Wenzel betonte, Gorleben sei damals als Standort willkürlich über Nacht ausgesucht worden. Dabei habe man alle Risiken ausgeblendet. Niedersachsen wolle die Lasten nicht alleine tragen. Bei der Suche nach einem neuen Standort müssten aber auch andere Bundesländer - wie etwa Bayern und Sachsen - Teil der Lösung sein.
Der Grünen-Politiker bezweifelt, dass der Zeitplan bei der Suche eingehalten werden kann. "Das letzte Drittel dieses Jahrtausends könnten wir ein sicheres Lager haben. Das zeigt, war für ein Teufelszeug wir da haben." Es gebe Dynamiken, die man am Computer nicht simulieren könne. Beim Salzbergwerk Asse habe man gesagt, der Ort sei für die Lagerung radioaktiverAbfälle sicher für alle Zeiten. Nach zehn Jahren sei dann der Wassereinbruch gekommen.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Stellen wir uns gemeinsam ein gleich startendes Flugzeug vor. Die Triebwerke laufen bereits, sie dröhnen kräftig, es ist das größte Flugzeug der Welt. Das Problem: Es gibt noch keine Landebahn, die lang genug wäre, um sicher landen zu können. Hier sucht man noch nach einem geeigneten Standort. Würden Sie trotzdem einsteigen? - Vermutlich nicht. Doch genau das ist im übertragenen Sinne der Atomenergie geschehen. 1962 ging das erste deutsche Atomkraftwerk ans Netz, in Kahl in Bayern. Viele weitere folgten. Doch bis heute ist unklar, wo der hoch radioaktive Müll sicher deponiert werden könnte. Lange galt der Salzstock in Gorleben als mögliches Endlager. Seit Ende der 70er-Jahre wird der Standort erforscht. Alternativen waren bisher keine vorgesehen. Darum gab es Streit. Eine Endlager-Kommission trat zusammen. Heute stellt sie ihren Abschlussbericht vor.
Am Telefon begrüße ich Stefan Wenzel von den Grünen, Umweltminister des Landes Niedersachsen und selbst Mitglied der Endlager-Kommission. Guten Morgen, Herr Wenzel.
Stefan Wenzel: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Zweifel am Zeitplan gibt es, hören wir, Herr Wenzel. 1962 - wir erinnern uns - ging in Deutschland das erste kommerzielle Atomkraftwerk ans Netz. Werden wir 100 Jahre später ein betriebsbereites Endlager haben, also 2062?
Wenzel: Das ist auf jeden Fall zweifelhaft. Die Kommission hat sich die Zeitpläne genau angeguckt und ist von der Zeitplanung, die ursprünglich ins Gesetz geschrieben wurde, abgewichen, hat gesagt, wahrscheinlich dauert es länger. Und ich rechne damit, dass das letzte Drittel dieses Jahrhunderts der Zeitpunkt sein könnte, zu dem wir ein sicheres Lager haben.
"Das Thema Forschung noch mal sehr grundlegend anpacken"
Dobovisek: Woran machen Sie Ihre Zweifel fest?
Wenzel: Gucken Sie sich zum Beispiel die Asse an, wie lange dort eine Erkundungsbohrung dauert, und wenn Sie das umlegen auf die verschiedenen Phasen, dann kommen Sie auf solche Zeiträume. Und das heißt natürlich, dass wir uns auch die Zwischenlagerung angucken müssen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, der bisher immer ausgeblendet wurde.
Dobovisek: Jetzt liegt uns ein Steckbrief sozusagen vor für ein mögliches Endlager: mindestens 300 Meter tief, in Salz, Ton oder Granit. Sicherheit für eine Million Jahre soll das gewährleisten. Werden wir einen solchen Standort in Deutschland überhaupt finden?
Wenzel: Diese Zeiträume, das sind natürlich fast aus menschlicher Sicht unvorstellbare Zeiträume, für die bisher niemand geplant hat. Es zeigt aber, was für ein Zeug, was für ein Teufelszeug wir da vor uns haben, wie lange diese Abfälle strahlen, und deswegen müssen wir uns mit solchen Fragen auseinandersetzen. Wir sind nicht das erste Land, was das tut, aber bislang gibt es weltweit noch keinen sicheren Ort zur Lagerung solcher Abfallstoffe. Deswegen hat die Kommission sich sehr grundsätzlich mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Ich rechne aber auch damit, dass wir das Thema Forschung noch mal sehr grundlegend anpacken müssen, weil manches, was man in der Vergangenheit glaubte zu wissen, wird bei genauerem Hingucken schwieriger, als man ursprünglich erwartet hat.
