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Armut
Auf den Spuren der Pfandsammler

Pfandsammler sind nicht mehr wegzudenken aus dem Stadtbild. Wer aber sind diese Menschen und welche Motive treiben sie an die Mülleimer? Der Soziologe Sebastian Jan Moser hat seine Erfahrungen aus vielen Jahren Feldforschug in seinem Buch "Pfandsammler – Erkundungen einer urbanen Sozialfigur" zusammengefasst.

Von Mirko Smiljanic | 31.03.2014
    Ein Einkaufswagen mit leeren Bierflaschen steht an einer Wiese in Hannover.
    Man sieht sie immer wieder: Flaschensammler profitieren von der Wegwerfgesellschaft (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Es sind seltene Glücksfälle, wenn Wissenschaftler Forschungsfelder finden, die vor ihnen noch niemand bearbeitet hat. Sebastian Jan Moser, Soziologe am Centre Max Weber in Lyon, hatte dieses Glück - genau genommen fand er sein Thema auf den Straßen von Freiburg, wo er von 2006 an seine Promotion über Menschen schrieb, die suchen, was andere wegwerfen: leere Flaschen und Dosen, für die Supermärkte acht, 15 oder 25 Cent Pfand erstatten.
    Dass sich dieses Geschäftsmodell etablieren konnte, hatte zwei Gründe: 2003 führte der Gesetzgeber das Pflichtpfand auf Einweggetränkeverpackungen ein. Und 2006 sorgte die EU dafür, dass Supermärkte nicht nur die bei ihnen gekauften, sondern alle leeren Einwegflaschen zurücknehmen müssen. Damit hatten Sammler freie Bahn, zumal die geringen Pfandbeträge für immer weniger Käufer Anreiz waren, ihre "Gebinde" – so heißen die Flaschen und Dosen im Fachjargon – selbst einzutauschen. Bei der Planung seiner Studie stand Moser allerdings vor dem Problem, dass der Pfandsammlermarkt sich gerade erst entwickelte. Eine repräsentative Analyse kam deshalb nicht in Betracht, eher schon eine klassische Feldstudie.
    "Und deswegen habe ich in den zweieinhalb Jahren, in denen ich Feldforschung betrieben habe, alles mitgenommen, was ich kriegen konnte. Egal in welcher deutschen Stadt ich mich zu der Zeit aufgehalten habe, habe ich sowohl beobachtet, als auch versucht, mit den Menschen zu sprechen. Dabei habe ich nicht ausgewählt, sondern die Auswahl hat dann erst später bei der Analyse stattgefunden."
    20 bis 30 Pfandsammler, sagt Sebastian Jan Moser, habe er mit verstecktem Mikrofon interviewt. Einige nur wenige Minuten, andere bis zu zwei Stunden. Alte und junge waren dabei, Frauen und Männer, Obdachlose und Langzeitarbeitslose. Alle befanden sich in finanziell prekären Situationen, alle wollten im Rahmen dieser "informellen Ökonomie" etwas Geld hinzuverdienen. Die Betonung liegt auf "etwas", reich wurde und wird mit Pfandsammeln niemand.
    "Also wenn ich manchma auf drei, vier Euro komme am Tag. Dann is das schon groß," zitiert Moser einen Sammler. Andere verdienten zwar durchschnittlich 100 bis 200 Euro pro Monat, mehr sei kaum möglich: Das Pfand pro Flasche sei zu niedrig - die Flasche entweder zu sperrig oder zu schwer.
    "Wenn Thomas zum Beispiel sagt, dass er am Wochenende auf 20 Euro pro Nacht kommt, dann entspricht dies, nur in Bierflaschen, einer Anzahl von 250 à acht Cent und einem Gewicht von 62,5 Kilogramm, die er in einer Nacht aus den Abfalleimern der Stadt zusammensucht."
    Moser beschäftigt sich zunächst mit der Phänomenologie des Sammelns, mit der Geschichte des Pfandes und mit den Motiven der Sammler. Warum, fragt er, gehen immer mehr Männer und Frauen einer körperlich anstrengenden, finanziell aber nicht sonderlich lukrativen Arbeit nach?
