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Claus Leggewie
"Es gibt eine Panik im Mittelstand davor, abgehängt zu werden"

Der Wohlfahrtsstaat ist in Deutschland nicht so demoliert wie andernorts, findet der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Die meisten Deutschen bekundeten aufrichtig, dass es ihnen gut gehe. Die soziale Ungleichheit habe aber zugenommen, sagte Leggewie im DLF. Populisten nähmen das zum Anlass, Ängste zu schüren.

Claus Leggewie im Gespräch mit Doris Simon | 30.12.2016
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie am 25. Februar 2015
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie am 25. Februar 2015 (dpa / picture alliance / Marcel Kusch)
    "Im Vergleich zum globalen Süden geht es uns Gold. Die meisten Deutschen sehen für sich und ihre Kinder eine gute Zukunft", so Leggewie. Allerdings gebe es zunehmend Menschen, die jahrzehntelang arbeitslos seien oder mit prekären Beschäftigungen lebten. Die ökonomische Globalisierung und die neoliberale Politik hätten viele Menschen ihrem Schicksal überlassen.
    Populistische Bewegungen nähmen das zum Anlass, Ängste zu schüren, sagte Leggewie. Im Mittelstand seien viele Menschen in Panik, abgehängt zu werden. Die Politik müsse diese tatsächlich oder vermeintlich Abgehängten mitnehmen. Dies sei allerdings eine Gratwanderung der politischen Kommunikation. Leggewie kritisierte in diesem Zusammenhang, dass in einer völlig undifferenzierten Weise über den Islam geredet werde. Auch die Flüchtlingsfrage werde völlig überschätzt. Es sei das Versagen der großen Volksparteien: "Wir haben eine rechtsautoritäre Welle".
    Zum künftigen US-Präsidenten Donald Trump sagte Leggewie, er glaube nicht, dass dieser ein Modell für Wahlkämpfe in Europa abgebe. Das habe man bereits in Österreich gesehen.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Viele unserer Nachbarn in Europa, die würden was dafür geben, wenn es bei ihnen wäre wie in Deutschland. Klar, bei uns gibt es Terroranschläge wie zuletzt, es gibt sinnlose Gewalt, bei uns finden Menschen keine Arbeit oder so schlecht bezahlte Arbeit, dass sie Angst haben müssen vor der Zukunft, aber im Vergleich mit den anderen Ländern in Europa steht Deutschland 2016 immer noch ziemlich gut da, aber relativieren ist das eine. Selten hat es bei uns so viel Ungewissheit gegeben. Es ändert sich viel – bei uns, um uns herum, und auf das meiste davon haben wir wenig oder keinen Einfluss. Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, jetzt am Telefon. Guten Tag!
    Claus Leggewie: Guten Tag, Frau Simon!
    Simon: Herr Leggewie, wie viel echte Unsicherheit steht hinter dieser Ungewissheit, die viele Leute bei uns fühlen?
    Leggewie: Ungewissheit bemisst sich nicht in Relation zu anderen. Wenn wir uns vor Augen halten, wie es nicht nur den vielen Menschen in Europa, sondern vor allen Dingen im globalen Süden geht, dann geht es uns natürlich wirklich Gold, aber diese Durchschnittswerte besagen überhaupt nichts für die Gefühlslage der Menschen. Es gibt Leute, die tatsächlich abgehängt sind, die sich also nicht messen an dem, wie es in Europa oder wie es im globalen Süden ist, sondern wie es Menschen, die um sie herum in Deutschland leben, oder ihnen im Fernsehen vorgeführt wird, geht. Das ist nichts, wo man sozusagen leicht objektivieren kann. Trotzdem ist es ja so, dass die meisten Deutschen, Umfragen zufolge, ihre eigene Zukunft, für die Zukunft Deutschlands, immer noch sehr positiv sehen. Das bedeutet, wir müssen uns auch nicht durch, sagen wir mal, Wutausbrüche und Elendserklärungen einer Minderheit so stark generalisiert abgehängt und bedroht und verunsichert fühlen, wie es oft wirkt. Die meisten Deutschen bekunden durchaus aufrichtig, dass es ihnen gut geht und dass sie eigentlich für sich und auch für ihre Kinder eine positive Zukunft sehen.
