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Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung

Heinlein: Seit Anfang des Jahres wird getagt, geredet und vor allem zugehört. Das europäische Reformlabor, namens EU-Konvent produzierte bislang wenig Greifbares. Unter den Delegierten wächst deshalb die Ungeduld. Ein erstes Reformkonzept müsse auf den Tisch, so immer mehr Stimmen. Doch der Vorsitzende, der französische Ex-Präsident Giscard d'Estaing tritt auf die Bremse. Erst der Konsens, dann das Papier, so seine Maxime. Der Streit um das richtige Tempo könnte den Konvent sogar zum platzen bringen, heißt es aus manchen Ecken in Brüssel. Dabei herrscht Einigkeit über das Ziel: Das europäische Haus der Zukunft soll transparenter und demokratischer sein, fit für künftige Aufgaben und schlank trotz der Erweiterung. Heute wird in Brüssel vor der anstehenden Sommerpause Bilanz der bisherigen Arbeit gezogen und deshalb begrüße ich jetzt am Telefon das Konventsmitglied der Grünen, den österreichischen Europaabgeordneten Johannes Voggenhuber. Guten Morgen nach Wien.

    Voggenhuber: Guten Morgen.

    Heinlein: Herr Voggenhuber, seit fünf Monaten tüfteln die Delegierten. Ergebnisse - ich sagte es - gibt es noch nicht. Ist der Konvent einfach nur eine weitere europäische Palaver-Bude?

    Voggenhuber: Nein, das glaube ich ganz und gar nicht. Natürlich hat er viel zugehört, natürlich hat er viel geredet, natürlich wurde er vom Präsidenten auch mit französischer Eleganz, aber auch mit großer Beharrlichkeit daran gehindert, erste große Ergebnisse zu fixieren. Aber er hat bisher, glaube ich, einiges geschafft. Er hat das Heft in die Hand genommen. Er hat die Agenda für den Herbst bestimmt - es war sehr unklar, ob das wirklich gelingen würde. Er hat festgelegt, dass wir im September beginnen, über Texte zu sprechen. Er hat die Arbeitskreise auf alle zentralen Verfassungsmachtfragen ausgedehnt, die er seit Monaten wollte. Ja, vielleicht ist ein wenig mehr hinter den Kulissen passiert als vorher. Das ist für einen Wiener nicht ganz überraschend. Schließlich gab es auch den Wiener Kongress, bei dem mehr hinter den Kulissen als vorher passiert ist. Es gibt eine große parlamentarische Dynamik, die nicht so rebellisch, aber doch recht fest dem Präsidenten klar gemacht hat, dass der Verfassungsentwurf Europas entweder aus der Mitte des Konvents kommt oder gar nicht. Wir haben - um bei dem Seefahrerbild zu bleiben - die Küstenlinie des alten Europa hinter uns gelassen, das Europa von Nizza und Amsterdam, der gescheiterten Regierungskonferenzen und mangelnden Perspektiven. Das neue Europa ist am Horizont vielleicht noch nicht klar, aber es gibt einen Kurs.

    Heinlein: Herr Voggenhuber, bleiben wir einen Moment bei dem Präsidenten, Giscard d'Estaing, bei dem Vorsitzenden. Es gab ja an seiner Person und an seiner Führung des Konvents zum Teil recht heftige Kritik. Halten Sie diese Kritik für berechtigt?

    Voggenhuber: Ich würde es nicht als eine Kritik an der Person nehmen und mich interessiert auch nicht unbedingt das Psychogramm des Giscard d'Estaing, obwohl natürlich sein Verhalten manchmal sehr royale Maße annimmt. Er hat ein sehr fürstliches Auftreten.

    Heinlein: Haben Sie ein Beispiel für diese monarchische Konventsführung?

    Voggenhuber: Das muss man erlebt haben. Wenn ein Präsident einen ganzen Tag lang eine Debatte hört, in der sich 90 Prozent der Mitglieder des Konvents für die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta aussprechen oder für die Vergemeinschaftung der Bereiche der Regierungszusammenarbeit - Polizei, Justiz, innere Sicherheit - und er sich am Abend weigert, in den Schlussfolgerungen ohne eine Miene zu verziehen auch nur einen Satz darüber zu sagen, weil es ihm offenbar nicht in das Konzept passt, dann hat das schon etwas sehr Fürstliches.

    Heinlein: Wie groß ist denn die Ungeduld unter den Delegierten aus ja fast 30 Ländern, sich jetzt endlich auf ein Papier zu einigen?

