Dienstag, 19. März 2024

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Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs
Muster des Wegschauens

Hat Heinrich Maria Janssen, ehemaliger katholischer Bischof von Hildesheim, vor mehr als 50 Jahren einen Messdiener sexuell missbraucht? Und wurde das vertuscht? Das Bistum ließ jetzt ein Gutachten erstellen. Demnach sei die Gefährdung von Kindern damals "wissentlich in Kauf genommen worden".

Florian Breitmeier im Gespräch mit Monika Dittrich | 17.10.2017
    "Canisius Kolleg, Jesuitengymnasium" ist auf der Tafel vor dem Canisius-Kolleg am 22.01.20015 in Berlin zu lesen.
    Hätten sexuelle Übergriffe verhindert werden können? (dpa / picture-alliance / Stephanie Pilick)
    Monika Dittrich: Viele Institutionen haben ein Problem mit sexueller Gewalt, auch die katholische Kirche. Jahrzehntelang und immer wieder kam es vor, dass Priester, Ordensleute oder kirchliche Lehrer die ihnen anvertrauten Kinder zu sexuellen Handlungen zwangen. Das ist in Deutschland und in anderen Ländern passiert. Viele dieser Verbrechen sind längst belegt und bewiesen – und es kommen immer noch neue Fälle ans Tageslicht. Manche liegen weit zurück in der Vergangenheit. So ist es auch im Bistum Hildesheim: Erst 2015 wurde der damals längst verstorbene ehemalige Bischof Heinrich Maria Janssen beschuldigt, sich vor mehr als 50 Jahren wiederholt an einem Messdiener vergangen zu haben. Auch ein weiterer, mittlerweile pensionierter, Priester im Bistum Hildesheim soll Kinder zu sexuellen Handlungen genötigt haben. Das Bistum hat ein unabhängiges Gutachten in Auftrag gegeben – und das wurde nun veröffentlicht. Mein Kollege Florian Breitmeier ist beim NDR zuständig für Religions- und Kirchenthemen und er beobachtet die Debatte in Hildesheim von Anfang an. Herr Breitmeier, was hat das Gutachten ergeben?
    Florian Breitmeier: Also die Gutachter werfen dem Bistum Hildesheim und dem Jesuitenorden im Umgang mit sexualisierter Gewalt schwere Versäumnisse und gravierende Fehler vor. Die Forscher machen – wie sie es nennen – ein "Muster des Wegschauens" aus. Dies betrifft zum einen den Fall des pensionierten Priesters Peter R., der bereits im Zentrum des Missbrauchsskandals 2010 am Berliner Canisius Kolleg stand. Elf Fälle mit Missbrauchsvorwürfen gegen Peter R. haben die Forscher allein für den Verantwortungsbereich des Bistums Hildesheim gezählt – möglicherweise sei das aber nur die Spitze des Eisbergs, hieß es gestern bei der Pressekonferenz. Das Bistum habe demnach Ansatzpunkte für straf- und kirchenrechtliche Ermittlungen ignoriert und dem Beschuldigten nie wirksam Grenzen aufgezeigt.
    Der zweite Fall betrifft – Sie haben es angesprochen, Frau Dittrich – den Fall des 1988 verstorbenen Bischofs Heinrich Maria Janssen. Hier kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass sich der Missbrauchsvorwurf eines früheren Messdieners, die 50er- und 60er-Jahre betreffend, weder beweisen noch entkräften lässt.
    Der ehemalige Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen, aufgenommen 1979 am Rande der Bischofskonferenz in Fulda.
    Dem 1988 verstorbenen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen wird vorgeworfen, einen Messdiener jahrelang zu sexuellen Handlungen gezwungen zu haben (dpa)
    Neue Zeugenaussagen für diesen Fall habe es nicht gegeben. Es gibt zwar drei weitere Personen, so nennen das die Forscher, die Vorwürfe gegen Bischof Janssen erheben, diese Vorwürfe sind nach Einschätzung der Gutachter aber nicht geeignet, die konkreten Vorwürfe des Messdieners zu bestätigen.