    Simon: Wen sehen Sie denn, wenn überhaupt, als gefährdet, bedroht durch wirklich Entwicklungen in Deutschland?
    "Auch gefühlte Ängste haben reale politische Auswirkungen"
    Leggewie: Na ja, auch in Deutschland hat die soziale Ungleichheit über Jahrzehnte zugenommen. Das war Produkt einer ökonomischen Globalisierung, die bestimmte Schieflagen erzeugt hat, das war auch Produkt einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, die viele ihrem Schicksal überlassen hat. Auch hier geht es wiederum den meisten Deutschen relativ gut. Der Wohlfahrtsstaat in Deutschland ist nicht so demoliert wie andernorts, aber gleichwohl sind viele tatsächlich abgehängt über Jahre, Jahrzehnte arbeitslos oder in prekären Beschäftigungen und vor allen Dingen im Mittelstand. Da rührt sich eine gewisse Verunsicherung, Angst, abzusteigen. Es gibt eine teilweise richtige Panik im Mittelstand, und das sind eben die Anlässe für populistische Bewegungen, solche Ängste und Verunsicherung eben auch noch zu schüren. Also auch hier: Deutschland steht relativ gut da, aber diese Verallgemeinerung kommt bei manchen nicht an. Sie sehen ihr eigenes Schicksal. Oft ist es den Tatsachen entsprechend, oft ist es auch eine gefühlte Angst, aber gleichwohl, auch gefühlte Ängste haben reale politische Auswirkungen.
    Simon: Sie sprachen gerade von Panik im Mittelstand – das ist der Titel auch eines sehr berühmten Buches, das die Krise von 1930 beschreibt, nämlich die Angst des Mittelstands damals in Deutschland. Historische Vergleiche funktionieren nicht, aber ist da irgendetwas parallel?
    Leggewie: Na, ich glaube schon, dass die funktionieren. 1930 hat Theodor Geiger, ein Soziologe, dieses Buch geschrieben und hat die Stimmungen in der unteren Mittelschicht, im Mittelstand insgesamt, glaube ich, ganz prägnant auf den Begriff gebracht. Wir haben heute ähnliche Stimmungslagen zu beobachten und auch ein Phänomen, das politisch gesehen, darauf eine Antwort gab, nämlich die Rückkehr von Protest- und Nichtwählern in das politische System in Gestalt von rechten und rechtsradikalen Parteien. Das ist etwas, was wir in ganz Europa, auch in den Vereinigten Staaten, beobachten. Das ist durchaus eine historische Lehre, die wir ziehen können, auch wenn die Situationen jeweils anders sind. Niemand behauptet, dass wir in der Situation des Jahres 1933 wären, aber vielleicht in der Situation des Jahres 1928, wo eben tatsächlich eine Panik im Mittelstand sich ausbreitete und die Antwort nicht war, die Ursachen der sozialen Ungleichheit tatsächlich in den Blick zu nehmen, das heißt auch die Verursacher – ein aus dem Ruder gelaufener Turbokapitalismus, ein Bankensystem, das nicht mehr funktioniert und dergleichen mehr –, sondern hier diese Verunsicherung, die entstehen, auf Minderheiten, auf Sündenböcke abzulenken, und genau das ist damals auch passiert. Damals war es im Wesentlichen der jüdische Teil der Bevölkerung, und jetzt sind es im Wesentlichen Muslime, die als Sündenböcke für eine Entwicklung herhalten müssen, die sie nicht verursacht haben, die sie aber genauso trifft und oft mehr trifft als diejenigen, die da in Panik geraten. Diese Verschiebung – ich nenne das immer einen falsch adressierten Klassenkampf –, diese Verschiebung von den tatsächlichen Schieflagen unserer Wirtschaft auf eine Politik, die gegen Minderheiten oder Flüchtlinge und Einwanderer gerichtet ist, das ist im Moment die große Herausforderung, das zu verhindern.
    Simon: Es gibt aber auch Kollegen von Ihnen, die sagen, es war demokratisch überfällig, dass die von Ihnen ja eben angesprochenen Nichtwähler und Enttäuschten abgeholt werden, und die anderen Parteien bei uns haben das ja anscheinend nicht geschafft.
