Mittwoch, 24. April 2024

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Christen in Istanbul
Die Reste von Konstantinopel

Istanbul hieß früher Konstantinopel und davor Byzantion oder auch Byzanz. Es war mehr als 2000 Jahre lang griechisch geprägt. Heute gibt es noch 70 griechisch-orthodoxe Kirchen in Istanbul. Doch ihnen gehen die Priester aus, denn in der immer mehr am Islam ausrichteten Türkei sinkt auch die Zahl der Christen.

Von Susanne Güsten | 12.01.2018
    Bauarbeiten an der Evangelistria-Kirche im Istanbuler Stadtteil Dolapdere im Jahr 2009. Mittlerweile fehle für notwendige Reparaturen das Geld, so Pater Dositheos.
    Düstere Zeiten für die Evangelistria-Kirche im Istanbuler Stadtteil Dolapdere (Bulent Kilic / AFP)
    Ein echtes Glasscherbenviertel ist der Istanbuler Stadtteil Dolapdere heutzutage, mit eingeschlagenen Scheiben und leeren Fensterhöhlen in den niedrigen alten Häusern. Die längst verlassenen Geschäfte sind fest verrammelt. Nur die Müllhaufen an den Straßenecken und die Wäscheleinen über den Gassen zeugen davon, dass hier überhaupt noch Menschen leben. Aus dem Gassengewirr erhebt sich völlig unvermittelt die gewaltige Evangelistria-Kirche mit zwei massiven Glockentürmen und einer Kuppel im byzantinischen Stil.
    Nur auf Knopfdruck von Mihail, dem Kirchenwächter und Gärtner, öffnet sich das schmiedeeiserne Tor zum Vorhof der Kirche, wo gepflegte Sträucher grünen und die Marmorstufen leuchtend weiß geputzt sind.
    Viele orthodoxe Christen sind weggezogen
    Im Gemeindesaal neben dem Hauptschiff bereitet Marie das Gebäck vor, das nach dem Gottesdienst zum Tee gereicht werden soll. 70 Jahre alt ist die Gemeindehelferin, und sie kann sich an bessere Zeiten in Dolapdere erinnern.
    "In meiner Kindheit war das hier ein feines Stadtviertel. Hier wohnten vorwiegend Griechen und Armenier. Alle hatten immer die Türen offen, und es wurde gelacht und geratscht. So war das damals. Jetzt leben hier nur Kurden und Zigeuner, und wir können kaum noch raus. Abends fürchtet man sich auf dem Heimweg, denn die reißen dir die Tasche weg und du kannst dich nicht wehren – es ist deine Tasche oder dein Leben. Was soll man machen?"
    Vor dem Tor hat inzwischen eine Polizeiwache ihren Posten bezogen, wie sie es an jedem Sonntag tut, um den Gottesdienst zu schützen. Prozessionen durch die Nachbarschaft kann die Gemeinde schon lange nicht mehr zelebrieren. Von den orthodoxen Christen, die hier einst lebten, sind die allermeisten seit Jahrzehnten schon weggezogen. Kirchenwächter Mihail ist einer der wenigen, die geblieben sind. Er bereut es nicht.
    "Diejenigen, die gegangen sind, denen brennt das Herz doch noch immer nach Istanbul. Selbst nach 50 oder 60 Jahren sind sie noch immer mit dem halben Herzen hier. Vielen blieb ja nichts anderes übrig, weil sie oder ihre Angehörigen ausgewiesen wurden. Aber sie gingen weinend, und ihre Erinnerungen, ihre Geschichte, ihr Leben ließen sie in Istanbul zurück."
    Erste Trauung seit Jahrzehnten
    Im Vorhof ist nun auch der Pfarrer der Gemeinde eingetroffen. Pater Dositheos zählte einst auch zu jenen, die gingen: 1968 verließ er die Türkei, weil es für einen jungen Angehörigen der griechischen Minderheit dort keine Zukunft mehr gab. Ein ganzes Arbeitsleben hat er in Deutschland verbracht, als Chemiker in der Pharmaindustrie. Doch nach der Pensionierung in Wiesbaden zog es ihn zurück in seine Geburtsstadt, wo er sich in den Dienst des orthodoxen Patriarchats stellte und die Priesterweihe nahm. Inzwischen 75 Jahre alt, kann auch er sich an andere Zeiten in Dolapdere erinnern – vor allem zum Fest von Mariä Verkündigung, der die Kirche mit ihrer wichtigsten Ikone gewidmet ist.
    "Als ich zwölf Jahre alt war und meine Eltern mich hier zum Gottesdienst brachten, da standen hier draußen dreitausend bis viertausend Menschen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen – eine Schlange, die warteten von da unten bis dahin, um der Ikone die Ehre zu erweisen und eine Kerze anzuzünden. Diese Schlange von Menschen begann morgens um fünf oder sechs, abends um sechs waren sie vielleicht fertig – vielleicht!"
