der Peso immer weniger wert ist.
"Der Dollar raubt uns den Schlaf, den Appetit und die Freude am Leben. Denn er beeinflusst hier alles. Steigt der Dollar, steigt der Preis für Weizen, für Benzin, für Gas und Strom, für alles. Wie eine Kette. Früher konnten wir mit 500 Pesos zwei, drei Tage gut leben, heute reicht nicht mal für einen Eintopf. Macri versteht das nicht, er war sein Leben lang reich, das ist der Unterschied."
Auferstanden: Cristina Fernandez de Kirchner
So geht es heute fast vier der 44 Millionen in Argentinien, einem Land, das Nahrung für 400 Millionen Menschen produziert. Gerade musste der Kongress den Lebensmittel-Notstand ausrufen. Das erklärt schon viel über Macris Wahldebakel – und über das erstaunliche Comeback einer Frau, mit deren politischem Projekt er eigentlich ein für alle Mal aufräumen wollte.
Nun ist sie wieder da. Cristina Fernandez de Kirchner winkt ins vollbesetzte Auditorium der Universität von La Matanza. Auch sie tourt durchs Land. Mit ihren Memoiren. Und das hier, ist ihr Heimspiel.
La Matanza liegt im dicht besiedelten Vorstadtgürtel von Buenos Aires, Kernland des Peronismus, jener bedeutenden politischen Bewegung Argentiniens, die auf den Volkstribun Juan Domingo Peron zurückgeht. Begründer des ersten Wohlfahrtsstaates in Argentinien, andere nennen ihn einen autoritären Populisten. Der Saal platzt aus allen Nähten, draußen übertragen Großleinwände, Fahnen wehen, Fanartikel werden verkauft. Mehr als Zehntausend sind gekommen, um Cristina zu sehen.
"Sie hat uns viel gegeben. Wir hoffen, dass sie zurückkommt. Sie war das Beste, was unserem Land passiert ist."
Cristina lächelt, legt die Hand aufs Herz, dann streicht sie sorgfältig ihre rotbraune Wellenpracht zurück. "Sinceramente" heißt ihr gerade erschienenes Buch: "Ehrlich gesagt." Ein sehr subjektiver Rückblick auf ihre Regierungsjahre, als in ganz Südamerika linke Regierungen das Kommando übernahmen, den ökonomischen Rezepten aus Washington trotzig den Rücken kehrten und die Milliarden in Sozialprogramme steckten. In Kirchners Augen eine gewonnene Dekade, ihre Gegner sprechen vom verlorenen, populistischen Jahrzehnt. Gegen Kirchner laufen derzeit 13 Korruptionsverfahren. Doch auch darüber gibt es geteilte Ansichten, schließlich hat Argentiniens Justiz ebenfalls ein Glaubwürdigkeitsproblem.
"Es waren zwölf Jahre mit großen Fortschritten und Veränderungen und natürlich auch mit Problemen, nur Tote haben keine Probleme. Aber die Probleme, die es gab wurden multipliziert und dazu kamen neue, solche, die wir eigentlich glaubten, überwunden zu haben. Und ich persönlich muss sagen: Staatsverschuldung und Hunger, das sind Probleme, die ich nicht tolerieren und nicht ertragen kann!"
Natürlich ist das Buch nur ein Alibi. Cristina ist im Wahlkampf. Nur nicht so, wie die meisten es erwartet hätten. Im Mai überraschte die Ex-Präsidentin mit der Ankündigung, nur als Vize kandidieren zu wollen – als Stellvertreterin an der Seite eines langjährigen Weggefährten: Alberto Fernandez. Er war Kabinettschef ihres Ehemannes und Vorgängers im Amt, dem inzwischen verstorbenen Néstor Kirchner. Mit Cristina hatte sich Fernández später überworfen. Doch das ist Vergangenheit. Die einst zersplitterte Opposition hat sich geeint. Zur "Frente de Todos", eine Koalition all derjenigen, die gegen Macri sind.
"Ich frage: Was sollen wir noch tun, um zu zeigen, dass wir bereit sind, eine andere Geschichte zu schreiben. Ich erinnere mich noch an die Zeitungsartikel: Wenn Cristina es nicht wird, dann niemand. Glaubt ihr wirklich, dass sich alles nur darum dreht, dass ich Präsidentschaftskandidatin werde? Wie kleinlich wäre das von Cristina gewesen, wie kleinlich!"
