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Attentat in Paris vor 90 Jahren
Chef der ukrainischen Exilregierung wird erschossen

Auf offener Straße wurde heute vor 90 Jahren in Paris Symon Petljura erschossen, bis 1920 erster Präsident der im Zuge der russischen Oktoberrevolution unabhängig gewordenen Ukraine. Ein jüdischer Anarchist bekannte sich zu der Tat, wurde aber von einem französischen Gericht freigesprochen. Das Urteil wurde mit Pogromen begründet, durch die in der Regierungszeit Petljuras jüdische Familien ausgelöscht worden waren. Aber den Antisemitismus hatte der Sozialdemokrat stets bekämpft.

Von Jochen Stöckmann | 25.05.2016
    Maidan, Ukraine, Unabhängigkeitsplatz
    Blick auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz, in Kiew. (picture alliance / dpa / Andrey Stenin)
    "Tödliche Schüsse auf dem Boulevard St. Michel – General Petljura ermordet – Racheakt eines jüdischen Anarchisten."
    Das Attentat vom 25. Mai beherrscht im Frühjahr 1926 die Schlagzeilen. In Paris ist Symon Petljura auf offener Straße erschossen worden. Sieben Kugeln hat der Täter abgefeuert. Und sich dann seelenruhig der Polizei gestellt. Ein klarer Fall. Aber was war das Motiv? Und wer war Petljura?
    "Er war derjenige, der dafür sorgte, dass die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung bis Anfang 1921 sich in der Ukraine in der Auseinandersetzung zwischen allen Bürgerkriegsparteien halten konnte."
    Rudolf Mark hat die Geschichte der ukrainischen Volksrepublik erforscht. Ausgerufen 1918, nach dem Zerfall des Zarenreichs, im Fieber der russischen Revolution. Misstrauisch beäugt von den "Roten", bedroht durch die "Weißen", die vom Westen unterstützten zaristischen Generäle. Inmitten dieser Zwickmühle: Symon Petljura. Geboren 1879 als Sohn von Kosaken, nach der Revolution Kriegsminister, 1919 dann Regierungschef. Der charismatische Anführer einer jungen Republik, populär vor allem bei den Soldaten.
    "Auf Befehl des Direktoriums der Ukrainischen Republik rufe ich als Oberkommandierender alle ukrainischen Soldaten und Kosaken auf, für die staatliche Selbstständigkeit der Ukraine gegen den Verräter, den ehemaligen Zarenknecht General Skoropadskyj zu kämpfen."
    Anschlag als Vergeltung für mörderische Verfolgungen?
    Mit flammenden Appellen gelingt es Petljura, die Unabhängigkeit der Ukraine zu wahren. Für einige Monate, bis 1920 die Rote Armee einmarschiert. Der gestürzte Staatspräsident flüchtet nach Paris. Wo ihn Schlomo Schwarzbardt aufspürt – und kaltblütig erschießt. Der jüdische Uhrmacher ist – wie Petljura – durch das Trommelfeuer des Weltkriegs gegangen. Und hat bei Pogromen in der Ukraine die Eltern und ein Dutzend weiterer Familienangehöriger verloren.
    "Es sind unbeschreibbare Scheußlichkeiten, Bestialitäten passiert. Vor allem eben auch an jüdischen Menschen. Und von daher ist die Vorstellung, dass Schwarzbardt das Gefühl hatte, Vergeltung üben zu müssen und vielleicht die Hemmschwelle durch die eigene Kriegserfahrung gesenkt war – das ist durchaus möglich."
    Schwarzbardt rechtfertigt seinen Anschlag als Vergeltung für mörderische Verfolgungen während des Unabhängigkeitskrieges. Darüber, über die jüngste Zeitgeschichte in der fernen Ukraine, soll nun die Pariser Justiz befinden. Sie folgt dem Plädoyer von Schwarzbardts Anwalt: "Die Soldaten Petljuras verübten ihre Gewalttaten unter Rufen 'Es lebe unser Väterchen Petljura!' Nun ist der feierliche Augenblick gekommen, die Pogrome von gestern zu verurteilen und jene von morgen zu verhüten."
    Ressentiments gegen "die Ukrainer"
    Der Attentäter wird freigesprochen – und damit Symon Petljura verantwortlich gemacht für den Tod Tausender Juden. Ein Fehlurteil. Weil, so der Historiker Rudolf Mark, die französischen Richter nicht berücksichtigten, "dass an Seiten Petljuras auch sehr fragwürdige Kosakenabteilungen operierten, die Petljura nie kontrollieren konnte. Petljura selber war kein Antisemit. Petljura war ein nationalbewusster Sozialdemokrat, der auch vor dem Krieg etwa publizistisch gegen den Antisemitismus vorgegangen ist. Aber Petljura stand für die nationalbewussten Ukrainer. Und die wieder sind in einer verkürzten Wahrnehmung als Antisemiten apostrophiert worden."
    Diese Ressentiments gegen "die Ukrainer" hatten sich auch in Paris zu fatalen Feindbildern entwickelt. Zudem zeigte sich ein ganz normales Strafgericht mit der halbwegs objektiven Beurteilung völkerrechtswidriger Taten überfordert. So kam es zu einem Richterspruch, dessen düstere Folgen die katholisch-konservative "Reichspost" aus Österreich prophezeite:
    "Die Pariser Geschworenen haben das Recht auf Blutrache im weitesten Sinne bestätigt. Dieser 'Wahrspruch' birgt Gefahren in sich und droht seinen Teil zur Verwilderung der politischen Sitten Europas beizutragen."