Donnerstag, 28. März 2024

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Aufarbeitung des Kolonialismus
"Kein philosophisches Denken ist heilig"

Der Kolonialismus hat bis heute Spuren in unserem Denken hinterlassen. Um sie zu beseitigen, müsse die Geschichte der Philosophie neu gedacht werden, sagte die Philosophin Nadia Yala Kisukidi im Dlf: "Es gibt eine Sammlung von Idiotien in der Philosophie und die muss man zerpflücken."

Nadia Yala Kisukidi im Gespräch mit Änne Seidel | 19.07.2020
Statue von Immanuel Kant in Kaliningrad.
In der Kritik: Im Zuge der Dekolonisierung wird auch über die Schriften Immanuel Kants diskutiert. (imago images/imagebroker/Gabriele Thielmann)
Im Rahmen des Denkfabrik-Themas 2020 "Dekolonisiert euch" widmen wir uns in der Sommerreihe der Sendung "Kulturfragen" dezidiert nicht-weißen Positionen.

Übersicht: Postkoloniale Denkerinnen im Gespräch

27.06. Westliche "Ignoranz gegenüber der eigenen Ignoranz"
05.07. "Völkerkundliche Museen und rassistische Gedanken"
19.07. Die Geschichte der Philosophie muss neu gedacht werden
26.07. Was hat die Kolonialideologie bedeutet?
02.08. Sind Objekte aus kolonialen Kontexten Raubgut?22.08. Wie dekolonisiert man Sprache?
Die Phiiosophin Nadia Yala Kisukidi beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Dekolonisierung des Denkens. Sie wurde 1978 in Brüssel geboren, als Tochter eines Kongolesen und einer Franko-Italienerin. Sie war Vizepräsident des Collège International de Philosophie in Paris und lehrt heute an der Universität Paris 8.
Achille Mbembe und Felwine Sarr bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensee", einem Forum für afrikanische Intellektuelle
Philosophie und Gesellschaft - Subsahara-Afrikas postkolonialer Diskurs Sklavenhandel, Kolonialismus, Rassismus: Die psychischen und sozialen, die politischen und ökonomischen Folgen sind Angelpunkt des Denkens im postkolonialen Diskurs. Dessen Vertreter sind der Historiker Achille Mbembe aus Kamerun und der Ökonom Felwine Sarr aus dem Senegal.


Es werde mittlerweile anerkannt, dass im Namen des Kolonialismus Verbrechen geschahen und dass er wirtschaftliche Ungerechtigkeiten geschaffen hat, sagte Kisukidi im Dlf. Aber es falle noch schwer, einzuräumen, dass es auch auf dem Gebiet des Denkens und in unserer Vorstellung Ungerechtigkeit gibt. In ihrer Disziplin, der Philosophie, sei etwa immer noch ein falsches Bild des afrikanischen Kontinents verbreitet - nämlich das Bild eines Kontinents ohne Geschichte, ohne Schriftkultur und ohne Philosophen. Dieses Bild gehe auf die Denker und Autoren der Kolonialzeit zurück.
Dialog der Gedanken
Es sei daher wichtig, die Philosophie zu dekolonisieren: "Es geht darum, einen Komplex aus Ungerechtigkeit, Gewalt und Dummheit aufzulösen, der uns weismachen will, es gäbe Denkwüsten." Hierfür sei es nötig, entsprechende Schriften gründlich und kritisch zu durchleuchten. Dabei dürfe man nicht vor denjenigen Denkern Halt machen, die in Europa bevorzugt gelesen werden, wie etwa die Philosophen der Aufkärung: "Dieser großartige Augenblick der Moderne, den man mit Fortschritt und Vernunft verbindet, erscheint in einem ganz anderen Licht, wenn man ihn aus dem Blickwinkel von Personen betrachtet, die versklavt wurden."
Verschiedene Uniformen der Schutztruppe, koloniale Truppen in den afrikanischen Gebieten des Deutschen Kolonialreichs vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918.
Chancen und Grenzen eines postkolonialen Denkensolonialismus Der Kolonialismus scheint Geschichte. Doch selbst im wissenschaftlichen Denken, das doch universell sein soll, herrschen nach wie vor eurozentristische Maßstäbe vor – verbreitet von Kolonisatoren, aber auch Aufklärern. Nicht nur im Globalen Süden kämpfen Forscher für eine postkoloniale Denkweise.
Es gehe ihr aber keineswegs darum, ein Autodafé zu veranstalten oder "den Kampf der Kulturen, so wie Samuel Huntington ihn versteht, auf die Theorie zu übertragen", so die Philosophin. Vielmehr wünsche sie sich einen Dialog der Gedanken, Ideen und Probleme.