Kircher gilt als Investorenschreck
Es war ein politischer Schachzug, mit dem Macri nicht gerechnet hatte. Und der ihm den Wind aus dem Segeln nahm. Schließlich hatte er seine Kampagne, ja seine gesamte Präsidentschaft, auf eine Polarisierung mit der Vorgängerin gestützt, sagt Juan Gabriel Tokatlian. Er ist Soziologe und Leiter Fakultät für Internationale Beziehungen an der Universität Torcuato di Tela.
"In Schlüsselmomenten ist es wichtig, die Koalition zu erweitern. Und es gibt Politiker, die das verstehen, und andere, die sich irren. Cristina Fernandez hat es verstanden. Indem sie einen Schritt zur Seite getreten ist für jemanden, der ihr vertraut ist, der sie aber auch kritisiert und sich mit ihr überworfen hatte. Eine Figur der Mitte, die in der Lage war, die zersplitterte Opposition zu einen, der von den Linken und den sozialen Bewegungen akzeptiert wurde, aber auch vom konservativen Lager. Cristina Fernandez de Kirchner hat erkannt: Allein bin ich zu schwach. Mit anderen zusammen bin ich ein Trumpf."
Die Märkte überzeugte dieser Schachzug allerdings weit weniger als die argentinischen Wähler. Die Linkspopulistin gilt als Investorenschreck. Während ihrer Regierungszeit ging sie auf Konfrontation mit der Finanzwelt und führte Kapital- und Devisenkontrollen ein. Am Tag nach Macris Wahldebakel brach an Argentiniens Börse die nackte Panik aus.
Cristina Fernandez de Kirchner auf einer Wahlkampfveranstaltung am 17. Oktober in Santa Rosa, Argentinien. Eine Frau steht auf einer Bühne und winkt Menschen zu, die die argentinische Flagge halten.
Cristina Fernandez de Kirchner auf einer Wahlkampfveranstaltung (picture allilance/dpa/Natacha Pisarenko)
Innerhalb von Stunden ratterten die Kurse in den Keller. Die Landeswährung Peso brach um mehr als ein Viertel ein, argentinische Anleihen kollabierten und die Zinssätze, die Argentinien für neue Schulden zahlen muss, schossen in die Höhe. Alles, wegen Cristina – erklärte ein angesäuerter Macri am selben Abend auf einer Pressekonferenz. Carlos Arhancet schüttelt den Kopf. Märkte haben keine Ideologie, sagt er. Arhancet, 61, braun gebrannt, volles Haar, ist Market Maker, Wertpapierhändler.
"Was nach den Vorwahlen passiert ist, war eine übertriebene Reaktion. Sie zeugt von der Hysterie in einem Land, dessen Wirtschaft seit über 50 Jahren hin und her pendelt. Und das kein Vertrauen in seine Währung hat. Deswegen flüchten sich die Menschen in den US-Dollar. Was der Absturz deutlich gemacht hat, ist die Schwäche unseres ganzen Finanzsystems."
Macris versprochener "Investitions-Regen" blieb aus
Dabei ist mit Mauricio Macri ein Freund der Wallstreet in Argentiniens rosafarbenen Präsidentenpalast eingezogen. Er riss Kirchners protektionistische Kontrollen ein, zahlte die von ihr als "Geierfonds" beschimpften Hedgefonds aus, gab den Wechselkurs des Peso frei und nahm im Rekordtempo neue Schulden auf. Die Märkte jubelten, Argentinien wurde zum neuen Superstar des Südens gekürt. Frisches Kapital strömte ins Land, denn die argentinische Zentralbank vergab hohe Zinsen – im Gegensetz zum Rest der Welt. Doch was kam war Spekulationskapital. Der versprochene "Investitions-Regen" blieb aus. Und als in den USA die Zinsen steigen, der Handelsstreit mit China die Weltwirtschaft lahmt, zusätzliche eine Dürre Argentiniens Agrarexporte einbrechen lässt und Anleger ihr Geld aus den Schwellenländern abziehen, gerät der neue Superstar Argentinien ins Strudeln.
Was folgt, ist Macris Canossagang zum Internationalen Währungsfonds. Der sagt Argentinien ganze 57 Milliarden US-Dollar zu, der größte IWF-Kredit aller Zeiten, über 60 Prozent seines ganzen Kapitals. Ein Fehler, glauben heute nicht nur Kritiker wie Tokatlian:
"Maßgeblich war meines Erachtens ein geopolitisches Interesse, vor allem der USA. Unter der Regierung Trump ist Washington zu einer Art neuer Monroe Doktrin geschwenkt, Amerika den Amerikanern, mit dem klaren Interesse, Chinas Einfluss in der Region zurückzudrängen. Ich glaube, das ging schief. Dazu kommt natürlich auch das Interesse des IWF, der erneut versucht hat, ein orthodoxes Rezept durchzusetzen, das schon in der Vergangenheit nicht funktioniert hat."