"Wir brauchen Möglichkeiten der Fehlerkorrektur"
Dobovisek: Was meinen Sie?
Wenzel: Wenn Sie sich Prozesse angucken, die unter hohem Druck passieren - da ist von 190 Bar Druck die Rede, hohen Temperaturen möglicherweise, radiolytischen Prozessen, verschiedenen chemischen Stoffen - und dann haben Sie teilweise Dynamiken, die Sie nicht einfach simulieren können am Computer, und da kommt es schon darauf an, sehr genau zu wissen, was man tut. Und deswegen hat sich die Kommission auch an einer Stelle grundlegend neu entschieden und hat gesagt, wir brauchen Möglichkeiten der Fehlerkorrektur, also Rückholung oder Bergung. Das war eine Erfahrung auch aus der Asse, wo damals alle Wissenschaftler gesagt haben, dieser Ort ist sicher für alle Zeiten. Das war tatsächlich die Formulierung. Und dann hat es zehn Jahre gedauert und dann war der Wassereinbruch da.
Dobovisek: Müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, Herr Wenzel, dass es absolute Sicherheit über einen Zeitraum von einer Million Jahre einfach nicht geben kann und die Endlagerung so oder so ein laufender Prozess sein muss über Hunderte, Tausende, Millionen Jahre hinweg mit Hin und Her und Neuerforschung und neuer Standort?
Wenzel: Wenn Sie heute den TÜV fragen, ob er Ihnen für eine Million Jahre einen TÜV-Stempel gibt, dass das sicher ist, dann werden Sie sicher keinen Stempel kriegen, und von daher rechnen wir hier oder müssen wir auch heute damit rechnen, dass wir als Menschen Fehler machen. Das ist immer auch die Überlegung gewesen in diesen Prozessen. Deswegen reversible Prozesse, deswegen die Möglichkeit auch zu Rücksprüngen, neue Erkenntnisse zu berücksichtigen, aber immer auch den Blick auf die Zwischenlagerung. Das ist extrem wichtig, dass wir uns klar machen, solange der Müll oben an der Oberfläche steht, müssen wir auch mit dieser Frage uns befassen, weil auch das sind Dinge, die beileibe nicht trivial sind.
"Mit Einwirkungen von außen rechnen"
Dobovisek: Sind die Zwischenlager - wir können uns das ja mal vor Augen führen; da stehen Castoren in Hallen mit Leichtbauweisen an verschiedenen Standorten in Deutschland herum -, sind diese Zwischenlager sicher, bis ein Endlager gefunden wird, wenn Sie zum Beispiel den Zeitraum nennen, das letzte Drittel des Jahrhunderts?
Wenzel: Die Kommission hat diese Frage diskutiert und ist zu der Auffassung gekommen - hat drei unterschiedliche Optionen auch in dem Bericht niedergelegt. Die eine Option, die von der Bundesregierung verfolgt wurde, ein Eingangslager am Ort eines künftigen Endlagers zu errichten, dagegen gab es aber Bedenken, weil möglicherweise dann derselbe Fehler noch mal gemacht würde wie in der Vergangenheit mit Gorleben, dass man nämlich einen Ort auswählt, wo es noch keine endgültige Entscheidung gibt, beispielsweise vor Gericht. Dann gibt es die Diskussion, ob man die Genehmigung an den vorhandenen Standorten verlängern muss, was praktisch einer Neugenehmigung gleich käme. Die dritte Variante, die diskutiert wurde, war, vier bis fünf Standorte auszuwählen, die dann für den mittelfristigen Zeitraum als Zwischenlager fungieren sollen.
Dobovisek: Auf Deutsch gesagt: Die derzeitige Zwischenlagerung wäre nicht sicher bis zum Ende einer Endlagersuche?
Wenzel: Nach allem, was heute auch vor Gericht überprüft wurde, entsprechen diese Lager den Sicherheitsanforderungen, die auch dort an solche Lager zu stellen sind. Aber man muss natürlich sich angucken, was passiert auch über längere Zeiträume hinweg in diesen Behältern. Sind die Entwicklungen so wie erwartet, oder muss man möglicherweise auch mit anderen Einwirkungen zum Beispiel von außen rechnen, Stichwort Terrorismus oder auch potenzielle kriegerische Handlungen. Auch das sind Fragen, die sich ja plötzlich wieder in Europa stellen, obwohl wir so was längst für Vergangenheit gehalten haben.
