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Argentinische Literatur
Krankhafte Sorge um das eigene Kind

Die argentinische Autorin Samanta Schweblin wurde durch Kurzgeschichten bekannt und gilt als eines der größten Talente der zeitgenössischen argentinischen Literatur. In ihrem neuen Buch "Das Gift" widmet sich die Schriftstellerin dem Thema der übertriebenen Sorge einer Mutter um das eigene Kind - eine Bedrohung, die schnell zur schmerzhaften Realität wird.

Von Wera Reusch |
    An welchem Punkt wird aus Vorsicht übertriebene Sorge? Was ist eingebildete und was reale Gefahr? Lässt sich tatsächliche Bedrohung überhaupt rechtzeitig erkennen? Das sind die Fragen, die sich die argentinische Autorin Samanta Schweblin in ihrem neuen Buch "Das Gift" stellt. Im Mittelpunkt stehen zwei Mütter und ihre Beziehungen zu ihren kleinen Kindern. Amanda ist mit ihrer Tochter Nina aufs Land gefahren. Sie hat ein Haus mit Swimmingpool gemietet, um dort die Ferien zu verbringen. Sie kann sich jedoch kaum entspannen, da sie überall Gefahren für ihr Kind vermutet:
    "Ich rechne ja immer mit dem Schlimmsten. Gerade überlege ich mir, wie lange es wohl dauert, aus dem Auto zu springen und zu Nina zu rennen, falls sie plötzlich zum Swimmingpool laufen und sich reinstürzen sollte. Ich nenne es Rettungsabstand, und damit meine ich diese flexible Entfernung, die mich von meiner Tochter trennt. Ich bringe den halben Tag damit zu, ihn immer wieder zu berechnen, obwohl ich dann trotzdem immer mehr riskiere, als ich eigentlich sollte."
    Amanda nimmt den Rettungsabstand als einen Faden zwischen sich und ihrer Tochter wahr – manchmal ist er etwas lockerer, meistens aber sehr straff gespannt. Eine Begegnung mit der Nachbarin Carla beunruhigt sie zusätzlich: Denn Carla berichtet, dass sich ihr Sohn David vor einigen Jahren vergiftete, als er mit Wasser aus einem Bach in Berührung kam. Eine traditionelle Heilerin habe ihn zwar vor dem Tod gerettet – seither verhalte sich der Junge jedoch merkwürdig. Aus ihrem Sonnenschein sei ein Monster geworden:
    "Das passiert hier, Amanda, wir leben hier auf dem Land, inmitten von Saatfeldern. Da erwischt es immer wieder mal einen, und wenn der dann überlebt, ist er hinterher ein bisschen komisch. Du siehst sie auf der Straße, und wenn du lernst, sie zu erkennen, bist du überrascht, wie viele es sind."
    Rekonstruktion von Ereignissen im Dialog
    Als Amanda feststellt, dass in der Gegend offenbar zahlreiche Kinder Missbildungen aufweisen, es viele Fehlgeburten gibt und Tiere grundlos sterben, will sie sofort abreisen. Doch ihre Erkenntnis kommt zu spät – die fürsorgliche Mutter, die überall Gefahren wittert, hat die eigentliche Bedrohung nicht rechtzeitig erkannt. Samanta Schweblin lässt Amanda die Ereignisse im Nachhinein rekonstruieren und zwar in Form eines Dialogs, der von einer zweiten Person unerbittlich vorangetrieben wird.
    "Wann hast du angefangen, diesen Rettungsabstand zu messen?
    Das habe ich von meiner Mutter geerbt. "Ich will dich um mich haben", hat sie immer zu mir gesagt. "Lass uns den Rettungsabstand einhalten."
    "Deine Mutter ist unwichtig, erzähl weiter."
    Gerade entferne ich mich vom Haus. Alles wird gut, denke ich, in der Gewissheit, dass mein Spaziergang nicht länger als circa zehn Minuten dauern wird. Nina schläft tief und fest, und sie kann auch alleine aufwachen und auf mich warten, so machen wir es zu Hause auch, wenn ich morgens schnell mal zum Einkaufen runtergehe. (…) "Früher oder später wird was Schlimmes passieren", hat meine Mutter immer gesagt, "und wenn es passiert, will ich dich um mich haben."
    "Deine Mutter ist nicht wichtig."
    Perfekte Dramaturgie einer Kurzgeschichte
    Die zweite Erzählstimme ist die von Carlas krankem Sohn David, der ständig mahnt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Das Gift", das im Original übrigens "Rettungsabstand" heißt, ist raffiniert gebaut: Indem David Amanda über mehr als 100 Seiten drängt, sich an jedes Detail zu erinnern, um den exakten Moment zu ergründen, in dem ihre Sicherheitsmaßnahmen versagten und der Faden riss, steigert Schweblin die Spannung ins nahezu Unerträgliche. Und hat man das schmale Buch ausgelesen, ist der erste Impuls, wieder von vorne zu beginnen, um mit dem Wissen, wie es endet, die Geschichte noch einmal nachzuvollziehen.
    Die 1978 in Buenos Aires geborene Autorin hat in ihren Erzählbänden bewiesen, dass sie die Dramaturgie der Kurzgeschichte perfekt beherrscht. Auch ihr neues Buch "Das Gift", das der Verlag Roman nennt, das aber eine Novelle ist, überzeugt durch handwerkliche Präzision, sprachliche Klarheit, erzählerische Ökonomie und ein sicheres Gespür für das Timing einer Geschichte.
    Schweblin ist keine realistische Erzählerin im engeren Sinne, sie in das Genre fantastische Literatur oder Horror einzuordnen, trifft die Sache jedoch ebenfalls nicht. Sie bewegt sich vielmehr genau auf der Grenze zwischen Fantastischem und Realem: Das Gift, das in der ländlichen Idylle lauert, ist nicht nur eine Metapher für das Unheil, das jeden Augenblick losbrechen kann. Schweblins Novelle hat vielmehr einen durch und durch realistischen Kern: Denn seit Argentinien vor allem auf den Export von genmanipuliertem Soja setzt, wird dort massenhaft hochgiftiges Unkrautvernichtungsmittel eingesetzt, was dazu geführt hat, dass sich auf dem Land Krebserkrankungen, Fehlgeburten und Missbildungen häufen. Die Fragen, die Samanta Schweblin aufwirft, sind daher höchst politisch: Die Realität hat die Fantasie längst eingeholt.
    Samanta Schweblin: Das Gift
    Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 127 Seiten, 16,95 Euro