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Asselborn: Die Türkei braucht jetzt die EU

Der Umgang mit Demonstranten in der Türkei sei nicht hinnehmbar, kritisiert Luxemburgs Vizepremier Jean Asselborn. Die Absage der Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara hält Asselborn für falsch. Demokratische Fortschritte in der Türkei fußten auf dem Einfluss der Europäischen Union.

Jean Asselborn im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 21.06.2013
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Zeit der Massendemonstrationen in der Türkei, die sind vorbei. Dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ist es mit dem Einsatz der Polizei gelungen, die Menschen zu demobilisieren. Nunmehr vereinzelt stehen Türken schweigend auf Straßen und Plätzen, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Können die Beitrittsgespräche, die nach drei Jahren Stillstand wieder aufgenommen werden sollten, wirklich weitergehen, als wäre nichts passiert? In der kommenden Woche, da sollte feierlich ein neues Beitrittskapitel eröffnet werden. Doch daraus wird wohl nichts. Die EU-Diplomaten haben sich gestern nicht darauf verständigen können. Vor allem Deutschland, Österreich und die Niederlande waren offenbar dagegen. – Am Telefon ist dazu jetzt Jean Asselborn, Vizepremier und Außenminister Luxemburgs, er gehört den Sozialdemokraten an. Guten Morgen, Herr Asselborn.

    Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Müssen jetzt nicht all diejenigen Abbitte leisten, die behauptet haben, die Türkei gehört zu Europa?

    Asselborn: Ich glaube, man muss zwei Gesichtspunkte ganz klar als Einleitung sehen. Das erste ist: Woher nehmen wir das Recht, die Menschenrechtslage in der Türkei so zu kritisieren? Und die Antwort darauf ist: Die Türkei will EU-Mitglied werden, muss also die Kopenhagener Kriterien respektieren. Der zweite Gesichtspunkt ist: Wem hat der Prozess der Beitrittsverhandlungen bis jetzt gedient? Antwort: dem türkischen Volk. Wem würde ein Abbruch schaden? Antwort: dem türkischen Volk.
    Es ist natürlich, Herr Heckmann, nicht hinnehmbar, dass friedliche Demonstranten als Terroristen betitelt werden, dass Ärzte von der Regierung aufgefordert werden, Verletzten bei den brutalen Räumungen nicht zu helfen. Damit ist man in außerdemokratischen Gefilden. Aber die Europäische Union, glaube ich, ist ja das Instrument, was gebraucht wird, dass diese Menschen, alle, die etwas verändern wollen in der Türkei, dass die Gehör bekommen und dass ihnen auch geholfen wird. Ich glaube, mit einem Abbruch in einem luftleeren Raum wäre das nicht mehr möglich.

    Heckmann: Hören wir mal, Herr Asselborn, was Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, zu der Frage weiter Verhandeln mit der Türkei über einen Beitritt, über einen EU-Beitritt ja oder nein gesagt hat.

    O-Ton Elmar Brok: "Man muss, glaube ich, deutlich machen, dass das nicht akzeptabel ist, sowohl vom Vorgehen als auch von der Argumentation her, und man muss auch deutlich machen, dass wir dem jetzt nicht einfach nur entgegentreten können, dass wir so weitermachen wie bisher, denn dann werden die Menschen in der Türkei, die jetzt in Schwierigkeiten sind durch die Staatsautorität, aber auch unsere eigenen Bürger etwas seltsam berührt sein und, ich glaube, das fast als Beleidigung betrachten."

    Heckmann: Soweit also Elmar Brok, der das ein bisschen anders sieht als Sie. – Fallen wir den Demonstranten also nicht erst recht in den Rücken, wenn die Verhandlungen so weitergehen würden?

    Asselborn: Ich bin da anderer Meinung. Ich glaube, dass man sagen kann, alle demokratischen Fortschritte in der Türkei, die fußen auf der Influenz der Europäischen Union. Es gibt in der Türkei keine lupenreine Meinungsfreiheit, aber unter dem Druck der Europäischen Union, der ist unentbehrlich, damit man hier Fortschritte erzielen kann. Es gibt Menschen, vor allem auch Kollegen von Ihnen, Journalisten, in Gewahrsam, weil sie ihre Meinung zu deutlich gesagt haben in der Türkei.

    Heckmann: Und wenn man sich das anguckt, wie mit Pressevertretern umgegangen wird, wie mit der Opposition umgegangen wird, wo erkennen Sie denn dann Fortschritte?

    Polizei raeumt das Protestlager am Taksim-Platz
    Polizeieinsatz in Istanbul (picture alliance / dpa / Michael Huebner/Geisler-Fotopress)
    "Darum brauchen die Menschen in der Türkei mehr Druck aus der Europäischen Union"
    Asselborn: Ich sage Ihnen nur, diese Menschen in der Türkei haben das Recht, natürlich dies zu verändern, und auf sich alleine gestellt werden sie das nicht fertigbringen. Darum bin ich der Überzeugung, das, was auch Präsident Gül gesagt hat, dass die Türkei trotzdem das Ziel hat, eine offene Gesellschaft zu werden, dass wir mit anderen Worten Demokratie und islamische Gesellschaft auf einen Nenner bringen wollen. Darum brauchen die Menschen in der Türkei mehr Druck aus der Europäischen Union und nicht weniger Druck.