    Weil es Arbeit ist! Dies ist eine erstaunliche Erkenntnis: Pfandsammler sehen sich als Teil der arbeitenden Bevölkerung, auf keinen Fall möchten sie als Schmarotzer angesehen werden.
    "Die bezeichnen einen auch manchmal als asozial, als Penner, als Schmarotzer, nich. Hört man sowas manchmal."
    Ein Mann sucht in der Düsseldorfer Innenstadt in einem Mülleimer nach verwertbarem Material.
    Ein Mann sucht in der Düsseldorfer Innenstadt in einem Mülleimer nach verwertbarem Material. (picture alliance / dpa)
    Geld ist nicht die Hauptmotivation
    Pfandsammler betreiben ein Geschäft, das viel Energie und eine ausgefeilte Logistik erfordert. Sie entwickeln Strategien, um anderen Sammlern nicht ins Gehege zu kommen; sie brauchen Zwischenlager für die gesammelten Flaschen; und schließlich müssen sie ihre Beute zum Supermarkt bringen – immer beobachtet von einer teilweise misstrauischen Öffentlichkeit.
    Wenn Geld beim Pfandsammeln nur eine Nebenrolle spielt, worin genau liegt dann aber der Gewinn? Schon der Zwang, die Wohnung zu verlassen und nach draußen zu gehen - und seien die Bedingungen noch so unwirtlich - empfinden Pfandsammler als befreiend. Eine Sammlerin erzählt zum Beispiel.
    "Es ist nur so, ähm, ich muss sowieso laufen. Wegen meiner Füße. Der Doktor sagt, ich muss laufen. Nicht immer daheim sitzen."
    Die Sozialforschung konzentriere sich beim Blick auf Menschen in prekären Situationen zu sehr auf fehlende finanzielle Spielräume, sagt Moser, häufig sei die damit einhergehende Einsamkeit, der Ausschluss von gesellschaftlichem und kulturellem Leben, weit belastender. Pfandsammler entkommen dieser Einsamkeit zumindest teilweise, weil sie eine Aufgabe haben.
    "Und so ist das Pfandsammeln dann eine selbstgeschaffene, eine autonom geschaffene Möglichkeit, eben Struktur zu haben, rauszukommen, in Kontakt zu kommen potenziell auch mit anderen Menschen, kurzen Austausch auf der Straße zu haben, das kleine Pläuschchen, was vielleicht den Alltag erfreulich macht, das alles bringt unter anderem auch diese Tätigkeit mit sich."
    Auch das Phänomen Sammeln wird behandelt
    Das Buch "Pfandsammler - Erkundungen einer urbanen Sozialfigur" wäre unvollständig, würde es nicht auch thematische Ränder behandeln: die Soziologie von Abfall und Schmutz; Vergleiche von Pfandsammlern mit Lumpen-, Ähren- und Raffholzsammlern; bis hin zur Frage, was denn eigentlich das Handlungsmuster "Sammeln" ausmacht.
    Sammeln ist neben dem Jagen die erste gezielte Anstrengung des Menschen, mit der er sein Leben sicherte. Diese Funktion hat es heute verloren. Sammler sind wir aber immer noch. Auf der einen Seite stehen Menschen, die für viele Millionen Euro Kunst anhäufen, auf der anderen Pfandsammler, die "dann aber vielleicht zwei Euro fünfzig pro Tag nur damit verdienen. Dnn sind die Verhältnisse aus dem Ruder gelaufen, weil zwischen unten und oben eine so große Spanne ist, die letztendlich überhaupt nicht mehr überbrückbar ist."
    Womit Sebastian Jan Moser einen weiten Bogen schlägt vom armen aber leistungsbereiten Hartz-IV-Empfänger zur Frage, wie der Reichtum dieser Welt gerecht verteilt werden kann. "Pfandsammler - Erkundungen einer urbanen Sozialfigur" ist ein erhellendes Buch. Stilistisch in lesbarem Soziologendeutsch geschrieben, führt es durch Rückbezüge in die unbekannte Welt der Pfandsammler. Wer es gelesen hat, geht mit anderen Augen durch Bahnhöfe und Fußgängerzonen.
    Sebastian Jan Moser: "Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur."
    Hamburger Edition, 270 Seiten, 22,00 Euro.