Mittwoch, 24. April 2024

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"Aufforderung nach mehr Zivilcourage ist überfällig"

Angesichts der steigenden Zahl rechtsradikaler Gewalttaten hat der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, mehr Zivilcourage gefordert. Es müsse wieder zur gesellschaftlichen Normalität werden, dass Leute bei unakzeptablem Verhalten intervenierten, sagte Lammert. Die Kritik am ehemaligen Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, der WM-Besucher mit dunkler Hautfarbe vor bestimmten Gegenden in Ostdeutschland gewarnt hatte, ist für Lammert nicht nachvollziehbar. Fehlentwicklungen und Sachverhalte müssten benannt werden.

Moderation: Elke Durak | 23.05.2006
    Elke Durak: Warum schlagen immer häufiger, immer mehr meist junge Deutsche auf Ausländer, auf Nicht-Weiße ein? Weshalb können sie sich das herausnehmen? Weshalb lassen wir so etwas zu? Drei Fragen zu einem Bericht und einer laufenden Diskussion. Stichwort Reisewarnung und Verfassungsschutzbericht. 2005 gab es mehr Rechtsextremisten, mehr rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten und mehr Neonazis in Deutschland als im Jahr zuvor. Das verzeichnet eben dieser Verfassungsschutzbericht, den Bundesinnenminister Schäuble gestern vorgestellt hat. Thema jetzt im Gespräch mit Bundestagspräsident Norbert Lammert. Schönen guten Morgen Herr Lammert!

    Norbert Lammert: Guten Morgen Frau Durak!

    Durak: Wie erklären Sie sich diese zunehmende Gewalt rechtsextremistischer Natur?

    Lammert: Ich habe keine wirklich überzeugende Erklärung dafür, weil alles was an Überlegungen in diesem Zusammenhang vorgetragen wird doch ein bisschen auch die Verzweiflung zum Ausdruck bringt, eine Erklärung finden zu wollen. Aber auch wenn man Verständnis dafür haben muss, dass beispielsweise junge Leute bei der häufig wirklich verzweifelten Suche nach Arbeits- oder Ausbildungsplätzen zu Reaktionen neigen, die sich vernünftig nicht begründen lassen, ist dies ja keine wirkliche Erklärung, denn schwierige Situationen hat es auch früher gegeben, ohne dass sich das in einer solchen völlig unakzeptablen Weise ausgedrückt hätte.

    Durak: Aber wir müssen doch eine Antwort finden, Herr Lammert. Wir können es doch nicht zulassen, dass immer mehr Gewalt um sich greift.

    Lammert: Ja, das ist völlig richtig und wir müssen uns vor allen Dingen auch angewöhnen, Entwicklungen, die von Fachleuten – das gilt ja jetzt nicht nur für das Thema Extremismus; das gilt auch für andere Entwicklungen in unserer Gesellschaft – festgestellt werden, mit der notwendigen Sorgfalt aufzugreifen, bevor die spektakulären Ereignisse die Aufmerksamkeit erzwingen.

    Ich will im Übrigen auf einen vermeintlichen Randaspekt gleich aufmerksam machen. Sie haben jetzt auch ausschließlich darauf hingewiesen, dass nach dem Verfassungsschutzbericht des Innenministers die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in Deutschland gestiegen sei. Im gleichen Bericht findet sich, dass die Zahl linksextremistisch begründeter Gewalttaten in einem noch stärkeren Maße gestiegen ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass von dem zweiten Teil des Befundes die deutsche Öffentlichkeit bisher überhaupt Kenntnis genommen hat.

    Durak: In den Berichten über den Verfassungsschutzbericht schon, jedenfalls auch in unserem Programm, Herr Lammert. Es ist nur so, dass Menschen vornehmlich zu Tode kommen oder schwer verletzt werden durch rechtsextreme Gewalttaten. Ich würde gerne noch mal auf dieses Gedankengut bei den jungen Leuten kommen. Irgendetwas muss doch in den Köpfen dieser vornehmlich jungen Menschen passiert sein, geschehen oder nicht passieren, dass sie sich einfach etwas herausnehmen, was laut Grundgesetz Artikel I eigentlich ein Muss in dieser Gesellschaft ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

    Lammert: Ja, das ist völlig richtig, wobei es sicher weniger darauf ankommt, sich über diese Formulierung des Grundgesetzes im Klaren zu sein, sondern über eine Reihe von Mindestanforderungen an Anstand, an Umgangsformen untereinander, die offenkundig vom Elternhaus über die Schule bis zum Betrieb nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit vermittelt werden, wie man das für eine zivilisierte Gesellschaft erwarten muss.

    Durak: Weshalb ist das so?

    Lammert: Sie wiederholen jetzt die erste Frage und ich wiederhole meine erste Antwort. Wenn ich dafür eine überzeugende Erklärung hätte, wären wir alle miteinander, weil dann andere diese Erklärung sicher auch hätten, in der Überwindung dieses Problems vermutlich etwas weiter.

    Durak: Herr Lammert, der Bundesinnenminister hat, als er gestern seinen Verfassungsschutzbericht vorgestellt hat, auch an die Bürger, an die Gesellschaft, an jeden von uns appelliert, mehr Zivilcourage zu zeigen. Haben die Bürger, hat der Staat den Extremisten und insbesondere den Rechtsextremisten bisher zu wenig die Faust gezeigt?

