Freitag, 19. April 2024

Archiv

Armenier in Anatolien
Islamisierte Christen

Christen im Osten der Türkei geraten immer wieder zwischen die kurdisch-türkischen Fronten. Ein Symbol dafür: die Zerstörung der Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir. Ein normales Gemeindeleben ist seitdem nicht mehr möglich. Obwohl Anatolien einst Kerngebiet der armenischen Christen war.

Von Susanne Güsten | 18.02.2019
    Blick in die St. Giragos Armenian Church in Diyarbakir in der Türkei.
    Die armenische Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir - vor drei Jahren wurde sie wieder zerstört (Imago/Westend61)
    Festgottesdienst in der armenischen Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir, und die Gäste sind von nah und fern gekommen. Armenier aus Anatolien, aus Armenien und aus Amerika feiern im Jahr 2011 die Einweihung nach einer mehrjährigen Restaurierung. Es ist der erste Gottesdienst in dieser Kirche seit 25 Jahren. Gafur Türkay vom Kirchenvorstand ist sieben Jahre später noch immer stolz auf diese Restaurierung:
    "Wir haben im Jahr 2008 den Kirchenvorstand gegründet, und unser erster Beschluss war es, die Kirche zu restaurieren. 560 Wagenladungen Schutt und Erde haben wir herausgeholt, nur um die Ruine freizulegen. Das war ein gewaltiges Stück Arbeit. Die Restaurierung hat dann drei oder vier Jahre gedauert und zweieinhalb Millionen Dollar gekostet. Mit einer halben Million hat uns die damalige kurdische Stadtverwaltung unterstützt, alles andere haben wir aus Spenden von Armeniern in aller Welt selbst aufgebracht."
    Surp Giragos - bedeutend für Armenier in aller Welt
    Ursprünglich im Jahr 1376 errichtet, ist Surp Giragos die größte armenische Kirche im Nahen Osten. Sie hat Bedeutung für Armenier in aller Welt, weit über die winzige Gemeinde hinaus, die heute noch in Diyarbakir lebt. Schließlich war die Stadt jahrtausendelang ein Zentrum armenischen Lebens, sagt Türkay:
    "Wir Armenier betrachten Diyarbakir als armenische Stadt. Bei uns heißt sie Dikranagerd, nach dem armenischen König Tigran dem Großen, der im ersten Jahrhundert vor Christus hier herrschte. Die Armenier stellten noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mehrheit in dieser Stadt – fast 60 Prozent der Bevölkerung. Neun von zehn Goldschmieden in Diyarbakir waren damals in der Hand von Armeniern; die Seidenproduktion, der Handel und das Handwerk waren alle in armenischer Hand."
    Noch heute wachsen in Diyarbakir die Maulbeerbäume, die einst von den Armeniern für ihre Seidenraupen gepflanzt wurden. Die Armenier von damals sind aber fort – umgekommen im Völkermord von 1915, der in Diyarbakir besonders grausam vollstreckt wurde.
    "Der Gouverneur von Diyarbakir war Mehmet Resit, eines der härtesten Mitglieder der osmanischen Führung, und er hat alle Armenier der Stadt umbringen lassen. Sogar Armenier aus anderen Teilen Anatoliens, die in Umsiedlungszügen an Diyarbakir vorbei getrieben wurden, hat er töten lassen."
    Als "Schlächter von Diyarbakir" ging der Gouverneur in die Geschichte ein. Und dennoch hielten die Armenier an Diyarbakir fest, erzählt Türkay:
    "Weil diese Stadt so ein bedeutendes Zentrum für die Armenier ist, sind nach dem Völkermord vereinzelte überlebende Armenier aus den umliegenden Provinzen nach Diyarbakir gekommen. Als 1923 die Türkische Republik gegründet wurde, gab es trotz allem wieder 400 armenische Familien in Diyarbakir. Die Armenier versuchten hier weiterzuleben."
    Völkermord, Kurdenkrieg und Repressalien
    Leicht wurde es ihnen nicht gemacht, weder von den Behörden der Türkischen Republik noch von der kurdischen Bevölkerung, inzwischen die Mehrheit in Diyarbakir. Eine Sondersteuer, die Ankara in den 1940er-Jahren auf den Besitz aller nicht-muslimischen Bürger erhob, ruinierte viele Armenier von Diyarbakir und zwang sie zur Auswanderung. Eine nächste Fluchtwelle dann in den 50er- und 60er-Jahren: Die meisten verbliebenen Armenier mussten fliehen, als Ausschreitungen gegen Griechen in Istanbul von der Bevölkerung in Diyarbakir als Vorwand genutzt wurden, sie anzugreifen und ihren Besitz zu plündern. Mitte der 70er-Jahre waren nur noch 15 bis 20 armenische Familien in Diyarbakir, erzählt Gafur Türkay, aber die Surp-Giragos-Kirche blieb offen.
    "Es gab einen Priester, es gab regelmäßig Gottesdienst, es gab armenisches Leben hier. Bis in den 80er-Jahren der Kurdenkrieg ausbrach – da mussten die Armenier fliehen. Damals blieben nur noch zwei oder drei armenische Familien hier, aber die versteckten sich und verbargen ihre Identität."
    Gafur Türkay vom Vorstand der Kirchenstiftung im Hof der St.-Giragos-Kirche in Diyarbakir (Türkei), aufgenommen am 22. März 2015
    Gafur Türkay im Hof der Surp-Giragos-Kirche im Jahr 2015 (dpa/ Can Merey)
