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Artikel 301 vor der Änderung

Kaum ein anderes EU-Thema wird in Europa so kontrovers und emotionsgeladen diskutiert wie der mögliche Beitritt der muslimischen Türkei zur Europäischen Union. Ein gewichtiges Streitthema will die türkische Regierung nun angehen, nämlich die Änderung des umstrittenen Artikels 301, mit dem unter anderem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk unter Druck gesetzt wurde. Susanne Güsten berichtet.

09.01.2008
    Demonstration gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches: Mit einem Sit-In in Ankara gedenken Demonstranten des armenischen Journalisten Hrant Dink, der nach Artikel 301 wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt und wenig später, Anfang 2007, von Nationalisten ermordet wurde.

    Schluss damit, fordern die Demonstranten: Weg mit dem Strafrechtsartikel, der Hrant Dink ins Fadenkreuz der Extremisten gerückt hat und der die Meinungsfreiheit aller Andersdenkenden in der Türkei beschneidet. Lange hat die Regierung in Ankara sich taub gestellt für diese Forderung - so lange, dass inzwischen auch Arat Dink, der Sohn von Hrant Dink, wegen einer Zeitungsveröffentlichung nach dem Artikel 301 verurteilt worden und ins Exil gegangen ist. Auch gegen weitere Journalisten, Schriftsteller und Verleger wurden seit dem Mord an Hrant Dink Verfahren eröffnet. Doch nun will die Regierung endlich handeln, wie Justizminister Sahin ankündigt:

    "Der Gesetzentwurf zur Veränderung des Artikel 301 ist bereit. Der Entwurf soll dem Parlament als Initiativgesetz vorgelegt und noch in dieser Woche zugeleitet werden."

    Warum so eilig auf einmal? Nächste Woche, am 19. Januar, jährt sich die Ermordung von Hrant Dink zum ersten Mal - bis dahin will die Regierung die Novelle durch das Parlament haben. Denn der Jahrestag dürfte Anlass zu bohrenden Nachfragen nach dem Versprechen geben, das Staatspräsident Gül und die Regierung nach den Wahlen im vergangenen Jahr abgegeben hatten. Nachfragen nicht nur vom liberalen Flügel der türkischen Gesellschaft, sondern auch von der Europäischen Union, der Gül eine Reform zugesagt hatte. Schließlich zählt die Änderung des Artikels 301 zu den dringendsten Forderungen der EU an den Beitrittskandidaten Türkei. Im aufgeheizten Wahljahr 2007 hatte Brüssel es der türkischen Regierung noch nachgesehen, dass sie der nationalistischen Grundstimmung im Land nicht entgegentreten mochte, aber jetzt gibt es keine Ausreden mehr. An der Ablehnung der Nationalisten zu jeder Änderung des Artikels 301 hat sich zwar nichts geändert, wie Nationalistenchef Bahceli erklärt:

    "Wenn dieses Gesetz, das unserer Ansicht nach keinerlei Änderung bedarf, nun wieder zur Debatte gestellt wird, dann wird es nur neue gesellschaftliche Spannungen geben. Der Beleidigung von Fahne und Nation und der Herabwürdigung des Türkentums werden damit Tür und Tor geöffnet. Unsere Partei lehnt jegliche Änderung des 301 strikt ab und wird alle entsprechenden Versuche bis zum Letzten bekämpfen."

    Doch die Wahlen sind nun vorbei, die Nationalisten wie auch die Kemalisten in der Opposition - und für die Regierung wird es Zeit, das Versprechen ihres Außenministers Babacan einzulösen: 2008 soll wieder ein Jahr der Reformen werden in der Türkei. Noch in diesem Monat soll im Parlament ein Paket von 171 Gesetzesänderungen verabschiedet werden, die Anpassungen an die europäische Rechtssprechung in allen möglichen Bereichen des Alltags regeln. Schwieriger wird es anschließend mit der Neufassung des sogenannten Stiftungsgesetzes, dass die Eigentumsrechte der christlichen Minderheiten regelt und heftig umstritten ist. Doch für den ersten Schritt beim neuen Reformspurt kommt nur der Artikel 301 in Frage, der für Europa zum Prüfstein für Ankaras Reformwillen geworden ist. Und wie sieht sie nun aus, die Reform? Da ist Justizminister Sahin noch vorsichtig:

    "Die Vorbereitungen sind so weit abgeschlossen, dass der Entwurf dem Parlament zugeleitet werden kann, aber das heißt nicht, dass jeder letzte Punkt geklärt ist."

    Schließlich hat auch die regierende AK-Partei einen nationalistischen Flügel, der dabei noch mitreden will - auch das ein Grund für die lange Verzögerung übrigens: Ex-Jutizminister Cemil Cicek, Wortführer der Falken, wurde erst im Herbst durch den gemäßigteren Sahin abgelöst. Seine Reform des Artikels 301 besteht im wesentlichen aus drei Punkten: Für eine Verurteilung wegen Beleidigung der Türkei muss künftig die beleidigende Absicht nachgewiesen werden. Die Eröffnung von Strafverfahren nach Artikel 301 bedarf künftig der Genehmigung des Justizministeriums. Und die Höchststrafe soll auf zwei Jahre reduziert werden, wodurch nach türkischem Recht alle Strafen zur Bewährung ausgesetzt werden können - niemand käme dann mehr wegen eines Meinungsdelikts hinter Gitter.

    Hinter Gittern saß freilich auch Hrant Dink nicht - er wurde mit dem Artikel 301 aber als Landesverräter gebrandmarkt, die Vollstrecker fanden sich von selbst. Als ein für die Europäer angelegtes Feigenblatt bewertet die liberale türkische Presse daher die Reform und fordert stattdessen die ersatzlose Streichung des Artikels.