Viele Schüler haben die Schule seit Dezember 2020 nicht mehr von innen gesehen. Auch wenn in einigen Regionen der Unterricht, zumindest im Wechsel- oder Hybridmodell, wieder stattfindet, sind andere Landkreise und Städte wieder komplett in den Distanzunterricht gewechselt. Der ausgefallene Schulstoff ist immens und die Folgen überhaupt noch nicht absehbar. Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) geht von "deutlichen Lernrückständen" bei 20 bis 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus. Die Einschätzung deckt sich mit dem Ergebnis einer aktuellen Studie des Münchener ifo-Instituts. Deutsche Schüler haben demzufolge im zweiten Lockdown pro Tag mehr als drei Stunden weniger gelernt als zu normalen Zeiten. Die Studie sieht bei 20 Prozent der Schüler stark erhöhten Förderbedarf.
"Aufholpaket" der Bundesregierung
Die Bundesregierung will
Lernrückständen mit einem sogenannten Aufholpaket entgegenwirken
, das sie am 5. Mai auf den Weg gebracht hat. Es umfasst zwei Milliarden Euro für dieses und das kommende Jahr. Die Hälfte davon ist für Nachhilfe- und Förderprogramme vorgesehen, darunter fällt auch die Sprachförderung in den Schulen und der Ausbau der Sozialarbeit.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) möchte außerdem, dass noch vor den Sommerferien Lernstandserhebungen an allen Schulen durchgeführt werden. Danach sollen Lehrerinnen und Lehrer Empfehlungen abgeben, welchen Stoff einzelne Schüler und Schülerinnen nachholen müssen.
Darüber hinaus soll es auch Zuschüsse für Freizeitaktivitäten geben, etwa für den Sportverein oder Musikunterricht. Die Teilnahme an Feriencamps soll erleichtert werden und es soll Zuschüsse für den Urlaub von Familien in gemeinnützigen Einrichtungen geben. Geplant sind auch Einmalzahlungen für Kinder aus Hartz-IV-Familien in Höhe von etwa 100 Euro.
Um Lernlücken aufzufangen, erwägen andere Konzepte für Realschüler ein 11. Schuljahr, für Abiturienten die 13. oder 14. Klasse, um den Abschluss zu machen. Auch ein Ausdünnen der Lehrpläne insgesamt wird immer wieder vorgeschlagen.
Es sei prinzipiell erfreulich, dass man jetzt auf bundespolitischer Ebene und damit auch in den Ländern erkannt habe, dass das eine Jahr "Stotterbetrieb in der Schule" vor allem auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zu einer Benachteiligung geführt habe. Allerdings sei es wichtig, nun nicht einfach flächendeckend Geld zu verteilen, ohne die Qualität der Maßnahmen sicherzustellen. Das sei in der Vergangenheit häufiger geschehen,
kritisierte der Pädagoge Klaus Zierer
.
Der Pädagoge von der Universität Augsburg kam in einer Studie zu dem Schluss, dass selbst im günstigsten Fall die Schülerinnen und Schüler nach den Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie einen Lernrückstand von drei Monaten haben.
Konzepte zum Schließen der Lernlücken
Die eine Hälfte des Geldes im zwei Milliarden Euro schweren Corona-Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche der Großen Koalition ist für Nachhilfe- und Förderprogramme für Schüler gedacht. Die andere Hälfte ist dafür vorgesehen, die sozialen und psychischen Folgen für Kinder und Jugendliche abzufedern. Das Geld geht an die Bundesländer. Als Beginn der Nachhol-Maßnahmen ist der Herbst vorgesehen; zunächst war dafür eigentlich der Sommer geplant.
Die SPD-geführten Länder schlagen vor, rund jedem fünften der elf Millionen Schülerinnen und Schüler zusätzlichen Unterricht anzubieten - entweder über ein ganzes Schuljahr zwei Stunden pro Woche oder über ein halbes Schuljahr vier Stunden. Zudem halten sie mehr als eine Millarde an Mitteln für nötig. Auch der Deutsche Lehrerverband rechnet mit Kosten von zwei Milliarden Euro für Förderprogramme.
NRW-Ministerin Gebauer: Private Nachhilfe-Anbieter eingebunden
NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (Audio) begrüßte im Deutschlandfunk
, dass sich der Bund finanziell einbringen möchte, um pandemiebedingte Defizite der Schülerinnen und Schüler auszugleichen. Abzuwarten bleibe, unter welchen Förderrichtlinien das Geld vom Bund eingesetzt werden darf. "Danach werden wir entsprechend handeln", sagte sie im Dlf.
Mit dem Programm "Extrazeit" unterstützt das Land NRW im außerschulischen Bereich bereits seit dem letzten Sommer Schülerinnen und Schüler mit pandemiebedingten Lernlücken. 36 Millionen Euro hat das Land dafür bereitgestellt. Das Progamm wurde bis zum Sommer 2022 verlängert. Gebauer sprach von einem "lebendigen Programm", das Nachhilfe beinhalte sowie Angebote über das klassische Lernen hinaus, etwa sportliche Aktivitäten und die Stärkung sozialer Kompetenzen. Antragsberechtigte Träger und Stellen dürfen die Mittel auch an Dritte weiterleiten. Konkret heißt das, dass auch private Nachhilfe-Anbieter eingebunden werden können. Das werde auch in anderen Bundesländern so gehandhabt, sagte Gebauer im Dlf.
