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"Auf gar keinen Fall weiter wie bisher"

Die Bundeswehr befinde sich auf dem falschen Weg in Afghanistan, sagt Grünen-Politiker Christian Ströbele und fordert einen Verhandlungswaffenstillstand, um damit eine Abzugsperspektive zu erreichen. "Wir können doch nicht die, mit denen verhandelt werden soll, töten!", betont Ströbele.

Hans-Christian Ströbele im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.04.2010
    Christoph Heinemann: Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zum Einsatz in Afghanistan, Anhörung des Bundesverteidigungsministers zum Luftschlag von Kundus vor dem Untersuchungsausschuss - die Lage am Hindukusch bestimmt weiterhin die politische Tagesordnung. Karl-Theodor zu Guttenberg räumte ein, dass seine erste Bewertung des Luftangriffes von "als angemessen" ein Fehler gewesen sei, begründete das abermals damit, dass ihm zentrale Dokumente nicht vorgelegt worden seien. Die SPD fordert eine Gegenüberstellung des Verteidigungsministers mit seinen ehemaligen Spitzenberatern, seinem damaligen Staatssekretär Peter Wichert und dem früheren Bundeswehrgeneralinspekteur Wolfgang Schneiderhan. Die Bundeskanzlerin hatte den Einsatz zuvor verteidigt, Sigmar Gabriel, der in den letzten Tagen laut über ein neues Mandat nachgedacht hatte, relativ deutlich sogar auch. Wir hören den SPD-Vorsitzenden:

    O-Ton Sigmar Gabriel: Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich diesem Mandat und der damit verbundenen verantwortungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann sich auf unsere Zustimmung verlassen.

    Heinemann: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der übrigens an Stelle des Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier auf die Kanzlerin antwortete. – Am Telefon ist jetzt Hans-Christian Ströbele, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. Guten Morgen!

    Hans-Christian Ströbele: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Ströbele, die Linkspartei plakatiert in Nordrhein-Westfalen im Landtagswahlkampf mit "Raus aus Afghanistan". Beneiden Sie Die Linke?

    Ströbele: Nein! Wieso soll ich sie beneiden? – Ich halte einen Abzug, eine Abzugsstrategie auch für dringend erforderlich, aber ich setze mich dafür ein, dass ein Abzug in verantwortbarer Weise durchgeführt wird. Das heißt, dass vorher Verhandlungen geführt werden, um möglichst viel zu retten an dem, was inzwischen in Afghanistan aufgebaut worden ist.

    Heinemann: Also erst mal da bleiben und weiter wie bisher?

    Ströbele: Nein! Auf gar keinen Fall weiter wie bisher. Der entscheidende Fehler ist – und das habe ich gestern in den Reden der Kolleginnen und Kollegen vermisst -, dass wir derzeit in einem Offensivkrieg in Afghanistan gelandet sind, obwohl das ISAF-Mandat, nach dem die Bundeswehr dort eigentlich vorgehen sollte, ein reines Stabilisierungsmandat gewesen ist. Das heißt, die sollten überhaupt nur eingreifen und zur Waffe greifen, wenn sie selber, oder die afghanische Bevölkerung angegriffen werden, und das hat sich inzwischen völlig geändert und das wird sich in diesem Jahr noch viel mehr ändern. Es wird in ganz Afghanistan – das hat uns der General McChrystal im Auswärtigen Ausschuss gesagt –eine Großoffensive nach der anderen geben. Die eine läuft derzeit in Helmand, die soll noch Monate laufen, und so wird das dann weitergehen auch im Norden, auch um Kundus. Das heißt, es werden sehr viel mehr Menschen sterben, es werden sehr viel mehr Zivilisten umkommen, es wird die Gefahr auch für die deutschen Soldaten immer größer, und ich kann nur sagen, das ist der falsche Weg, das eskaliert den Krieg, anstatt ihn zu deeskalieren und zurückzufahren.

    Heinemann: Herr Ströbele, Experten schildern, dass die Taliban Nachschubkorridore aufgebaut haben von Pakistan aus. Soll die Bundeswehr da tatenlos zusehen?

    Ströbele: Die Bundeswehr soll natürlich, wenn es irgendwie Waffennachschub oder Ähnliches gibt, versuchen, das zu unterbinden.

    Heinemann: Mit offensiven Operationen?

    Ströbele: Nein! Sie soll nicht mit offensiven Operationen vorgehen; sie soll vor allen Dingen nicht die Leute, mit denen verhandelt werden soll, mit Killerkommandos versuchen, zu liquidieren, wie das die Amerikaner tun und wie das – jedenfalls besteht der Verdacht – auch Bundeswehrsoldaten sich an solchen Aktionen beteiligen. Da gibt es extralegale Hinrichtungen, da gibt es Gefangennehmen oder Töten, und in der Regel endet das mit töten. Die Amerikaner führen eine Strichliste - und diese Strichliste wird immer länger - von getöteten Personen.

    Heinemann: Herr Ströbele, man lernt ja nie aus. Ich habe auf Ihrer Internet-Seite gelesen, dass Sie Kanonier der Reserve sind. Wie würden Sie denn mit dieser Expertise jetzt diese feindlichen Nachschubwege ausschalten?

