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Atomunfall im Weißen Meer
Mögliche Ursache: Test nuklearer Unterwasserrakete

Am 8. August 2019 wurde auf einem militärischen Testgelände in der Nähe der nordrussischen Stadt Archangelsk Radioaktivität freigesetzt. Dem Kreml zufolge soll eine explodierte Nuklearbatterie die Ursache sein. Experten halten den Test mit einer neuen nuklearen Unterwasserrakete für wahrscheinlicher.

Von Dagmar Röhrlich | 02.09.2019
"Vorsicht Strahlung" - Bei einem missglückten Test in der Nähe der nordrussischen Stadt Archangelsk am 8. August 2019 ist Radioaktivität freigesetzt worden. (Symbolbild)
"Vorsicht Strahlung" - Bei einem missglückten militärischen Test in der Nähe der nordrussischen Stadt Archangelsk am 8. August 2019 ist Radioaktivität freigesetzt worden. (Symbolbild) (dpa / Patrick Seeger)
Die Explosion ereignete sich am 8. August, auf einer schwimmenden Plattform im Weißen Meer. Bald darauf meldeten die Behörden in zwei Städten im Abwind der Explosion einen starken Anstieg der Radioaktivität.

"Dieser Anstieg dauerte nur wenige Stunden, und danach blieben noch ein paar Tage lang Radionuklide nachweisbar. Es sieht also aus, als wäre – was immer da explodiert sein mag – ins Meer gefallen, sodass keine Radioaktivität mehr in die Atmosphäre freigesetzt werden konnte. Doch sie kann natürlich sehr wohl ins Wasser gelangen."
Staatlicher Wetterdiensts offenbart neue Details
Edwin Lyman von der Union of Concerned Scientists hat versucht, sich ein genaueres Bild davon zu machen, was damals passiert sein könnte. Wie andere Experten auch, bekam er zunächst kaum belastbare Informationen. Doch in dieser Woche warf ein Bericht des nationalen russischen Wetterdiensts neues Licht auf die Explosion. Und die Rede eines Moskauer Regierungsvertreters auf einer Arbeitstagung der UN-Organisation zur Überwachung des Atomwaffenteststoppabkommens CTBTO.

"Die Tests, die am 8. August auf dem Truppenübungsplatz bei Sewerodwinsk durchgeführt wurden, standen im Bezug zur Entwicklung von Waffen, die wir als Reaktion auf den einseitigen Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung antiballistischer Raketen im Jahr 2002 entwickeln mussten."
So hieß es auf der Tagung in Wien. Und zu den Messungen des russischen Wetterdienstes erklärt Edwin Lyman: "Der russische Wetterdienst teilte mit, dass man Luft- und Niederschlagsproben analysiert habe, die seit der Explosion in den betroffenen Städten genommen worden waren. Während des starken Anstiegs der Radioaktivität und in den Tagen danach wurden vier kurzlebige Radionuklide gemessen, die während der Kernspaltung in einem Reaktor entstehen. Vorausgesetzt, die Geschichte ist korrekt, war wohl ein Kernreaktor in die Explosion involviert."
Dass ein Antrieb mit einer Radionuklidbatterie explodiert sei, wie die russischen Behörden zunächst glauben machen wollten, erscheint damit unwahrscheinlich. Radionuklidbatterien werden beispielsweise in der Raumfahrt eingesetzt, wo sie Satelliten über lange Zeit zuverlässig mit Energie versorgen. Dabei wird die Wärme des natürlichen radioaktiven Zerfalls zur Stromerzeugung eingesetzt, erklärt Edwin Lyman:
"In einer Radionuklidbatterie steckt jedoch eher nur ein Isotop drin und das hätte eine längere Halbwertszeit, sonst wäre die Batterie ja sofort erschöpft. Die in der Umgebung nachgewiesenen Radionuklide dagegen sind sehr kurzlebig. Das spricht dafür, dass sie aus einem Reaktor stammen, der kurz zuvor noch gelaufen sein muss."
Testete Russland eine neuartige nukleare Unterwasserrakete?
Doch wozu der Unfallreaktor diente, bleibt Gegenstand von Spekulationen. Im vergangenen Jahr hatte der russische Präsident Putin ein ganzes Arsenal von interkontinentalen Trägersystemen vorgestellt, die ihr Ziel – angeblich dank nuklearem Antrieb - auf verschlungenen Pfaden unter dem gegnerischen Radar erreichen sollen. Und so wird bei den Spekulationen ein nuklearbetriebener Marschflugkörper namens Burewestnik am häufigsten genannt, der als neue Wunderwaffe des Kreml gilt.
"In dieser Art von Nukleartriebwerk würde vorne Luft angesaugt, die der Reaktor dann so stark erhitzt, dass sie den Schub für die Rakete liefert. Es ist möglich, dass Russland an so einem fliegenden Reaktortyp arbeitet, aber meiner Meinung nach ist es unwahrscheinlich, dass er bei der Explosion getestet worden ist. Dann wäre in den Städten mehr Radioaktivität gemessen worden."
Außerdem müsste die erste Stufe einer solchen Rakete konventionell gestartet werden: Der Reaktor würde erst eingeschaltet, wenn die Rakete bereits so schnell ist, dass genügend Luft hindurch gepresst wird. Edwin Lymann hält das Szenario vom Test eines nuklearen Marschflugkörpers deshalb für eher unplausibel:
"Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es sich um eine nukleare Unterwasserrakete handelt. In diesem Fall würde der Reaktor vom Start an als Antrieb verwendet werden."
Ein solches System hatte Wladimir Putin bereits 2015 angekündigt: Russland wollte einen nukleargetriebenen Atom-Torpedo entwickeln, der ganze Küstengebiete radioaktiv kontaminieren und auf lange Zeit unbenutzbar machen sollte. Vielleicht ist also ein Test eines solchen interkontinentalen, nuklearbetriebenen Torpedos fehlgeschlagen. Nach aktuellem Stand des Wissens scheint das jedenfalls die plausibelste Erklärung für den Zwischenfall vom 8. August.