    "Eine Kultur des Totschweigens"
    Dittrich: Von einem "Muster des Wegschauens" ist in dem Gutachten die Rede – Sie haben das zitiert. Was heißt das genau? Wer hat wie weggeschaut?
    Breitmeier: Also den Verantwortlichen des Bistums Hildesheim war zu einem Zeitpunkt der 80er-Jahre, 1989, bekannt, dass Peter R. im Missbrauchsskandal des Berliner Canisius Kolleg stand. Er ist dann nach Hildesheim versetzt worden, war damals noch im Jesuitenorden. Und Hinweise auf mögliche Übergriffe, Verdachtsmomente, Missbrauchsvorwürfe, die immer wieder deutlich wurden, wurden nicht konsequent in Hildesheim verfolgt. Peter R. wurde immer wieder versetzt: Von Hildesheim nach Wolfsburg, später nach Hannover.
    Hier gab es also eine Kultur des Wegschauens, auch eine Kultur des Totschweigens. Denn es wurde deutlich bei der Pressekonferenz gestern in Hildesheim, dass auch die Aktenführung, die Aktenlage im Bistum Hildesheim, was die Personalie Peter R. angeht, unvollständig ist. Es drängte sich der Eindruck auf, es sollte, wenn Peter R. im Zentrum von Gesprächen im Bistum stand, ja nichts nach außen dringen, dass da nicht möglicherweise ein ganzer Rattenschwanz an möglichen Verfehlungen deutlich wurde.
    Und hier zeigt sich schon für mich, dass innerhalb der katholischen Kirche es ein großes Problem gibt, was nämlich die Verantwortung nach unten anbetrifft. Der damalige Missbrauchsbeauftragte, Weihbischof Heinz-Günter Bongartz hat in einem konkreten Gespräch mit einem 14-jährigen Mädchen 2010 festgestellt für sich, das sei kein sexueller Missbrauch. Und wenn ein Hierarch innerhalb der katholischen Kirche für sich einmal eine solche Entscheidung trifft, dann – und das hat der Fall in Hildesheim gezeigt – gibt es keinerlei Institutionen offenbar innerhalb der Kirche, die hier korrigierend eingreifen können. Also, das Problem der Verantwortung nach unten ist ein strukturell hierarchisches verankertes in der katholischen Kirche.
    "Eine mangelnde Fehlerkultur"
    Dittrich: Das heißt, dieser Fall – oder diese Fehler, die jetzt im Bistum Hildesheim gemacht wurden – sind exemplarisch für die katholische Kirche? Kann man das so sagen?
    Breitmeier: Das würde ich in diesem Falle so sagen, zumindest gilt das bis zum Jahr 2010. Danach haben ja die Missbrauchsfälle, die bekannt geworden sind, auch vielerorts zu einem Umdenken geführt. Die Präventionsarbeit wurde noch einmal geschärft, die katholischen Bischöfe haben sich Leitlinien gegeben, wie man in Fällen von sexualisierter Gewalt umgehen soll.
    Es zeigt sich aber in dem Hildesheimer Fall noch einmal besonders, dass Verantwortliche innerhalb der Bistümer mit dieser Welle, die 2010 über sie hinweggerollt ist, auch persönlich überfordert gewesen sind – das hat Weihbischof Bongartz gesagt. Er erzählt, es haben sich so viele Leute 2010 gemeldet, dass er irgendwann nicht mehr Herr der Lage war.
