Müller: Herr Lindner, warum können Demokratien Wahlen fälschen?
Lindner: Was wir gerade in der Ukraine erleben ist in der Tat eine neue Qualität von demokratischer Bewegung. Juschtschenko hat gestern Abend einen entscheidenden Satz gesagt. Er hat gesagt: "Wir tun heute etwas, was wir 1991 hätten tun sollen." Im Grunde genommen passiert auf den Straßen von Kiew - und nicht nur dort übrigens - so eine Art nachgeholte Revolution. Das ist eine kritische Masse von Bevölkerung, die sich nicht mehr ignorieren lässt. Das Ergebnis wird sich nicht mehr - wie es bislang üblich war - aussitzen lassen oder durch administrative Maßnahmen still stellen lassen. Ich denke, die Menschen bringen dort etwas zu Ende, das sie in den Jahren 1988/89, als die Volksfrontbewegung noch anfing für Demokratie einzutreten infolge der Tschernobyl-Ereignisse und anderer Ereignisse. Da hat man begonnen, so eine Art Demokratie in den ukrainischen Medien, in den ersten Parlamentswahlen einzuüben und das scheint jetzt möglicherweise zu einem erneuten Höhepunkt zu gelangen.
Müller: Warum ist der Machtapparat schwächer geworden?
Lindner: Der Apparat spürt, dass es im Grunde eine große Menge von Widerstand gibt, dass es neben den unsäglichen materiellen Lebensverhältnissen, unter denen die Menschen zu leiden haben, inzwischen auch so etwas wie einen Bürgersinn gibt. Man sieht Transparente in den Demonstrationen da steht drauf: "Der Bürger bist du". Das erinnert uns so etwas an die Losungen "Wir sind das Volk". Das heißt ein Bürgersinn ist entstanden. Das ist glaube ich das Gefährliche, was der Apparat zu befürchten hatte, dass die Menschen merken, wir sind nicht alleine mit unserer Position, wir lassen uns bestimmte Dinge nicht mehr länger bieten. Wenn wir daran denken, welche Zahlen aus den Ostgebieten der Ukraine zu uns dringen, also dass über 100 Prozent Wahlbeteiligung statt gefunden haben sollen. Das zeigt, welche Zumutung der Apparat nicht nur seinen Bürgern abverlangt, sondern auch der internationalen Gemeinschaft im Grunde ein Ergebnis präsentieren will, was nicht nur nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann, sondern was einfach eine Zumutung für demokratisch denkende Menschen ist.
Müller: Hat die westeuropäische Politik im Vorfeld der Wahlen in der Ukraine demokratische Tendenzen und Strukturen ausreichend unterstützt?
Lindner: Ich denke, man hat auf jeden Fall erkennen lassen, wo die Sympathien nicht nur der Europäischen Union, des Europarates und anderen Institutionen liegen. Das gilt sowohl für die Europäer als auch für die Amerikaner, die doch sehr deutlich gemacht haben im Vorfeld des Wahlkampfes und auch im Wahlkampf selbst, wen sie unterstützen. Man hat noch einmal appelliert, zuletzt an Präsident Kutschmar, den Wahlen einen fairen Verlauf zu sichern. All das ist im Grunde ungehört verhallt, man kann sogar soweit gehen zu sagen, Kutschmar tritt in Unehren ab. Es ist ein letzter Dienst, den er seinem Staat eben nicht erwiesen hat, sondern er wollte versuchen, seine Macht in Form einer privatisierten Macht weiter zu reichen an seinen Nachfolger Janukowitsch. Ich glaube, es wird ihm nicht gelingen. Sicherlich hätten europäische Regierungen noch stärker signalisieren müssen, wo die Sympathien liegen. Man hätte womöglich auch mit einer deutlicheren Präsenz von europäischer Politik in Kiew und in anderen Städten aufwarten müssen. Das ist nicht passiert, das ist sicherlich auch ein Vorwurf, den wir formulieren müssen.