"Ich gehe davon aus, dass Gorleben Geschichte ist"
Dobovisek: Sie wohnen mit Ihrer Familie in einem Niedrigenergiehaus, Herr Wenzel - das kann man im Internet nachlesen - mit Blockheizkraftwerk und Solarzellen. Überschüssiger Strom wird ins öffentliche Netz abgegeben. Atomstrom nein danke sozusagen, Vorzeigeumweltminister könnte man auch sagen. Und ausgerechnet Sie müssen am Ende vielleicht den Atommüll Ihrer Vorgänger in Gorleben verklappen, weil Sie in der Kommission dem Prinzip der weißen Landkarte zugestimmt haben. Das schließt Gorleben dann ausdrücklich mit ein. Wie laut haben dabei Ihre Zähne geknirscht?
Wenzel: Ich glaube, dass diese neuen Sicherheitsanforderungen, verbunden mit verschiedenen Kriterien, die heute definiert wurden in diesem Bericht, dass die eine Nutzung von Gorleben nicht mehr zulassen. Ich bin der Auffassung, dass dieser Standort, der damals ja willkürlich quasi über Nacht ausgesucht wurde, dass der Geschichte sein wird und hoffe, dass wir tatsächlich einen Ort finden, der bestmögliche Sicherheit garantiert. Der kann aber in allen Bundesländern in der Bundesrepublik Deutschland liegen.
Dobovisek: Aber nicht in Gorleben?
Wenzel: Ich gehe davon aus, dass Gorleben Geschichte ist.
Dobovisek: Warum?
Wenzel: Wenn Sie sich die Sicherheitsanforderungen angucken, wenn Sie sich die Gegebenheiten in Gorleben angucken, die kenne ich sehr gut, dann bin ich der festen Auffassung, dass Gorleben Geschichte ist.
Dobovisek: Seit 1977 wird dort geforscht. Es gibt kaum einen Salzstock, der so gut erforscht ist wie Gorleben. Wie soll da ein, sagen wir mal, noch sicherer Standort mit weniger Forschung gefunden werden?
Wenzel: Man hat damals ja auch ein Auswahlverfahren gehabt. Das wurde abgebrochen. Man hat dann über Nacht Gorleben ausgewählt und hat dann immer "Augen zu und durch" praktisch gemacht, hat alle negativen Erkenntnisse, die man über Gorleben hat, ignoriert, hat die Kriterien wieder geändert. All diese willkürlichen Entscheidungen, die sind auch in dem Bericht der Kommission abgebildet worden, in dem die Geschichte und die Lehren der Vergangenheit auch niedergeschrieben wurden. Und deswegen bin ich sicher: Wenn man heute ein objektives wissenschaftsbasiertes ergebnisoffenes Verfahren macht, dann wird dieser Standort definitiv ausscheiden, weil er eben die Anforderungen nicht erfüllt.
"Wir wollen auch nicht die Lasten alleine tragen"
Dobovisek: Sie wollen Gorleben nicht, Herr Wenzel. Bayern und Sachsen sprechen dem Granit die Eignung ab, um ein Endlager in den eigenen Bundesländern zu verhindern. Das klingt irgendwie nach "not in my backyard mentality", also: gerne, aber bloß nicht bei uns sozusagen. Sehe ich das falsch?
Wenzel: Wenn Sie sich die geologischen Formationen angucken, Ton, Granit, Salz, dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Niedersachsen wieder im Fokus, weil wir ein Viertel oder ein Drittel der gesamten Potenzialflächen haben. Deswegen haben wir gesagt, auch als Niedersachsen haben wir ein großes Interesse an einer sicheren Lagerung. Aber wir wollen auch nicht die Lasten alleine tragen. Es gibt noch andere Bundesländer, die mit Vehemenz in der Vergangenheit dafür eingetreten sind, Atomkraft zu nutzen. Auch die müssen ihren Teil zur Lösung beitragen.
Dobovisek: Und warum wollen das Bayern und Sachsen offensichtlich nicht?
Wenzel: Bayern und Sachsen haben in der Atommüll-Kommission mitgearbeitet, haben auch das Standortauswahlgesetz im Bundesrat mitgetragen, und deswegen gehe ich davon aus und hoffe, dass es hier auch ein gemeinsames Suchen in der gesamten Republik gibt. Aber sicher ist bei diesem Thema nichts.
Dobovisek: Niedersachsens Umweltminister Stefan Wenzel von den Grünen und weil Herr Wenzel zu dieser frühen Stunde bereits im Zug durch die Lande fährt, haben wir das Gespräch vor zwei Stunden aufgezeichnet. Dann von hieraus noch einmal die besten Grüße in den ICE und vielen Dank an Herrn Wenzel.
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