    Ströbele: Indem man sie anhält und die Waffen wegnimmt und die Taliban-Leute verhaftet.

    Heinemann: Aber man muss doch erst mal diese Nachschubwege nachhaltig auch ausschalten können, und das geht doch nur mit offensiven Operationen.

    Ströbele: Nein. Sie müssen doch sehen, dass bei diesen offensiven Operationen immer wieder sehr viele Menschen getötet werden, vor allen Dingen auch unbeteiligte Zivilisten. Das erleben wir jetzt bei der Großoffensive in Helmand. Da geht es ja nicht um die Nachschubwege, sondern da geht es um riesige Landstriche, die besetzt werden, wo Tausende von Menschen, von Einwohnern dort auf der Flucht sind vor diesem Krieg, vor den NATO-Truppen und natürlich auch vor den Aufständischen. Das sind ja übrigens nicht nur Taliban, das sind ja alles mögliche andere. Wir müssen doch mal zur Kenntnis nehmen, dass in den letzten drei, vier Jahren die Situation ungeheuer eskaliert ist, dass die Gewalt immer größer wird, und müssen irgendwann mal Schlussfolgerungen daraus ziehen und können nicht sagen, wir bleiben da einfach so und machen immer so weiter mit immer mehr Gewalt und immer mehr Kriegsführung.

    Heinemann: Das hat sich die Bundeswehr doch nicht ausgesucht.

    Ströbele: Die Bundeswehr ist dort freiwillig von uns dort hingeschickt worden, vom Deutschen Bundestag dort hingeschickt worden, von mir nicht, aber von der Mehrheit des Deutschen Bundestages. Die deutsche Bevölkerung will das in ihrer ganz großen Mehrheit nicht und wir können auch nicht so tun, dass die deutsche Gesellschaft hinter dem Einsatz der Bundeswehr, dieser Soldaten dort am Hindukusch steht. Wir müssen mal zur Kenntnis nehmen, dass die das nicht wollen, und ich meine, sie haben Recht, wenn sie das nicht wollen.

    Heinemann: Herr Ströbele, die Grünen und die SPD, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, um es mal genau zu sagen, haben die Bundeswehr in diesen Krieg geführt, oder, wie andere sagen, diesen nicht internationalen bewaffneten Konflikt. Der frühere SPD-Verteidigungsminister Peter Struck sagte damals, am Hindukusch würde auch die Freiheit Deutschlands verteidigt. Stimmte das jemals und wenn ja, stimmt es noch?

    Ströbele: Nein, das stimmt nicht. Das war Unsinn. Ich fürchte, dass unsere Sicherheit in Deutschland, in Europa mehr dadurch gefährdet wird, dass dieser Krieg ständig eskaliert wird, als dadurch, dass wir dort versuchen würden, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Ich setze mich dafür ein, dass die Offensivmaßnahmen, dass dieses Killen endlich eingestellt wird und dass man versucht, das zu machen, was Präsident Karsai immer mal wieder versucht hat, mit den Leuten zu reden, um zu einem Verhandlungswaffenstillstand zunächst zu kommen und dann zu einer Abzugsperspektive. Wir können doch nicht die, mit denen verhandelt werden soll, töten! Daraus entsteht neuer Hass, daraus entsteht neuer Terror, neue Terroristen, und das müssen wir doch irgendwann mal zur Kenntnis nehmen. Das hat selbst der General McChrystal erkannt.

    Heinemann: Also Rot-Grün hat die Bundeswehr unter falschen Voraussetzungen nach Afghanistan geschickt?

    Ströbele: Ich habe diese Entscheidung damals für falsch gehalten.

    Heinemann: Sie sind aber Grüner und Sie gehören der Partei an.

    Ströbele: Das weiß ich. Deshalb habe ich in diesem Punkte auch das Vorgehen meiner Partei, insbesondere der Fraktion damals nicht für gut geheißen.

    Heinemann: Also hat Rot-Grün die Bundeswehr unter falschen Voraussetzungen nach Afghanistan geschickt?

    Ströbele: Nein! Damals war man der Auffassung, dass mit einer Entsendung der Bundeswehr und der NATO nach Afghanistan, mit den zwei Einsatzmandaten, dass damit nach einem halben Jahr etwa in Afghanistan Frieden und eine demokratische, nicht korrupte Regierung eingesetzt werden könne.

    Heinemann: Nur Peter Strucks Begründung stimmte nicht?

    Ströbele: Die stimmte nicht! Das war reine Erfindung, um die deutsche Bevölkerung für den Krieg reif zu machen. Sie müssen doch auch mal sehen: Ich habe immer gesagt, das sind Kriegseinsätze, das ist ein Krieg dort. Inzwischen sagt das auch der Verteidigungsminister und inzwischen sagt das auch die Bundeskanzlerin. Man wollte das über viele Jahre nicht wahr haben, weil man fürchtete, dass dann die Ablehnung in der deutschen Bevölkerung noch viel größer wird, aber jetzt nennt man das beim Namen, bei dem es genannt werden muss.

    Heinemann: Hans-Christian Ströbele, Kanonier der Reserve und Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Ströbele: Auf Wiederhören.