    Damals floh auch der letzte Priester. Die Surp-Giragos-Kirche verwahrloste und verfiel. Das Flachdach stürzte ein, und irgendwann stand nur noch das Skelett. Erst 20 Jahre später, als die Kämpfe abgeklungen waren und sich eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts abzeichnete, fassten sich einige armenische Rückkehrer ein Herz und gründeten einen neuen Kirchenvorstand, um Surp Giragos zu restaurieren. Zum krönenden Abschluss setzten sie einen neuen Glockenturm darauf – den ersten Glockenturm seit fast hundert Jahren, wie Türkay erzählt:
    "Der ursprüngliche Glockenturm wurde 1914 vom Blitz zerstört, und die Gemeinde ließ damals einen neuen Turm bauen, einen besonders schönen, im russischen Stil und etwas größer als vorher. 1916, nach dem Völkermord, ordneten die türkischen Behörden an, den Glockenturm abzureißen, weil er höher sei als die Minarette der Stadt. Die Artillerie hat ihn eine Woche lang beschossen, bis er einstürzte."
    Wiedereröffnung der Kirche brachte neuen Schwung
    Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert erklangen deshalb die Glocken von Surp Giragos, als der neue Turm im Herbst 2012 eingeweiht wurde. Ein Signal der Hoffnung und des Aufbruchs war das für die Armenier von Diyarbakir, erzählt Türkay:
    "Wir haben Gottesdienste gefeiert, die ersten Gottesdienste hier seit den 80er-Jahren. Wir haben Ostern gefeiert, erstmals seit Jahrzehnten, und die ersten kirchlichen Hochzeiten seit Jahrzehnten. Wir haben Taufen gehabt in der Kirche, viele Taufen, aber das waren keine Kinder - das waren erwachsene, islamisierte Armenier, die zum Christentum zurückkehrten und zu ihrer Identität als Armenier."
    Denn offiziell ist die Zahl armenischer Christen in Diyarbakir noch immer verschwindend gering – nicht mehr als 25 oder 30 Menschen in der Millionenstadt sind amtlich als christliche Armenier registriert. Die meisten Armenier von Diyarbakir tragen den Vermerk "Muslim" im Personalausweis und sind Nachkommen von islamisierten Überlebenden des Völkermordes, sagt Türkay.
    "Nicht alle bekennen sich zu ihrer armenischen Herkunft. Manche bleiben aus Überzeugung beim Islam. Andere haben einfach Angst, sich als Armenier zu outen – sie fürchten noch immer, dass ihnen etwas zustoßen könnte, wenn sie sagen, dass sie Armenier sind. Aber es gibt inzwischen auch viele Armenier hier, die sich dazu bekennen."
    Die Surp-Giragos-Kirche spielte eine entscheidende Rolle bei dieser Renaissance armenischen Lebens in Diyarbakir, erzählt Türkay:
    "Die Restaurierung der Kirche war dafür ganz wichtig. Das fiel ja in die Zeit des kurdischen Friedensprozesses in der Türkei, damals wurde alles einfacher. Es gab keine Anschläge mehr, keine Kämpfe, es war ruhig und friedlich. Und dann hat die wieder eröffnete Kirche großen Schwung in die Gemeinde gebracht. Da kamen auf einmal Menschen zur Kirche, die es noch nie gewagt hatten, sich zu ihrer armenischen Herkunft zu bekennen. Es gab damals ein wahres Aufatmen."
    Stadtviertel wieder verwüstet
    Damit ist es vorbei, seit vor drei Jahren wieder Krieg ausbrach in Diyarbakir. Monatelang tobten die Kämpfe zwischen kurdischen Milizen und türkischen Einheiten im Winter 2015/16 in der Altstadt von Diyarbakir. Als sie vorbei waren, lag die Surp-Giragos-Kirche wieder in Trümmern. Das verwüstete Stadtviertel ist bis heute abgesperrt. Gafur Türkay hat die Kirche nur noch ein einziges Mal gesehen. Mit einer Sondergenehmigung durfte er sie besuchen.
    "Es war ein furchtbarer Schlag, die Kirche zu sehen – sie ist völlig verwüstet und zerstört. Der Anblick hat mich niedergeschmettert. Von unserem ganzen Stadtviertel ist nichts mehr übrig, und die Kirche ist nur noch eine Ruine."
    Seither ist es vorbei mit der armenischen Renaissance in Diyarbakir.
    "Seit den Kämpfen haben wir kein armenisches Gemeindeleben mehr - keine Veranstaltungen, keine Treffen und keine Gottesdienste. Alles ist gestoppt, denn wir haben keinen Ort mehr dafür."
    Sogar enteignet wurde die Kirche nach den Kämpfen vor drei Jahren. Die türkische Regierung verstaatlichte damals kurzerhand das ganze verwüstete Altstadtviertel, um es abzureißen und eine Neubausiedlung darauf zu errichten. Der Kirchenvorstand klagte gegen die Enteignung und bekam vom Verwaltungsgerichtshof recht.
    "Aber nun muss die Kirche wieder restauriert werden, und wir haben einfach kein Geld mehr dafür. Deshalb bemühen wir uns seit zwei Jahren darum, dass der Staat das übernimmt."
    Die türkische Regierung sagte der Gemeinde nun zu, die Restaurierung zu bezahlen. Allerdings soll der Wiederaufbau unter staatlicher Federführung geschehen, weshalb der Kirchenvorstand sich um die Ausführung sorgt und die Behörden gebeten hat, ihn zumindest beratend in die Planung einzubeziehen. Vor allem ist noch völlig offen, wann der Wiederaufbau beginnt und wann die Kirche wieder genutzt werden kann. Für die Armenier von Diyarbakir drängt die Zeit, sagt Gafur Türkay:
    "Es ist schwer für eine Gemeinde ohne Kirche. Wenn die Surp-Giragos-Kirche wiedereröffnet wird, dann können wir wieder zusammenkommen. Wir leben ja weiter hier, aber wir brauchen diese Kirche, um Gemeinde sein zu können."