    Lammert: Das ist eine interessante Frage. Man kann mit einiger Berechtigung sagen, auch ein bisschen akzentuiert zugegebenermaßen, dass wir bislang die Auseinandersetzung mit solchen, völlig unerträglichen Übergriffen im Wesentlichen der Polizei überlassen, um dann gleichzeitig die Polizei mit dem Verdacht von Überreaktionen und zu hartem Durchgreifen zu konfrontieren, womit nach meinem Empfinden geradezu eine Verdoppelung der Ignoranz zum Ausdruck kommt, die sich diese Gesellschaft vorwerfen lassen muss im Umgang mit solchen Übergriffen.

    Die Aufforderung nach mehr Zivilcourage ist leider nicht originell, aber absolut überfällig. Jeder der beispielsweise in Berlin oder in anderen Großstädten zu späten Zeiten in Randregionen der Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kennt dieses Gefühl eines irgendwo latenten Risikos, dass dort etwas passieren könnte, und die allermeisten würden vermutlich auf die Frage, ob sie damit rechneten, dass ihnen dann irgendjemand anders zur Hilfe käme, wenn sie sich von wem auch immer bedroht fühlten, die Auskunft geben, damit rechneten sie eigentlich nicht. Da liegt ein harter Kern des Problems. Wenn es nicht zu einer schieren Selbstverständlichkeit wird, dass schon die berühmte Anmache nicht hingenommen wird und die sich daraus dann leicht ergebende Eskalation, dann können wir mit dem Problem nicht fertig werden. Es muss sozusagen wieder zu einer gesamtgesellschaftlichen Selbstverständlichkeit werden, dass unakzeptables Verhalten auch von Leuten mit aufgegriffen und interveniert wird, die nicht unmittelbar betroffen sind, aber übrigens die nächsten sein könnten, die davon betroffen sein können.

    Durak: Haben Sie eine Erklärung dafür, Herr Lammert, wieso viele in dieser Gesellschaft sich zum Wegschauen entschlossen haben?

    Lammert: Ich glaube, dass übrigens Ihre Formulierung ein bisschen jetzt wieder übertrieben ist. Sie haben sich ja nicht entschlossen, wegzuschauen. Sie tun es eben. Es ist im Übrigen natürlich auch viel einfacher, jetzt in einem Interview für eine konkrete Situation Zivilcourage einzufordern, als sie aufzubringen.

    Ich will noch mal darauf hinweisen: Wir haben hier diese merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Entsetzen über solche Ereignisse und dem gleichzeitigen Vorwurf an Leute, die sich persönlich engagieren, die dann auch handfest intervenieren, dass dies aber auch völlig unangemessen sei, dass das im Übrigen wenn Aufgabe der Polizei sei, dass das aber nicht durch individuelle Aktivitäten gelöst werden könnte. Auf diese Weise schaukeln sich die Ereignisse und die damit verbundenen Zahlen nach oben.

    Durak: Einer der sich schon seit langem engagiert ist ja Uwe-Karsten Heye, der Vorsitzende des Vereins "Gesicht zeigen", der ja nicht-weiße Deutschlandbesucher vor bestimmten Gebieten gewarnt hat. Er hat die Form ein bisschen zurückgenommen, aber ist im Prinzip im Grundsatz bei der Aussage geblieben. Viele haben sich entsetzt, vor allem Politiker. Leute, die in solchen Ecken leben, die sagen Heye hat Recht. Das sagt zum Beispiel ein Landrat im Spree-Neiße-Kreis. Der kennt das. Die schöne heile Fußballwelt wurde angekratzt. Tut man so etwas nicht?

    Lammert: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Uwe-Karsten Heye für seine Bemerkung kritisiert haben. Wenn richtig ist, was er gesagt hat – und ich habe niemanden gehört, der bestreitet, dass zutrifft was er gesagt hat -, dann kann es nicht falsch sein, öffentlich zu sagen was zutrifft. Im Gegenteil! Ein Teil der jetzt auch in unserem Gespräch eingeforderten Zivilcourage beginnt damit, Sachverhalte als Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, nicht unangenehme Tatsachen zu überdecken, weil sie einem unangenehm sind. Übrigens darf auch der Umstand, dass wir ganz offenkundig auf viele dieser Entwicklungen keine überzeugenden Erklärungen haben, nicht die zusätzliche Begründung dafür werden, dass wir sie erst gar nicht zur Kenntnis nehmen.

    Wenn im Übrigen – und das war ja das konkrete Beispiel, das Heye gegeben hat – es Gegenden gibt, bei denen man einem guten Freund oder einem guten Bekannten im privaten Gespräch in der Tat dringend empfehlen würde, da abends nicht alleine spazieren zu gehen, dann kann es doch nicht falsch sein, öffentlich darauf aufmerksam zu machen, dass wir dieses dramatische Problem haben.

    Durak: Norbert Lammert, Bundestagspräsident, CDU-Mitglied. Schönen Dank Herr Lammert für das Gespräch.

    Lammert: Keine Ursache. Auf Wiederhören!

    Durak: Auf Wiederhören!