Archiv


Artenvielfalt in der Stadt

Bei Diskussionen über Artenschutz oder Artenreichtum wird oft über tropische Regenwälder oder Naturschutzgebiete geredet. Selten aber kommt einem da die Stadt in den Sinn. Hier denken wir nur an Menschen, Verkehr und Geschäfte. Doch Untersuchungen belegen immer wieder, dass sich auch in der Stadt viele und oft auch seltene Tiere und Pflanzen finden lassen. So auch in Amsterdam.

Von Kerstin Schweighöfer |
    Sein Lieblingsplatz ist am Ij, dem Amsterdamer Binnengewässer gleich hinterm Hauptbahnhof. Da setzt sich Martin Melchers oft auf die Kaimauer und lässt die Beine baumeln, direkt vor dem Muziekgebouw, einem ultramodernen Gebäude aus Glas und Stahl:

    "Sehen Sie, da läuft grade ein riesiges Kreuzfahrtschiff ein, das ist für die Passagiere immer ein Erlebnis, hier mitten in der Amsterdamer Innenstadt anzulegen und sich dann den Grachtengürtel anzuschauen. Oh, und gucken Sie mal da - da fliegt ein Kormoran! Den gab es hier früher auch nicht, jetzt fischt er bei uns im Ij!"

    Noch mehr interessiert den 65-Jährigen, was sich unter der Wasseroberfläche abspielt. Denn die Zeiten, dass sich auf dem Boden der Grachten lediglich rostige Räder oder Autowracks befanden, sind längst vorbei. In der Herengracht zum Beispiel tummeln sich neben Zander und Aalen auch Muscheln aus China und Flohkrebse aus dem Kaspischen Meer:

    "Und im Ij schwimmen Kabeljau, Hering und Seezunge. Das liegt an den Seeschiffen, die täglich bei Ijmuiden über den Nordseekanal bei uns einlaufen. Mit denen schwappt immer eine Woge Nordseewasser ins IJ – und damit auch Nordseefische."

    Die Muscheln aus China landeten im Ballastwasser dieser Schiffe in den Amsterdamer Grachten – sozusagen als blinde Passagiere. So wie die Südseekrebse und zwei Muschelsorten aus dem Irak.

    Dass auch Flohkrebse aus dem Kaspischen Meer eingetroffen sind, liegt am Bau des Main-Donau-Kanals 1992: Seitdem sind die Amsterdamer Grachten über den Rhein mit der Donau verbunden und damit auch mit dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer:

    "Das hat uns den Donaurapfen eingebracht, dieser Karpfenfisch kann bis zu einem Meter groß werden. Der lebt jetzt auch in den Grachten! Und erst vor drei Jahren ist ein kleiner Fisch aus dem Kaspischen Meer eingetroffen, die Schwarzmundgrundel, die hat uns alle in helle Aufregung versetzt, aber jetzt gibt es Millionen davon!"."

    Zu verdanken hat Amsterdam seine reiche Flora und Fauna der stark verbesserten Wasserqualität – nicht zuletzt deshalb, weil inzwischen auch das schiefste Grachtenhaus an die Kanalisation angeschlossen wurde. Vor gut 30 Jahren noch konnte man den Grachtengürtel mit Fug und Recht als schönstes Klo der Welt bezeichnen.

    ""Trinken würde ich das Grachtenwasser zwar immer noch nicht, aber inzwischen ist es so sauber geworden, dass die Amsterdamer im Sommer zur Abkühlung schon mal reinspringen – und zwar ohne hinterher krank zu werden!"

    Außerdem hat Melchers für eine Reihe von tier- und pflanzenfreundlichen Massnahmen gesorgt: Einige Kaimauern wurden durch schräge Natursteinmauern ersetzt, auf denen Wasservögel Halt finden und ans Ufer klettern können. In vielen Grachten treiben Miniflösse mit Wasserpflanzen, auf denen die Vögel brüten. Unter diesen Flössen setzen sich Muscheln fest, die das Wasser filtern. Und deswegen gibt es auch wieder Wasserflöhe - Hauptnahrung der Libelle, die sich dadurch seit gut 15 Jahren wieder in Amsterdam blicken lässt.

    "Die Amsterdamer Grachten sind auch berühmt wegen ihrer Farne, die fühlen sich an den Kaimauern aus Naturstein so pudelwohl, dass auch sehr seltene Sorten hier wachsen. Wir sind die Farnhauptstadt der Niederlande! Bei uns gedeihen mehr als 20 Sorten, das ist enorm!"
    Als Nachkriegskind ist Melchers in einem baumlosen Amsterdam aufgewachsen, alles wurde als Brennholz verwendet. Inzwischen gibt es wieder mehr Bäume als Menschen – und unzählige Vogelsorten:

    "Oh, sehen Sie, da ist unser Kormoran wieder, jetzt hat er vor unserer Nase einen Fisch gefangen!"

    Auch Reiher und Störche fühlen sich wohl in Amsterdam. Und wegen der milden Winter der letzten Jahre sogar der Eisvogel. Auf den hohen Türmen des Elektrizitätswerkes auf der anderen Seite des IJ haben sich selbst Wanderfalken niedergelassen:

    "Das ist doch unglaublich, ein Vogel, der sonst hoch oben auf Klippen und Felswänden wohnt! Wenn ich in meiner Jugend verkündet hätte, dass bei meiner Pensionierung Falken in Amsterdam leben würden, Eisvögel, Kormorane und Rapfen aus der Donau– also, dann hätten mich alle für verrückt erklärt!"