"Gut, ich hatte mir angestrichen…, dass zum Beispiel im Bezirk Chorweiler bei der letzten Landtagswahl eine Wahlbeteiligung von 51,6 Prozent insgesamt war."
Bea Metten sitzt am Schreibtisch und blättert in ihren Unterlagen. Vor sich hat sie einige Zahlenreihen mit der Wahlbeteiligung im Bezirk. Die resolute Frau bringt so schnell nichts aus der Fassung, seit mehr als 15 Jahren arbeitet sie für die Beratungsstelle "Engagiert in Chorweiler" und unterstützt Erwerbslose. Aber wie wenig Menschen hier 2012 an die Urnen gegangen sind, bei der letzten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, das hat sie überrascht: "Ich war selber erschrocken, als ich das gesehen habe noch mal."
Köln-Chorweiler: 70er-Jahre-Hochhäuser, betonierte Plätze, wenig Grün. Ein sogenannter "sozialer Brennpunkt", mit einem hohen Anteil von Hartz-IV-Empfängern. Und: eben dem zweithöchsten Nichtwähleranteil in Köln bei den letzten Landtagswahlen.
In einigen Straßenzügen machten sich sogar nur 29 Prozent der Wahlberechtigten auf den Weg zur Urne. Bei Bundestags- und Kommunalwahlen sieht es nicht besser aus.
"Es wird mir nie besser gehen"
Woran liegt das? Für Bea Metten sind die Zusammenhänge klar: Viele ihrer Kunden, wie sie sagt, sind schon lange erwerbslos, leben von der Grundsicherung und fühlen sich von den oft kompliziert erscheinenden politischen Inhalten nicht mehr angesprochen. Sie erwarteten nichts mehr, sagt sie:
"Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Menschen sich tatsächlich auch so eine Haltung einstellt, es wird mir nie besser gehen. Ich werde immer an diesem Punkt bleiben, wo ich bin. Es gibt einfach ganz viele Menschen, die kommen da nicht mehr raus. Das heißt, du bleibst immer in so einer Abhängigkeit vom Staat, musst dich diesem System unterordnen, einordnen. Ich will nicht Resignation sagen, aber irgendwie so ein bisschen: Welchen Sinn macht das eigentlich noch?"
Viele Studien belegen, dass eine prekäre soziale Situation, das Gefühl, abgehängt zu sein, und eine hohe Nichtwählerquote miteinander in Verbindung stehen. 2013, in den Monaten um die letzte Bundestagswahl, waren Nichtwähler schon einmal das politikwissenschaftliche Thema. Der Befund ist also klar. Offen bleibt die Frage: Wie erreicht man die Menschen, die nicht wählen gehen?
"Zum einen durch eine emotionale Sprache. In der Politik muss man auch die Gefühle ansprechen, muss man auch den Bauch ansprechen, muss die Emotionen ansprechen," meint Politikwissenschaftler Matthias Micus vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Das hat etwa die AfD in den vergangenen Jahren erfolgreich geschafft, mit polarisierenden Botschaften. Bei den Landtagswahlen im Saarland und Schleswig-Holstein stieg die Wahlbeteiligung allerdings, ohne dass die AfD stark profitierte. Möglicherweise hat das politisierte Klima die Menschen mobilisiert.
Interessen von Menschen beachten, die nicht wählen
"Und das zweite ist: Man muss natürlich schon auch die Interessen artikulieren, auch derjenigen Gruppen, die eher stärker dazu neigen, sich der Wahlteilnahme zu enthalten."
Heißt im Klartext: Die etablierten Parteien und Politiker haben zu oft und ausschließlich Wahlkampf für jene gemacht, von denen sie wissen, dass sie ihnen Stimmen bringen. Unternehmer, Mittelstand, Bürgertum. Es fallen die Interessen von den Menschen hinten runter, die nicht wählen. Die wiederum fühlen sich in ihrer Ablehnung bestätigt und gehen noch seltener zur Wahl. Ein Teufelskreis.
Auf Nachfrage erklären die wahlkämpfenden Parteien in Chorweiler, dass sie noch immer überwiegend auf die klassischen Infostände und Flyer setzen, um Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Konkrete Strategien, um Nichtwähler anzusprechen, scheint es bei den Kandidaten nicht zu geben.
Fragt man die Menschen im Zentrum des Bezirks, ob sie am kommenden Sonntag abstimmen gehen, sagen viele immer noch: 'Nein': "Sind alles Verbrecher." – "Gehen Sie wählen?" – "Nein!" – "Ich interessiere mich auch nicht dafür, deswegen werde ich auch nichts sagen können." – "Fragen Sie aber nicht mich…" – "Kriegen wir vernünftige Politiker, kriegt Ihr Wahlen."
Dennoch gibt es auch so etwas wie einen harten demokratischen Kern; diese Kneipenbesucher etwa, die wählen gehen werden: "Bis jetzt bin ich immer wählen gegangen, einmal hatte ich es verpennt, aber ansonsten bin ich immer gegangen, immer." – "Doch, davon mache ich Gebrauch. Das ist ja unser gutes Recht. Ich bin alter, ich sag das einfach mal so, SPD-Wähler und das bleibe ich auch." – "Alleine um zu verhindern, dass die Großen weiter drankommen, wähle ich immer die kleinen Parteien. Um da ein gewisses Mitspracherecht zu kriegen."
Schnell wirkende Mittel gibt es nicht
Klar ist: Menschen an die Urne zu bewegen, bleibt eine politische Langfrist-Aufgabe, schnell wirkende Mittel gibt es nicht. Vor allem nicht vor Wahlen, mit ein, zwei Politiker-Besuchen im Viertel. Parteienforscher Matthias Micus betont: Politische Reibereien, Streitpunkte und Alternativen könnten die Wahlbeteiligung langfristig steigern. Das sei wichtig, denn:
"Unsere Vergangenheit zeigt, dass die Verweigerung der Wahlteilnahme, das Nichtwählen, vielfach nur ein erster Schritt hin ist zu radikalen, zu Protest-, zu populistischen Parteien."
Auch Erwerbslosen-Beraterin Bea Metten fühlt sich verpflichtet, ihren Kunden das Thema Wahlen näherzubringen. In Richtung Bundestagswahl überlegt sie, Politiker nach Köln-Chorweiler einzuladen, Aktionstage zu veranstalten: "Es ist ja nicht damit getan, alle paar Jahre einmal irgendwo hinzugehen und zu sagen: "Hallo, guten Tag, wo setze ich mein Kreuz?"
Auf verlorenem Posten sieht sie sich nicht – trotz der vielen Nichtwähler in ihrem Bezirk: "Nein, wenn man den Beruf wählt, weiß man, dass man einen langen Atem haben muss."