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Aufarbeitung der Diktatur
Die Wut der jungen Chilenen

Vor 30 Jahren trat der chilenische Diktator Augusto Pinochet zurück. Doch die Folgen seiner Militärdiktatur sind bis heute spürbar. Seit Monaten protestieren viele Menschen in Chile für soziale Gerechtigkeit. Vor allem junge Chilenen wollen das Erbe der Diktatur nicht mehr länger tragen.

Von Felix Wellisch | 07.03.2020
Demonstration auf der Plaza Italia in Santiago de Chile
Demonstranten protestieren auf der Plaza Italia in Santiago de Chile gegen ihre Regierung (imago images / Aton Chile / Jonnathan Oyarzun)
Ein paar Schritte vom Regierungspalast in Chiles Hauptstadt Santiago liegt die Calle Londres. Es ist eine idyllische Pflastersteingasse, doch hinter der Hausnummer 38 befindet sich die ehemalige Folterkammer der Militärdiktatur. Erika Hennings öffnet die schwere Holztüre. Die Frau mit den schwarzen Locken ist Vorsitzende der heutigen Gedenkstätte. 1974 wurde sie als Gefangene hierher verschleppt, zusammen mit ihrem Mann Alfonso Chanfreau:
"Als ich hier ankam, sah ich 50, 100 Leute mit Augenbinden und da war mir schon klar, was hier passiert. Sie haben mich direkt nach oben gebracht und dort sah ich, wie sie Alfonso folterten."
Aktivisten in Buenos Aires setzen sich für chilenische Proteste ein.
Was hinter den Protesten in Lateinamerika steckt In vielen Ländern Lateinamerikas gehen die Menschen gegen ihre Regierungen auf die Straße. Lateinamerika-Kennern zufolge leiden diese Länder alle unter ähnlichen Problemen.
Die beiden sind damals Anfang 20 und Teil der Widerstandsgruppe MIR, der sogenannten Bewegung der revolutionären Linken. Viele ihrer Gefährten werden schon in den ersten Monaten nach dem Putsch verhaftet oder ermordet. Nach 13 Tagen in Londres nehmen die Wächter Alfonso Chanfreau mit. Es ist das letzte Mal, dass Hennings ihren Mann sieht.
"Ich weiß bis heute nicht, ob sie ihn ins Meer geworfen, oder irgendwo begraben haben."
Proteste seit Oktober 2019
Über 3.000 Menschen wurden während der Diktatur ermordet oder verschwanden spurlos. Fast 40.000 wurden gefoltert. Für diese Verbrechen säßen nur etwa 100 Personen im Gefängnis, sagt Hennings. Es fehle bis heute Aufklärung und Gerechtigkeit. Und nicht nur das: Die Proteste, die Chile seit Oktober vergangenen Jahres erschüttern, seien letztlich eine Folge der Diktatur.
Obwohl die Polizei brutal gegen Demonstranten vorgeht, versammeln sich jede Woche tausende Chilenen auf der Plaza Italia in Santiago. Sie singen "Chile ist aufgewacht".
Francesca Mendoza ist seit dem ersten Tag dabei, seit dem 18. Oktober 2019. Die 27-jährige Lehrerin trägt einen Fahrradhelm, eine Atemmaske und eine Plastikbrille - gegen die Geschosse der Polizei.
"Als am ersten Tag die Polizeiautos kamen, hatten sich die Leute schon mit Steinen bewaffnet. Mein erster Stein war für mich ein Stein der Erleichterung. Diese soziale Explosion in Chile kam zum richtigen Zeitpunkt. Die ganze Unzufriedenheit, die die Leute plötzlich raus ließen – das war auch meine Unzufriedenheit."
Versuchslabor des Neoliberalismus
Während der Diktatur wurde Chile zum Versuchslabor des Neoliberalismus. Bildung, Gesundheits- und Rentensystem sind privatisiert. Wer studieren will, muss zwischen 5.000 und 10.000 Euro pro Jahr bezahlen. Dabei verdient die Hälfte der Bevölkerung unter 500 Euro im Monat. Beim Aufräumen mit der Vergangenheit geht es aber nicht nur um wirtschaftliche Aspekte.
16.11.2019, Chile, Santiago de Chile: Jüngere Menschen mit Flaggen protestieren gegen die Regierung auf der Plaza Italia im Zentrum von Chile.
Die Wut auf ein ungerechtes Bildungssystem
Schüler und Studierende in Chile fordern eine Reform des Bildungssystems. Denn Schulen und Universitäten sind weitgehend privatisiert, nur eine kleine Elite kann sich eine gute Ausbildung leisten.
Mendozas Vater war schon unter Pinochet Polizist. Weil die Tochter mitdemonstriert und "Chaos veranstaltet hat", wie der Vater sagt, kam es im Oktober zum Streit.
"Ich liebe meinen Vater sehr, aber in diesem Moment begann für mich diese Vaterfigur zu schwanken und ich dachte: ‚Wenn mein Papa heute so denkt, was hat er dann erst in der Diktatur gemacht?‘"
Doch ihr Vater schweigt. Wie die meisten Militärs und Polizisten will er über die Vergangenheit nicht sprechen.
"Ob er wirklich an Morden oder Folter beteiligt war, das weiß ich nicht."
Auf der Plaza Italia steht Pepe Rovano. Der 43-Jährige ist ebenfalls Sohn eines Polizisten – und er hat über die Taten seines Vaters Gewissheit.
"Mein Vater hat sechs Mitglieder der kommunistischen Partei ermordet. Dafür wurde er 2007 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, hat aber nicht einen Tag im Gefängnis verbracht. Das nennt man Straflosigkeit."
Chile stimmt auch über die Vergangenheit ab
Als Augusto Pinochet am 11. März 1990 zurücktrat, gab es in Chile keinen harten Bruch mit der Diktatur, sondern ein Übereinkommen mit den Militärs. Mit einem Amnestiegesetz hatten die Generäle vorgesorgt: Taten zwischen 1973 und 1978 konnten lange Zeit nicht bestraft werden. Davon profitierte Rovanos Vater, der 2007 verurteilt aber schon wenige Monate später amnestiert wurde. 2015, auf der Beerdigung seines Vaters trifft Rovano eine Entscheidung.
Er gibt Interviews, die er mit seinem Vater geführt hatte, ans Gericht weiter. Damit kann der Prozess neu aufgerollt werden, um ihn posthum endlich zur Verantwortung zu ziehen. Ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit, doch von vielen Verschwundenen fehlt bis heute jede Spur.
"Die Militärs wissen, wo die Verschwundenen begraben sind. Es gibt einen Pakt des Schweigens. Warum sagen die uns nicht, wo sie sind? Um ihnen eine Blume ans Grab zu legen. Denn wenn man dieses Verschwinden nicht beendet, wird der Schmerz vererbt, von Generation zu Generation."
Am 26. April stimmt Chile darüber ab, ob die Verfassung aus der Diktatur durch eine neue ersetzt werden soll. Die Chilenen werden an diesem Tag nicht nur über ihre Zukunft entscheiden, sondern auch über den Umgang mit ihrer Vergangenheit.