    Weihbischof Heinz-Günter Bongartz bei der Vorstellung des Gutachtens in Hildesheim am 16.10.2017
    Weihbischof Heinz Günter Bongartz war 2010 überfordert mit der großen Zahl von Missbrauchsfällen (imago stock&people / Rainer Droese)
    Und hier zeigt sich ein zweiter wichtiger Punkt, der, glaube ich, bei der katholischen Kirche eine große Rolle spielt: Nämlich einerseits eine mangelnde Fehlerkultur, welche Fehleroffenheit herrscht innerhalb der katholischen Kirche. Und wie gehe ich mit einer möglichen Kultur des Scheiterns um? Das heißt: Was hat dazu geführt, dass ein Weihbischof – oder damals Missbrauchsbeauftragter und Personalchef eines Bistums – nicht in der Lage ist, gegenüber Vorgesetzten zu erklären: Ich kann das alleine nicht schaffen, ich bin überfordert.
    Hier gibt es einen Drang dazu, innerhalb der katholischen Kirche, lange Zeit die Dinge alleine zu regeln: "Das klären wir unter uns". Aber den Blick von außen nicht einzuholen oder sich einzugestehen: Ich bin damit überfordert.
    Dittrich: Wenn wir nun auf diesen Fall des früheren Bischofs Janssen schauen, der ist 1988 gestorben. Die mutmaßlichen Taten sollen in den 50er- und 60er-Jahren stattgefunden haben. Warum ist das wichtig, so etwas heute noch aufzuarbeiten?
    Breitmeier: Weil sich in dem Fall Bischof Janssen ein Kommunikationsdilemma des Bistums zeigt: Auf der einen Seite hatte man dem Mann, der die Vorwürfe erhoben hatte, eine Anerkennungszahlung für das erlittene Leid gezahlt – in Absprache auch mit der zentralen Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn. Auf der anderen Seite wollte das Bistum aber deutlich machen, dass mit der Zahlung der Anerkennung des erlittenen Leids kein Schuldeingeständnis der Kirche verbunden ist.
    Es ist deshalb in dieser Form bedeutsam, dass dieses Kommunikationsdilemma auch zu einer Eskalation in diesem Fall geführt hat, denn der Betroffene fühlte sich ab einem Zeitpunkt nicht mehr ernstgenommen vom Bistum Hildesheim. Er ging ja dann später auch an die Öffentlichkeit. Es ist deshalb wichtig, weil auch hier die Institution der katholischen Kirche meint, das Bistum Hildesheim, möglicherweise mit der zentralen Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz allein, die Bewertung eines mutmaßlichen Missbrauchsfalls vorzunehmen. Und hier stellt sich schon die Frage, ob es nicht nötig ist, den Blick von außen sich zu holen, dass auch Experten von außen solche Fälle mitbewerten können. Denn die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz, die sich ja die Bischöfe gegeben haben 2013, wie mit Fällen sexualisierter Gewalt umzugehen ist, zeigen eben auch eine mangelnde Differenzierung. Das ist gestern in dem Bericht der Forscher noch einmal deutlich geworden.
    "Kulturwandel in der katholischen Kirche seit 2010"
    Dittrich: Herr Breitmeier, Ihrer Einschätzung zufolge: Würden Sie sagen, dass Kinder in der katholischen Kirche heute besser vor sexueller Gewalt geschützt sind als noch vor einigen Jahren?
    Breitmeier: Das muss man auf jeden Fall bejahen. Das Jahr 2010 hat zu einem Kulturwandel in der Kirche geführt, der aber noch nicht abgeschlossen ist, sondern es ist ein währender Prozess. Wenn Sportvereine, Jugendverbände, Musikvereine, Chöre dasselbe aufgelegt hätten an Präventionsarbeit, was bislang die katholische Kirche getan hat, dann stände es um das Kindeswohl und den Kindesschutz in Deutschland sicherlich besser. Hier ist sehr viel getan worden. Aber "it never ends", es hört nie auf, sich um Prävention zu kümmern. Das zeigt auch der Fall Hildesheim.
    Dittrich: Sagt Florian Breitmeier, wir sprachen über sexuelle Gewalt gegen Kinder in der katholischen Kirche. Vielen Dank nach Hannover.