Wo ist das ganze Geld, fragt Cristina Kirchner bei ihrem Auftritt in La Matanza. Es ist die Frage, die sich derzeit alle Argentinier stellen, und genau da liegt das Problem, sagt der Ökonom Leandro Mora Alfonsin.
"Es geht nicht darum, ob Schulden gut oder schlecht sind. Sondern wofür das Geld genutzt wird. Ich kann Schulden aufnehmen, um die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit meiner Wirtschaft verbessern. In Argentinien ist das aber fast nie passiert. Und der Währungsfonds trägt erneut eine Mitverantwortung. Das Geld wurde zu großen Teilen dafür eingesetzt, den Peso zu stützen, also die Währung zu stabilisieren. Damit wurde letztlich die Kapitalflucht finanziert. Das ist, wie wenn du ganz viele Geldbündel hast, und sie dann in einen Beutel steckst, der ein Loch hat."
Heute ist es der marktliberale Macri, der wieder zu jenen Kapitalkontrollen greift, die er zuvor als Teufelswerk der Vorgänger kritisiert hatte.
Der Mittelstand kämpft ums Überleben
"Das Ungetüm aus Stahl spuckt Feuer, stößt fauchend heißen Dampf aus, dann wird die silbrig, zähe Masse durch Kaltkammern geleitet und von Walzen in Form gepresst." Mein Disneyland, sagt Norberto Fedele. Er steht in der Maschinenhalle seiner Aluminiumfabrik "Laminación Paulista", vor ihm ein Behälter mit kreisrund gestanzten Alu-Scheiben."
"Mein Geschäft ist es nicht, Profit mit Finanzspekulation zu machen, mein Geschäft ist es, aus diesem Rohstoff hier, mehr zu machen und ihm Wert hinzuzufügen. Darum geht es. Erst wenn wir Argentinier das verstehen, wird es einen Wandel in diesem Land geben."
Eine Frau hält in einer Suppenküche in der Provinz Buenos Aires ein Kind im Arm. Die Armut ist in Argentinien weiter angestiegen.
Rund vier Millionen Menschen in Argentinien sind von Armut betroffen (Nicolas Villalobos/dpa)
Seine Werkhalle steht in San Martin, der Hauptstadt der mittelständischen Unternehmen. So nennt sich dieser Vorort im Westen von Buenos Aires stolz. 70 Prozent der Arbeitsplätze im Land stellen Mittelständler wie Norberto, doch seit Jahresbeginn machen pro Tag mehr als 40 Fabriken dicht. Norbertos Disneyland läuft derzeit nur auf 20 Prozent der Produktionskapazität, seine Angestellten verzichten auf einen Teil ihres Lohnes, die Hälfte seiner Werkhalle hat er vermietet – und das, obwohl er sich vor wenigen Jahren neuste Technologie aus China gekauft hat.
"2013 haben wir diese Maschine gekauft. Bis sie verschifft wurde, installiert war, war es 2015, und als ich sie gerade anschmeißen wollte, kam Macri."
Und damit änderten sich alle Regeln. Denn Norberto gehört zu denen, die von der protektionistischen Politik der Kirchner-Ära profitiert hatten: Es gab Subventionen auf Gas und Strom, Schutz vor Preisdumping, billige Kredite, der Konsum wurde angekurbelt. Macri dagegen strich Subventionen, öffnete die Märkte, deregulierte, während die Inflation weiter anstieg. Norberto zahlte von einem Monat auf den anderen dreimal so viel für Energie. Dann kamen die Billigimporte, und je weniger der Peso wert ist, umso schwieriger wird es für Norberto, seine Kredite in Dollar zurückzuzahlen.
"Die Industrie war in der Kirchner-Regierung die Prinzessin. Nun sind wir zur bösen Stiefmutter geworden, zum Bodensatz. Ich bin keine Heulsuse, ich brauche keine Subventionen und kein Glashaus. Was ich will, sind normale Konditionen und klare Regeln. So wie in andern Ländern auch. Wie soll ich mit China konkurrieren, wenn meine Nebenkosten explodieren, es keinerlei Zollschranken gibt und Kredite nur zu astronomischen Zinssätzen von 80 Prozent oder mehr zu haben sind. Wer soll da noch produzieren! Aber ich bin Industrieller, durch mein Blut fließt Hydrauliköl. Es gibt keine starke Wirtschaft, wenn die Industrie schwach ist."
