Dienstag, 19. März 2024

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Arrigo Boitos „Nerone“ bei den Bregenzer Festspielen
Diese Oper will keine Eindeutigkeit

Wer Gefallen an Klangsinnlichkeit, origineller Instrumentation und der hemmungslosen Wollust italienischer Dekadenzkultur hat, der kommt bei der Inszenierung von Arrigo Boitos "Nerone" in Bregenz voll auf seine Kosten, meint Dlf-Kritiker Uwe Friedrich.

Von Uwe Friedrich | 26.07.2021
Rafael Rojas als "Nerone" bei den Bregenzer Festspielen
Rafael Rojas als "Nerone" bei den Bregenzer Festspielen (picture alliance / Dietmar Stiplovsek / APA / picturedesk)
Bühnenbilder Frank Philipp Schlössmann hat ein dreifach verschachteltes Labyrinth auf die Drehscheibe gestellt, dessen Einzelteile sich gegen- und miteinander bewegen können, neue Durchblicke freigeben, leuchten oder das Geschehen in geheimnisvollem Dunkel verschwinden lassen.
Diese Oper will keine Eindeutigkeit, Boito unternimmt einen wilden Ritt durch den italienischen Symbolismus, der von Andeutungen lebt, von Mystizismus und rätselhaften Andeutungen. Regisseur Olivier Tambosi hat glücklicherweise auch gar nicht den Ehrgeiz, irgendeinen tieferen Sinn in dem wirren Geschehen zu finden, sondern stellt die Einzelteile lustvoll nebeneinander. Kostümbildnerin Gesine Völlm verpasst dem Frühchristen Fanuèl die Kutte und Dornenkrone einschlägiger Christusbilder, wenn er die Bergpredigt zitiert, seine Anhängerinnen tragen Nonnenhabit, das es in der Antike selbstverständlich noch gar nicht gab, während der intrigante Magier mit riesigen Flügeln durch die Gegend läuft.

Die Partitur braucht ein großes Orchester

Ein geschlossenes Ganzes ergibt das alles nicht, ist aber gerade deshalb ganz nah an Libretto und Partitur. Denn Arrigo Boito steckt hier knietief im italienischen Symbolismus des Fin de siècle, jener ganz eigenartigen Kunstrichtung, die in ihrer modernen Ausprägung über die Futuristen bis zum Faschismus reicht, in der konservativen Variante aber ein tiefes Geheimnis beschwört, das die damals junge Nation mit der großen antiken Geschichte des römischen Reichs verbinden wollte. Passionsdrama, Historienschinken und Psychospiel, alles kräftig durchgequirlt. Kein Wunder, dass Boito mit dem Werk nicht fertig wurde, kein Wunder auch, dass dieser Torso nur selten den Weg auf die Opernbühne findet. So ist es das ideale Werk für die Bregenzer Festspiele, denn mit einer Sparversion tut man dem Komponisten keinen Gefallen, die Partitur braucht ein großes Orchester, um zu wirken, braucht große Stimmen, um zu glänzen. Wie die von Rafael Rojas in der Titelpartie des Kaisers Nero.

Als wären wir in Oberammergau

Kaiser Nero trägt das grüne Kleid seiner Mutter, auch der Chor tritt in diesem Kostüm auf, eine Vision des Kaisers vielleicht, eine Wahnvorstellung. In einem Zypressenhain treffen sich die Christen, als wären wir in Oberammergau.
Szene aus der Fotoprobe der Oper "Nero" mit Rafael Rojas als "Nerone".
Rafael Rojas als "Nerone" (picture alliance / Dietmar Stiplovsek / APA / picturedesk)
Regisseur Tambosi und sein Team bedienen sich ebenso ungeniert in der Kunstgeschichte wie Komponist Boito seine Inspiration von überall genommen hat, um sie neu und verblüffend zusammenzusetzen. Das klingt mal drohend nach Verdis "Otello", für den Boito das Libretto schrieb, mal nach Puccini, wenn er sich und den Sängern schmelzende Melodien erlaubt. Dann wieder nach Wagner, den damals auch alle nennenswerten italienischen Komponisten gründlich studiert haben. Und immer wieder klingt es nach Sandalenfilm mit ganz ausschweifender Hollywood-Filmmusik.

Hemmungslose Wollust der italienischen Dekadenzkultur

Puristen mögen da erschaudern, aber wer Gefallen an Klangsinnlichkeit, an origineller Instrumentation, einfach an der hemmungslosen Wollust der italienischen Dekadenzkultur hat, der kommt in Bregenz voll auf seine Kosten. Zumal der Dirigent Dirk Kaftan mit den Wiener Symphonikern den nötigen Klangrausch entfesselt, ohne sich in ihm zu verlieren. Auch das Sängerensemble lässt keine Wünsche offen und stürzt sich mutig in die Klangwogen, wenn von Lippen die Rede ist, die nach endgültigem Abschied schmecken oder von unersättlicher Rache gesungen wird. Lucio Gallo ist ein düsterer Intrigant Simon Mago, Brett Polegato ein balsamisch strömender christlicher Apostel Fanuèl. Die Frauen sind für das lyrische Gegengewicht zuständig, und das machen Svetlana Aksenova als zerrissene Femme fatale Asteria und Alessandra Volpe als naiv-unentschlossene Rubria ganz ausgezeichnet. Nein, diese Oper hat keine Relevanz für die heutige Tagespolitik. Sie hat keinen Mehrwert als moralische Handlungsanleitung für das moderne Publikum zu bieten. "Nerone" von Arrigo Boito ist eine Oper der zweiten oder vielleicht sogar dritten Sortierung, aber gerade darum ein Kennenlernen wert.
Nur wer diese Kunstwerke kennt, kann die Gipfelwerke der Gattung überhaupt als solche erkennen und einordnen. In ihrer Maßlosigkeit und Verschwendung ist gerade diese Oper ideal für Festspiele, die sich nicht nach den Erfordernissen des Repertoirealltags richten müssen. Kunst um der Kunst willen, um des Vergnügens, um der Verblüffung wegen, dass so etwas überhaupt möglich ist. Und wenn es dann am Ende des vierten Akts ans Sterben geht, auch das sei hier zugegeben, reicht es dann auch. Den unvollendeten fünften Akt vermisst wohl niemand.