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Armut in Deutschland
Die Scham, wenn einem der Strom abgestellt wird

"Was ich hier am Schreibtisch für Schicksale höre, da wird einem wirklich ganz traurig ums Herz." Mehr als 350.000 Haushalte in einem Jahr waren laut einer Erhebung der Bundesnetzagentur vorübergehend ohne Strom, sechs Millionen Menschen waren von einer Sperrung bedroht. Und selbst von ihnen wollen nur wenige öffentlich reden - aus Scham.

Von Petra Ensminger |
    Ein Mann steckt in Berlin einen Stecker in eine Steckerleiste.
    Wer seine Stromrechnung nicht bezahlen kann, sollte sich rechtzeitig Hilfe holen, raten Verbraucherzentalen. Denn nach einer Sperrung fallen weitere Gebühren für die Freischaltung an. (dpa)
    "Ok, das ist jetzt die Bestätigung der Versorgung, da ist jetzt angekündigt eben für Strom werden 44 Euro veranschlagt."
    Martina Wagner ist Energieberaterin in Aachen, graue mittellange Haare, Brille, sie sitzt an einem ovalen Tisch, vor ihr zwei roten Stühle, auf einem hat ein Kunde Platz genommen. Er ist Anfang vierzig, dunklerer Hauttyp, schwarze, kurz geschnittene Haare, ein halbes Jahr hat er ohne Strom gelebt:
    "Die letzten Monate haben mir doch stark zugesetzt, man kann sich nicht waschen, duschen, pflegen, kochen. Man ist psychisch sehr belastet in dem Zustand dann auch. Also, man sieht keine Auswege, man weiß nicht, wo man hingehen soll."
    Vor allem Hartz-IV-Empfänger können Stromrechnung nicht zahlen
    Kaum ein Betroffener mag öffentlich erzählen, wie es ist ohne Strom, zu groß die Scham. Auch er möchte seinen richtigen Namen nicht im Radio hören. Aber immerhin ist er bereit zu erzählen: Er lebt getrennt, hat zwei Kinder, die ihn eigentlich an den Wochenenden besuchen kommen. Eigentlich - in Zeiten der Stromsperre war auch das ein Problem:
    "Ich meine, ich kann das wahrscheinlich ein bisschen aushalten, aber die Kinder, die sind halt eben jung – eine ist vier und der andere ist neun und da kann man das nicht zumuten ohne Strom oder Warmwasser. Das ist nicht machbar."
    Der Strom fließt inzwischen wieder, auch Dank der Vermittlung von Monika Wagner. Sie spricht auf ein Grundproblem an: Vor allem Empfänger von Sozialleistungen sind es, die irgendwann die Rechnung nicht mehr bezahlen können. Seit diesem Jahr beträgt der Regelsatz für Arbeitslosengeld-II-Empfänger monatlich 409 Euro, darin einkalkuliert auch ein Betrag, mit dem die Stromrechnung bezahlt werden soll. Der allerdings, auch nach Berechnung der Verbraucherzentrale, zu niedrig angesetzt ist.
    "Der Haushaltsstrom ist im Grundbedarf mit drin, das heißt also etwas mehr als 30 Euro, aber da muss man schon extrem sparsam sein, das schaffen fast nur Leute, die auch tagsüber nicht zu Hause sind, mit 30 Euro monatlicher Pauschale hinzukommen."
    Lücke zwischen errechnetem und tätsächlichem Bedarf
    Eine Lücke also zwischen dem tatsächlichen und dem vom Staat bemessenen Bedarf. Eine Lücke, die durch weiter steigende Energiepreise sicher auch noch größer wird. Dabei ist die Zahl der Sperrungen schon hoch: Mehr als 350.000 Haushalte waren nach den jüngsten Daten der Bundesnetzagentur im Jahr 2014 vorübergehend ohne Strom, und immerhin sechs Millionen Haushalte waren von einer Sperrung bedroht. Zahlen hinter denen sich ganz unterschiedliche Schicksale verbergen.
    Eine 70er-Jahre-Siedlung im Stadtteil Krefeld-Oppum, Maria Friedrich – auch sie möchte nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden – steht in der Tür einer Dreizimmerwohnung.
    Die junge Frau führt ins Wohnzimmer, ihr kleiner Sohn krabbelt vergnügt auf dem Sofa herum. Er hat ein paar Bauklötzchen entdeckt.
    "Die Mama wollte eigentlich gar nicht mehr, dass du mit den Dingern spielst. Jetzt hast du sie doch wieder gekriegt, ne?"
    Sechs Millionen Haushalte von Sperrung bedroht
    Maria Friedrich arbeitet wegen des Kindes nicht, ihr Mann ist noch in der Ausbildung, da heißt es rechnen. Die Sperre drohte, nachdem eine heftige Nachzahlungsaufforderung des Stromanbieters ins Haus geflattert kam. Vom Zwei- zum Dreipersonenhaushalt, das hatten sie im Blick, aber knapp 800 Euro Nachzahlung?
    "Klar, natürlich, mehr Wäsche. Das sieht man ja auch und das merkt man auch, wenn man mehr wäscht. Aber man denkt einfach nicht dran, dass das so viel dann im Endeffekt ist. Wir haben halt die Wäsche für den Kleinen auch gerade getrocknet, der Kleine musste gebadet werden – unser Warmwasser wird auch über den Strom erzeugt, und auch das hat sich bemerkbar gemacht. Man hat halt einfach nicht gedacht, dass das doch alles so viel ist. Und das hat uns dann jetzt doch geschockt, als wir die Rechnung gekriegt haben."
    Die Sperre konnte abgewendet werden. Der Wäschetrockner läuft jetzt weniger, die dicke Nachzahlung soll in Raten abgezahlt werden.
    Nordrhein-Westfalen besonders betroffen
    Auch in Maria Friedrichs Fall half eine Energieberaterin zu vermitteln. Petra Boer arbeitet in der Verbraucherzentrale Krefeld, im Rahmen des vom Land Nordrhein-Westfalen geförderten Modellprojekts "NRW gegen Energiearmut”. Der Strukturwandel hat in den Ruhrgebietsstädten viele zurück gelassen, das Land nimmt einen Spitzenplatz bei der Zahl der Stromsperren ein. Petra Boer hat schon viele Geschichten gehört. Das gehört zum Job: Lösungen finden, vermitteln, zuhören.
    "Ich muss aus meiner Beratungspraxis sagen, was ich hier am Schreibtisch für Schicksale höre, da wird einem wirklich ganz traurig ums Herz. Und wer nicht bezahlen kann, dem ist das auch schamhaft. Der schämt sich auch, den Mitarbeitern der Stadtwerke das so zu erklären. Ganz oft ist es so, dass ne schwere Krankheit dahinter steckt oder die Firma ist pleite gegangen.
    Sperre verursacht Folgekosten
    Ganz schlimm sind Ehescheidungen, wo plötzlich die Frau mit den Kindern alleine dasteht. Oder Rentner, die essen lieber wirklich zwei Wochen lang nur Nudeln oder trocken Brot – Hauptsache sie müssen nicht irgendwelche staatlichen Leistungen beantragen."
    Schicksale, die anrühren. Auch den Profi. Petra Boers Appell an alle Betroffenen: Rechtzeitig Hilfe holen, denn ist die Sperre erst einmal vollzogen kommen zu den Stromschulden noch weitere Gebühren für die Freischaltung oben drauf. Rund 100 Euro, viel Geld – erst recht, wenn man wenig hat.