    "Der Populismus hat seinen wahren Kern"
    Leggewie: Ja, das ist zweifelsohne richtig. Der Populismus hat seinen wahren Kern. Da ist immer etwas dran. Wir erleben eine Repräsentationskrise der repräsentativen Demokratie. Viele im Volk fühlen sich eben nicht mehr repräsentiert, viele fühlen sich tatsächlich sozialökonomisch, sozialkulturell, politisch-kulturell abgehängt, nicht mehr berücksichtigt. Es wird eine Sprache gesprochen, die dort nicht mehr ankommt. Das ist die eine Seite. Das heißt, man muss auf der einen Seite die tatsächlich oder vermeintlich abgehängten verstehen und versuchen, mitzunehmen, aber nicht um den Preis, dass man auf ihre Vorurteile, die sie eben auch entwickelt haben, und die sind, wie man im Wahlkampf von Trump besonders deutlich gesehen hat, eben rassistischer und sexistischer Natur, dass man die dann auch versteht und mitnimmt. Also man muss hier schon unterscheiden, und das ist eine ziemliche Gratwanderung der politischen Kommunikation. Auf der einen Seite die Lügner und Verdreher der Wahrheit, auch so zu bezeichnen und so zu nennen und sich nicht auf ihren postfaktischen Unsinn einzulassen, und auf der anderen Seite die berühmten Sorgen und Nöte tatsächlich aufzugreifen und zu verstehen. Ich denke, das ist die große Aufgabe, und so gesehen auch das Versagen der großen Volksparteien, die das eben nicht mehr geschafft haben. Man muss sich doch klar machen, dass wir im Bundestag eine virtuelle sozialdemokratische oder rot-rot-grüne Mehrheit haben. Wenn Sie Teile der CDU noch dazu nehmen, wird die immer breiter. Das heißt, es gibt so etwas wie einen sozialdemokratischen Konsens, aber der kommt ja sozusagen politisch nicht auf die Straße, der kann sich ja nicht wirklich einlösen, und was wir haben, ist eine rechtsautoritäre Welle, die immer stärker wird.
    Simon: Noch mal auf das Thema arm, reich und die wirklichen Probleme von Menschen bei uns im Land: Sie sprachen die USA an, wo es ja recht weitgehend gelungen ist, aus dem Thema arm, reich und der auseinanderklaffenden Schere ein Thema "Wir gegen die Fremden" zu machen. In den letzten Wochen haben wir verstärkt, auch bei uns, darüber berichtet über das Thema Armut in Deutschland. Haben Sie den Eindruck, dass sich gerade jetzt, auch mit Blick vielleicht auf den Wahlkampf in Deutschland, da die Akzente verschieben?
    Leggewie: Ich glaube weniger, dass Trump ein Modell ist für den deutschen Wahlkampf oder überhaupt für Wahlkämpfe in Europa. Man hat das bereits in Österreich gesehen, dass sowohl die Effekte des Brexit als auch die Wahl von Trump dort eher dazu geführt hat, dass man sich von diesem Muster des politischen Wahlkampfes, dass man sich davon distanziert hat. Gleichwohl wird die Frage sozialer Ungleichheit eine Bedeutung haben. Ich denke, dass Wirtschaft und Sozialpolitik auf den Prüfstand gehören. Ich denke auch, dass eine sozialprogressive Agenda, nämlich die Schließung der Ungleichheit, dass das auf die Agenda gehört, und das sind dann auch Themen, die eigentlich von uns jetzt hauptsächlich behandelt werden müssten. Ich will das mal ein bisschen locker so ausdrücken, dass ich sage, die Flüchtlingsfrage wird auch stark überschätzt. Das bedeutet, wir reden jetzt seit einem Jahr ununterbrochen über Flüchtlinge oder über den Islam in einer völlig undifferenzierten Weise, statt auf die Probleme der deutschen und europäischen Gesellschaften zu kommen, die jetzt wirklich zentral sind. Was wir brauchen, ist ein Themenwechsel, und wir müssen dann die Kräfte, die von rechts die Regierungsparteien oder die Oppositionsparteien zu Recht oder Unrecht kritisieren, auf den Prüfstand stellen, was sie eigentlich zu bieten haben, denn wir haben nun genügend AfD-Abgeordnete in Kommunal- und Landesparlamenten: Was die dort tun, ist keine besonders prächtige Bilanz.
    Simon: Sagt Claus Leggewie, der Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Herr Leggewie, danke für das Gespräch!
    Leggewie: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.