Müller: Warum ist das nicht passiert?
Lindner: Ich vermute, es ist nicht zuletzt deswegen nicht passiert, weil natürlich auch die starke Rolle Russlands ein Gewicht hat. Man weiß, dass gerade Putin in den letzten 14 Tagen zwei mal in Kiew war, ein unglaublicher Vorgang während eines Wahlkampfes und insofern muss man dieses Nichterscheinen auf der ukrainischen politischen Bühne als Reminiszenz, als Aufwartung gegen Russland deuten, was natürlich keineswegs zu rechtfertigen ist, denn Russland ist, das sehen wir allerorten nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Kasachstan ist auf dem Weg ein neoimperialer Staat zu werden, der diese Staaten wieder eng an sich bindet und insofern verdient es keine Rechtfertigung, dass man einem solchen Staat in dieser Weise entgegenkommt.
Müller: Vladimir Putin hat also klipp und klar die amtierenden Machtinhaber unterstützt mit seinen Besuchen in Kiew. Warum kann Putin schlechter mit Demokraten?
Lindner: Er kann schlechter mit Demokraten, weil er offensichtlich auch selbst ein demokratisches Defizit aufweist. Er selbst hat keinen Zweifel daran gelassen, dass ein Russland sein wird, das er regiert, was stärker sein wird als zuvor ein Russland unter Jelzin. Er hat erkennen lassen, dass es um die Wiedererschaffung einer Großmacht geht. Der Begriff "Großmacht" gehört von Beginn an zum Repertoire Putinscher Reden. Und zu einem Russland - das bringt das historische Verständnis dieses Staates mit sich, gehört auch eine Ukraine. Nicht nur die Krim, die ohnehin von Russland als Interessengebiet erster Ordnung angesehen wird, obwohl sie zur Ukraine gehört, nein auch die Ukraine insgesamt ist im engeren Sinne internationales russisches Interesse. Botschafter Tschernomyrdin in Kiew ist zugleich ranghoher Unternehmer bei Gasprom, man hat etwa 600 Millionen US Dollar in den ukrainischen Wahlkampf investiert. Das will man sich schlicht und ergreifend auch nicht nehmen lassen. Ich vermute da ist sehr viel Geld im Spiel, auch wenn wir an die ukrainischen Oligarchen denken, die zum großen Teil mit russischem Kapital in Verbindung stehen, das will man nicht anbrennen lassen. Insofern geht es hier sowohl um Macht, als auch um sehr viel Geld.
Müller: Ärgert Sie das in diesem Zusammenhang, dass Gerhard Schröder gestern Abend in der ARD gesagt hat: "Vladimir Putin ist ein aufrechter Demokrat."?
Lindner: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind in der Tat von einer besonderen Qualität und es macht natürlich viel aus, wenn deutsche Unternehmer stark in Russland investieren. Das mag auch ein Grund für eine solche Aussage sein, dass man es sozusagen mit förderlichen politischen Beziehungen zu tun haben will. Der Begriff Demokrat für osteuropäische Politiker oder für Regierungen, die in einer bestimmten Tradition politischer Kultur stehen, ist ohnehin sehr fragwürdig. Ich denke wir haben es immer schon zu Unrecht getan, westliche Begriffe auf bestimmte Politiker und Praktiken in Osteuropa anzuwenden. Das greift oftmals ins Leere und insofern ist eine solche Beziehung zwischen Russland und einer Demokratie sicherlich noch nicht...
Müller: …aber dennoch war es politisch opportun, weil legitim?
Lindner: Es ist wahrscheinlich politisch opportun aus Sicht von Gerhard Schröder dies zu tun. Er hat eine besondere Beziehung zu Putin selbst. Mit Blick auf die unterstützende Rolle Putins in der Ukraine ist das keineswegs gerechtfertigt.
Müller: Dr. Rainer Lindner war das, Osteuropa-Experte, von der Universität in Konstanz. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Lindner: Danke.