Wer ist Alberto Fernandez?
"Laminación Paulista" wurde 2003 gegründet. Eine goldfarbene Metallplatte am Eingang erinnert an den Tag der Einweihung. Das rote Band zerschnitt damals der frisch gewählte Präsident Néstor Kirchner. Sein damaliger Kabinettschef soll es heute richten. Alberto Fernandez. Und alle fragen sich: Wer ist dieser Mann, der die Kirchner-Ära erst begleitet hat und sie dann kritisierte.
Die Medien scheut er nicht. Auch wenn jedes Interview mit der gleichen Frage beginnt, wie hier, bereits im Juni in America TV. Wer hat die Fäden in der Hand? Wer garantiert, dass am Schluss nicht doch wieder Cristina das Zepter übernimmt?
"Ich. Ich garantiere das. Und meine Geschichte. Ehrlich gesagt, ich verstehe euch nicht ganz. Als ich die Regierung von Cristina kritisiert habe und auf Distanz gegangen bin, hieß es: Wie mutig, wie standfest von Alberto Fernández. Und jetzt, so scheint es, habe ich mich in eine Marionette verwandelt?"
Eher gilt er als Strippenzieher: Alberto Fernández, 60 Jahre, markanter Schnauzer, Jurist und Dozent an der Universität von Buenos Aires. Ein Pragmatiker, kein Mann der Extreme, glaubt der Soziologe Juan Gabriel Tokatlian.
"Er ist ein Mann, den ich mehr in der Mitte verorten würde als im linken Lager. Ein Mann, der großes politisches Geschick bewiesen. Er versteht internationale Dynamiken und weiß, dass das die derzeitigen Konditionen für Argentinien alles andere als günstig sind. Für mich ist es ein Mann, der sehr viel mehr den Konsens und den Ausgleich sucht als die Konfrontation."

Fernández' Mantra ist das vom großen nationalen Dialog: mit sozialen Bewegungen, Industrie, Agrarsektor und Gewerkschaften. Gleichzeitig haben er und die ihm nahestehenden Ökonomen versöhnliche Signale an die Märkte ausgesendet. Sie wissen: Ein erneuter Default - ein erneuter Zahlungsausfall - käme Argentinien teuer zu stehen. Die große Frage ist: Zu wie viel Konsens sind die einzelnen Lager in der "Frente de Todos" bereit, im Fall, dass aus dem Wahlbündnis tatsächlich eine Regierungskoalition wird. Fest steht: Wer immer Argentiniens neuer Präsident wird, großen Spielraum hat er nicht, sagt der Ökonom Leandro Mora Alfonsin.
"Das Erbe, das die nächste Regierung aufgeladen bekommt, ist wirklich sehr schwer. Eine gefährlich hohe Inflation, Rezession, Defizit und einen enormen Schuldenberg. Dazu kommt: Anders als nach der Krise 2001, ist der globale Kontext heute alles andere als positiv für Argentinien. Da ist der Handelsstreit zwischen den USA und China, der auf die Rohstoffpreise drückt. Es gibt keine gemeinsame Linie im Mercosur, vor allem nicht mit unserem traditionell wichtigsten Partner Brasilien. Man muss die Präzision eines Chirurgen haben, große Kraft, viel Ruhe, damit Argentinien nicht in eine riesige Krise fällt."
Schon jetzt ist klar: Seine Schulden, sowohl mit dem Internationalen Währungsfonds als auch mit privaten Gläubigern, wird Argentinien nicht wie vorgesehen zurückzahlen können und stattdessen neu verhandeln müssen.
"Sie sagen uns, dass wir uns immer wieder über den selben Stein stolpern, aber sie sind der Stein, der uns stolpern lässt. Politik ist mehr ist als durch Coaching erlernte Diskurse. Politik erfordert, Verantwortung zu übernehmen."
Fernandez mit einer Botschaft an die Regierung. Es ist der 17. Oktober, zehn Tage vor der Wahl. Es ist der Tag, an dem vor fast 75 Jahren der Mythos des Peronismus als Volksbewegung begründet wurde. Die einen sagen, es ist die Lösung, andere halten ihn für den Untergang des Landes. Doch ohne Peronismus, wie auch immer er aussieht, ging es nie in Argentinien. Und das ist wahrscheinlich auch der größte Trumpf im Ärmel von Alberto Fernandez.
Präsidentschaftskandidat Alberto Fernández während einer Debatte am 21. Oktober in Buenos Aires.
Präsidentschaftskandidat Alberto Fernández während einer Debatte in Buenos Aires. (imago images/Agencia EFE)