    Voggenhuber: Ich glaube, die Ungeduld ist groß. Es geht noch gar nicht darum, sich auf ein Papier zu einigen. Es gibt einen Generalverdacht, der ja nicht von irgendwoher kommt. Das hat nichts mit der Person Giscard zu tun, sondern er wurde ja vom Rat eingesetzt. Er wurde ja nicht vom Konvent gewählt, das ist einer der Geburtsfehler, die der Rat dem Konvent aus Machtkalkül mitgegeben hat. Das Plenum besteht aus zwei Dritteln Parlamentariern, aber das Präsidium besteht zur Mehrheit aus Ratsmitgliedern. Diese Sollbruchstelle, die verhindern soll, dass etwas im Konvent geschieht, was den nationalen Regierungen nicht gefällt, das ist natürlich jener Konflikt, um den es hier geht. Und Giscard wurde ja für seine Eigenschaften und für seinen Ehrgeiz auf diese Position gehievt. Er ist sozusagen der Anwalt, der Garant, der Treuhändler des Rates, und manchmal verwechselt er sich wohl auch mit einem Vormund des Konvents. Demgegenüber sitzen sehr erfahrene Parlamentarier, ehemalige Regierungschefs, Minister, Parteichefs, Intellektuelle aller europäischer Parteien in diesem Konvent, die sich natürlich nicht einfach am Nasenring durch diese Diskussion führen lassen. Es gab schon vor Wochen eine Grenze, wo sich eine Rebellion angedeutet hat, aber Giscard war auch beweglich genug und schnell genug in seiner Auffassung, zu sehen, dass es jetzt zu einer wirklichen Gefahr kommt. Und er musste nachgeben. Er musste ja nicht zum ersten Mal nachgeben: Er hat bei der Geschäftsordnung nachgegeben, die wirklich mehr als fürstlich war. Hier hieß es einfach: Giscard entscheidet, Giscard bestimmt. Das hat der Konvent korrigiert.

    Heinlein: Herr Voggenhuber, im Herbst - Sie haben es gesagt - soll die Phase des Zuhörens nun endlich vorbei sein und die Phase der Vorschläge und Empfehlungen beginnen. Sind denn schon Konturen absehbar, wie die künftige europäische Verfassung, also das Ergebnis des Konventes aussehen soll?

    Voggenhuber: Also, im Schoß des Konvents hat sich viel vorbereitet, und der Konvent hat seine Zeit keineswegs nur mit Zuhören und Diskutieren verbracht, sondern hier gab es auch Formierungen im Konvent um die entscheidenden Aufgaben. Ich denke, ein Kurs ist ziemlich sicher. Der Konvent und eine europäische Verfassung wird sich im wesentlichen an drei Aufgaben messen lassen müssen: Eine europäische Demokratie, eine umfassende Demokratisierung dieses dunklen, undurchsichtigen Gebildes mit 100 Institutionen und 50 Entscheidungsverfahren, die niemand kennt, ein System von anonymen Ämtern und Behörden - das muss demokratisiert werden. Die Grundrechte müssen verankert, der Zugang zum Gerichtshof garantiert sein. Auf der einen Seite also die Handlungsfähigkeit der Union im Inneren und nach außen, außenpolitisch in der Welt, aber auch entscheidungsfähig bei 25 Mitgliedern - das heißt Mehrheitsentscheidungen, das heißt radikale Vereinfachung der Entscheidungsstrukturen, Öffentlichkeit aller Bereiche. Und schließlich die soziale Dimension der europäischen Integration. Wir müssen diese schwere Disbalance zwischen einer weit fortgeschrittenen wirtschaftlichen Integration - Binnenmarkt, gemeinsame Währung - und einer ganz schwach entwickelten politischen Integration überwinden. Wenn Europa keine Antwort auf die Globalisierung findet - und das kann nur ein soziales Europa sein -, dann werden wir den Humus für die Renaissance von Nationalismus, von extremer Rechte und ihren internen innergesellschaftlichen Verteilungskämpfen schaffen.

    Heinlein: Ein Satz zum Schluss, Herr Voggenhuber: Sie sind also durchaus optimistisch, dass am Ende der große Wurf, die europäische Verfassung im Konsens gelingen wird?

    Voggenhuber: Zuversichtlich, aber wachsam mit vielen Kollegen und ein bisschen argwöhnisch demgegenüber was der Rat wirklich will, aber mit einigem Vertrauen darauf, was so eine Versammlung, die sich mehr und mehr als eine verfassungsgebende Versammlung versteht, zustande bringen kann in einer so historischen Herausforderung.

    Heinlein: Der österreichische Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber zur bisherigen Arbeit des EU-Konvents. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Wien.

    Link: Interview als RealAudio