    Heckmann: Aber in diesem Ziel ist man sich offenbar in der Führung der Türkei nicht einig.

    Asselborn: Das mag schon sein. Es gibt ja in der Türkei eine große Frage, was die Verfassung angeht: Gibt es ein präsidentielles Regime jetzt? Sie wissen, dass Premierminister Erdogan sehr gerne auf viel Paternalismus setzt und weniger auf Demokratie. Das stimmt. Der aktuelle Präsident ist ein gemäßigter Mensch, diese Debatte wird stattfinden. Aber ich glaube auch, dass man richtig erkennen muss, in der Türkei ist der Mittelstand gewachsen. Das ist auch der Verdienst trotzdem der letzten Regierungsjahre, auch wo die AKP eine große Rolle spielte. Das Wirtschaftspotenzial wurde stark ausgebaut, der Lebensstil dieser neuen Mittelklasse, Mittelschicht ist nach Westen orientiert. Diese Menschen wollen auch in Fragen der Abtreibung, des Alkoholverbots, Fragen der öffentlichen Schule wirklich vorankommen. Ich spüre nur, weil dieser Prozess, den ich begleiten konnte seit 2004, wenn wir ihn abbrechen, vor allem in diesem Moment, würden wir einen Fehler machen. Wir sollten jetzt vielleicht - auch in einem Vorwahlkampf ist das ja immer eine Sache, wo man sehr schnell aus der Hüfte schießt – wirklich überlegen und sich nicht identifizieren mit den Interessen einer Regierung in der Türkei.

    Heckmann: Das heißt, Sie würden sich der Warnung anschließen aus der Türkei, das Thema zu einem innenpolitischen Thema zu machen? Dieser Vorwurf wurde ja von Ankara aus Richtung Angela Merkel erhoben.

    Asselborn: Nein, auf diese Stufe will ich mich nicht stellen. Ich will mich nur auf die Stufe stellen der Interessen der Menschen in der Türkei. Sie haben das angedeutet: Es sieht so aus, dass vor allem Deutschland zurzeit sehr zurückhaltend noch ist, um dieses Kapitel 22 zu eröffnen. Sie wissen, seit drei Jahren wurde kein neues Kapitel eröffnet. Viele andere Länder – Sie haben noch Österreich und Holland genannt, wo noch eine Debatte stattfindet -, auch Griechenland und Zypern, sind einverstanden, dass man dieses Kapitel 22 aufmacht. Wir werden jetzt sehen am Montag, was die Außenminister dazu sagen. Am Dienstag kommt der allgemeine Rat zusammen. Der soll eigentlich den Beschluss fassen, ob eine Beitrittskonferenz am Mittwoch stattfindet oder nicht. Aber auch hier sollte man das tun und dann auf ministerieller Ebene eine klare Sprache reden und der türkischen Regierung sagen, dass in einem Rechtsstaat der Umgang mit friedlichen Demonstranten, auch die Meinungsfreiheit, dass das hochgehalten werden muss.

    Heckmann: Nicht nur in der Türkei gibt es Probleme, auch in Ihrem Land, in Luxemburg, gibt es Kopfzerbrechen. Die Regierung Jean-Claude Juncker, der Sie angehören, hat gestern ein Misstrauensvotum überstanden. Der Anlass war, dass Finanzminister Luc Frieden vorgeworfen wurde, er habe als Justizminister versucht, Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu einer Serie von Bombenanschlägen zu stoppen. Wie angeschlagen ist Ihre Koalition in Luxemburg?

    Asselborn: Diese Anträge waren nicht gestern, die waren gestern vor einer Woche. Aber gut: Sie wissen, wir sind ein kleines Land, das ist ja ein Fakt. Wir haben auch einen kleinen Nachrichtendienst, das ist auch ein Fakt, und dieser Nachrichtendienst hat sehr, sehr großen Mist gebaut in der Vergangenheit. Dazu wurde jetzt eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die seit Monaten arbeiten. Dieser Bericht, der ist in der Ausarbeitung. Die Arbeit ist nicht abgeschlossen, die wird aber in zwei, drei Wochen, glaube ich, abgeschlossen. Das Parlament wird dann Position beziehen in diesem Bericht. Es kommt natürlich die Frage der Konsequenzen, der politischen Verantwortung, und wie Sie richtig sagen: Zurzeit sind wir mit Turbolenzen konfrontiert. Dazu kommt noch parallel, dass ein Gerichtsprozess stattfindet über Bombenanschläge in den Jahren '84, '85, und wenn man manchmal dann diese Vermischungen sieht, dann sind wir schon konfrontiert mit erheblichen Turbolenzen in unserem kleinen ruhigen Land.

    Heckmann: Wie wahrscheinlich ist, dass die Koalition unter Jean-Claude Juncker hält?

    Asselborn: Ja ich kann mich dazu nicht äußern. Wir müssen abwarten, wie die Konsequenzen oder welche Konsequenzen im Parlament gezogen werden.

    Heckmann: Jean Asselborn war das, Vizepremier und Außenminister Luxemburgs. Herr Asselborn, danke Ihnen für das Gespräch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.