    Heute hat die Gemeinde noch ganze 17 Mitglieder verzeichnet – einschließlich einer 96-Jährigen, die nicht mehr aus dem Haus kann. Nicht alle Gemeindemitglieder sind ganz so alt, erzählt Pater Dositheos beim Eintreten in die Kirche.
    "Wir haben vor einigen Wochen hier eine Trauung gehabt, es war die erste seit 1978. Von 1978 bis 2017 gab es hier keine Trauung - und auch keine Taufe. Wir erwarten jetzt die Taufe."
    Eine Frage der Existenz
    Den Abstieg der Gemeinde hat der Pater dennoch nicht aufhalten können, sie ist auch seit seinem Amtsantritt in der Kirche vor zwölf Jahren weiter geschwunden – von damals 20 Gottesdienstbesuchern am Sonntag auf heute maximal elf oder zwölf, die sich in der riesigen Kirche fast verlieren. Pater Dositheos legt den Kopf in den Nacken, um die Fresken hoch oben in der Kuppel zu zeigen.
    "Hier die Cherubim und Seraphim."
    Leicht angefressen sind die Seraphime von der Zeit und der Feuchtigkeit.
    "Sie sehen, die Kirche ist auch reparaturbedürftig, aber mit welchem Geld? Die byzantinische Verarbeitung der Decke, wie sie hier gemacht ist, ist eine sehr teure Sache. Wer das machen soll und mit welchem Geld, das weiß ich auch nicht."
    Um die 70 solcher Kirchen betreibt das Patriarchat von Konstantinopel noch in Istanbul. Eine gewaltige Anstrengung ist das, denn das Patriarchat hat kaum mehr als 30 Priester und muss die Lücken manchmal mit freiwilligen Helfern aus Griechenland schließen. Warum diese Anstrengung für eine Gemeinde, die in ganz Istanbul nur noch 2000 Seelen zählt? Das ist eine Frage der Existenz, sagt Pater Dositheos:
    "Wenn wir anfangen würden, Kirchen zu schließen, dann würden wir vermitteln: Wir sind am Ende. Das wollen wir vermeiden. Wir sind nicht am Ende. Das zweite ist: Was passiert mit einer geschlossenen Kirche, was macht die örtliche Regierung damit? Das heißt, die Kirchen müssen Kirchen bleiben bis zum Ende."
    Dieses Ende scheint absehbar: Von den 2000 verbliebenen orthodoxen Griechen von Konstantinopel sind zwei Drittel über 50 Jahre alt. Doch nun ist es Zeit zum Gottesdienst, sagt der Priester. "Ich muss mich nur noch umziehen."
    Die jungen Leute bleiben aus
    Vier Frauen sitzen anfangs in der großen Kirche, doch im Laufe des Gottesdienstes öffnen sich die Flügeltüren noch in paar Mal, um verspätete Besucher einzulassen.
    Ein kleines Kind macht lautstark auf sich aufmerksam. Es läuft zu den Kerzen, um sie auszupusten. Der Vater fängt den Jungen ein und trägt ihn hinaus in den Vorraum. Also doch Nachwuchs in Dolapdere? Nein, sagt Nikolai, der junge Vater: Er kommt aus einem anderen Stadtteil zum Gottesdienst hierher.
    "Weil es hier im Viertel keine jungen Leute mehr gibt, die den Kirchenvorstand übernehmen könnten, haben mein Bruder und ich uns dazu bereit erklärt, damit die Kirche nicht herrenlos wird. Wir sind ja nur noch wenige junge Leute hier, weil die meisten ins Ausland gehen. Deshalb sind nun wir für den Erhalt der Kirche, unserer Kultur und unserer Werte verantwortlich."
    Sorge um die Zukunft des Landes
    Der kleine Leon ist inzwischen von seiner Mutter Maria im Kinderwagen verstaut worden. Wird er eines Tags den Stab von seinem Vater übernehmen und die griechische Kultur in Konstantinopel fortführen? Nikolai seufzt:
    "Also, ganz offen gestanden, sehe ich die Zukunft meines Kindes nicht in der Türkei. Nicht aus Religionsgründen, da haben wir keine Probleme. Aber die Zukunft dieses Landes ist ungewiss - das ist unsere Sorge. Sehen sie mal, selbst die Türken haben keine Zuversicht mehr in die Zukunft der Türkei. Wir Griechen und Armenier haben zumindest den einen Vorteil, dass es für uns leichter ist, nach Europa auszuwandern. Ich denke, dass ich diesen Vorteil für meinen Sohn nutzen werde."