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Auf der Suche nach den kulturellen Traditionen

Heute vor 85 Jahren öffnete das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main seine Pforten. Es war Teil einer umfassenden Avantgarde, die das Jüdische nicht mehr nur einfach in der deutschen Kultur aufgehen lassen wollte, sondern nach den eigenen vergessenen Wurzeln suchte. Ein Grund dafür war, dass trotz der massenhaften Teilnahme jüdischer Männer im Ersten Weltkrieg das Klima in Deutschland eher das Trennende als die Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Nicht-Juden betonte.

Von Ruth Fühner | 17.10.2005
    Was heisst das eigentlich, Jude sein? Auf diese Frage wussten viele assimilierte Juden in der Weimarer Republik keine Antwort. Ihr Judentum wurde ihnen von aussen, von einer zunehmend antisemitischen Umwelt, vorgehalten - doch mit Inhalten konnten sie es nicht füllen. Aus diesem Mangel heraus entstand die sogenannte "Jüdische Renaissance", die auf den unterschiedlichsten kulturellen Feldern das spezifisch Jüdische wiederzubeleben - oder neu zu schaffen - versuchte. Das hatten sich im Jahr 1920 auch die Gründer der Jüdischen Volkshochschule in Frankfurt am Main zum Ziel gesetzt. Zu deren Leiter beriefen sie den jungen Historiker und Philosophen Franz Rosenzweig, der sich noch kurz zuvor beinahe hätte taufen lassen, in einer letzten Überprüfung dieses Schritts aber doch der Religion seiner Vorfahren treu blieb. Und jetzt suchte er nach Wegen,

    "Wie Christ-Juden, Nationaljuden, Religionsjuden, Abwehrjuden, Sentimentalitätsjuden, Pietätsjuden, kurzum Bindestrich-Juden, wie sie das 19. Jahrhundert geschaffen hat, ohne Lebensgefahr für sie und das Judentum wieder Juden werden können."

    Wieder Juden werden - das konnten sie nur in der Beschäftigung mit den kulturellen Traditionen ihres Volkes. Der erste Schritt dazu war bereits der Name, den Franz Rosenzweig der neuen Volkshochschule gab: Lehrhaus, in Anlehnung an die traditionelle Institution des hebräischen Beit Midrash. Rafael Rosenzweig, Franz Rosenzweigs Sohn, erinnert sich:

    "Alles war nach uralten Prinzipien aufgebaut und war doch blitzblank und neu. Hier wurde intensiv gelernt, das Studium der hebräischen Sprache genoss erste Priorität, man lernte die Bibel und auch das spätere Schrifttum. Man lernte jüdische Geschichte."

    Lehrer für diese Fächer waren allerdings nicht leicht zu finden. So weit war der Assimilierungsprozess fortgeschritten, dass große Teile der jüdischen Wissenstraditionen verschüttet waren. So entschloss sich Rosenzweig zu einem radikal neuen Schritt in der Erwachsenenbildung: zur Belehrung der Unwissenden durch die Unwissenden - learning by teaching, sozusagen.

    Rafael Rosenzweig:

    "Keiner der Lehrenden war nur Vortragsredner. Franz Rosenzweig verlangte, dass man sich gegenseitig in den Lehrhausstunden besuchte, diskutierte, die Jüngeren dazu anspornte, in aktivem Multilog dem Lehrstoff näher zu kommen. ((So konnte das erarbeitet werden, worauf es ankam: die Wiedervereinigung der Juden mit ihrer eigenen Überlieferung.)) Dieses Anknüpfen an die jüdische Überlieferung des gemeinsamen Lernens und Belehrens, die Wichtigkeit, die der Tatsache beigemessen wurde, dass nach Möglichkeit die Dozenten nicht nur Dozenten waren, sondern gerade aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus wirken sollten, war das Zentrum dieses gewagten Unternehmens."

    Und das Wagnis gelang. Vor allem deshalb, weil Franz Rosenzweig überaus charismatische Persönlichkeiten für das Lehrhaus gewinnen konnte - neben Martin Buber, Leo Löwenthal oder Gershom Scholem auch den Arzt Richard Koch oder den Chemiker Eduard Strauss, dessen Bibelstunden die Anwesenden, wie Zeitzeugen berichten, geradezu hypnotisiert verfolgten.
    Anders als die deutschen Volkshochschulen, die auf die Arbeiterklasse und die Mittelschicht zielten, hatte das Freie Jüdische Lehrhaus seine größten Erfolge im Grossbürgertum, dem, was Franz Rosenzweig sein "Crepe-de-Chine"-Publikum nannte. Diese Kreise hatten sich bisher kaum für Jüdisches interessiert - doch die Ausstrahlung des Lehrhauses erreichte auch sie. Im Jahr 1922 zählte es 1100 Hörer - und das waren viele im Vergleich zu den Hörerzahlen an deutschen Volkshochschulen. Rafael Rosenzweig:

    "In den wenigen Jahren seiner Existenz wurde das FJL in Frankfurt zu einer der zentralen Bildungsstätten der Juden in Deutschland. Es vereinte in seinen Veranstaltungen große Teile der politisch sehr zersplitterten Gemeinschaft - Zionisten und solche, die eine Rückkehr in das Alte Land ablehnten, Liberale und Orthodoxe, Konservative und Sozialisten fanden dort ihren Platz."

    1938, im Jahr der Pogromnacht, wurde das Freie Jüdische Lehrhaus geschlossen. Schon fünfzehn Jahre zuvor hatte der Dozent Richard Koch, fast schockierend hellsichtig gegenüber dem Schrecken, der kommen sollte, den Sinn seiner Tätigkeit so beschrieben:

    "Wenn unser geschichtliches Leid ... wieder kommt, dann wollen wir wissen, warum wir leiden, wir wollen nicht wie Tiere sterben, sondern wie Menschen, die wissen, was gut und schlecht ist ... Dass wir Juden sind, dass wir Fehler und Tugenden haben, ist von uns selber und anderen gesagt worden. Das Lehrhaus soll uns lehren, warum und wozu wir es sind."