Mit einem Sieben-Punkte-Fördermodell will Markus Söder, der bayerische CSU-Ministerpräsident, die sogenannten Corona-Lernlücken schließen.
Dafür nimmt Bayern 40 Millionen Euro in die Hand und will 3.000 Helfer aktivieren
.
Linke: Kinder mit besonderem Bedarf stärken
Der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, begrüßte das zusätzliche Förderangebot an Schulen. Er forderte jedoch, auf eine zeitliche Begrenzung zu verzichten. "Es muss jetzt schon darüber nachgedacht werden, wie das nun zu spannende Auffangnetz verstetigt werden kann, um langfristig zu wirken."
Auch Helmut Holter (Die Linke)
, Kultusminister von Thüringen, begrüßte das Aufholpaket der Regierung, insbesondere die Förderung der Kinder- und Jugendarbeit. Es gehe vor allem auch darum, die soziale Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Unterstützungsbedarf zu stärken. "Sie haben ihre Selbstständigkeit und ihre Teamfähigkeit verloren. Sie brauchen einander, wie sie auch ihre Lehrer brauchen", sagte Holter im Dlf.
Warnungen vor Belastung in der Ferienzeit
Holter betonte zudem, Thüringen bereite auch bildungsunterstützende Angebote für die Ferien vor. Wer allerdings meine, damit sei es getan, denke zu kurz. Förderprogramme müssten mindestens über ein bis zwei Jahre laufen, um zurückgefallene Schüler wieder heranzuholen an die Lernstände der anderen, so Holterim Dlf.
Der Bildungsforscher und Didaktiker Ulrich Kortenkamp von der Universität Potsdam warnt sogar vor Nachhilfe in der Ferienzeit. Die Kinder und Jugendlichen bräuchten diese Zeit zur Erholung. Auch sie erlebten massiven Corona-Stress.
Marcel Helbig, Bildungsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, ist ebenfalls skeptisch. Der Bezug auf den Lernstoff, der eigentlich zu erreichen gewesen wäre und den man jetzt nachholen müsse, sei eine Art Mantra, sagte er Dlf. "Ich würde bezweifeln, dass man diesen Lernstoff des normalen Schuljahres quasi als Maßstab ansetzen kann", so Helbig.
Hilflose Idee?
Selbst wenn man Lehramtsstudenten, pensionierte Lehrerinnen, private Nachhilfe-Institute einbeziehen würde, sei unklar, wie man diese Maßnahme flächendeckend umsetzen wolle. Im ländlichen Raum fehlten etwa Universitäten mit ihren Lehramtsausbildungsstätten.
Zudem wüssten all diese Gruppen nicht, wo sie mit dem Stoff ansetzen sollten in der Praxis. "Es kommt jemand von außen am Nachmittag oder an Samstagen oder in den Ferien, um das Ganze irgendwie zu bearbeiten." Das wirke hilflos.
Als allererstes müsse man den Schulstoff entschlacken und umschichten, meint Wolfgang Heinrich. Er ist Mathematik- und Physiklehrer an der Heinrich von Kleist-Oberschule in Frankfurt/Oder. "In der 9. Klasse habe ich versucht, Quadratische Funktionen, Quadratische Gleichungen vorzuziehen. Machen werde ich noch Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zurückrücken wird die Körperberechnung, die ich nicht machen werde."
Einzelne Teile des Lehrplans müssten aussortiert werden. Statt in die Wissensbreite müsse man viel mehr in die Tiefe gehen. Keinesfalls wegfallen dürften ganze Schulfächer, unterstreicht Heinrich. Er ist der stellvertretende Vorsitzende des Verbands Brandenburgischer Oberlehrer. Die Auswirkungen des Home-Schoolings seien dramatisch: "Etwa ein Fünftel der Schüler hat in der Online-Schulzeit gar nichts gemacht", schätzt er.
Rückkehr zum Lernstand von Dezember?
Auch Bildungsforscher Marcel Helbig sprach sich im Deutschlandfunk für Fokussierung aus. Man solle zum Lehrplanstand von Dezember zurückzugehen. Dort sollten die Lehrer anknüpfen und alles, was bis zum Ende des Schuljahres nicht zu schaffen sei, müsse ins nächste Schuljahr verschoben werden.
Bildungsforscher Kortenkamp von der Universität Potsdam sagt, man müsse Schule schlicht neu denken. Selbst ungewöhnliche Ideen würden helfen. Einer der Vorschläge: die Verlängerung des Schuljahres.
Realschüler könnten beispielsweise ihren Abschluss statt in der 10. in der 11. Klasse machen. Für Abiturienten könnte man in Brandenburg wieder das 13. Schuljahr einführen, anderswo das 14. Schuljahr in Betracht ziehen. Je nachdem, ob es sich um G8- oder G9-Schüler handelt. Kortenkamp sagt, man müsse durchaus daran denken, den Beginn von Ausbildung oder Studium zu verschieben.
Nachgedacht wird auch über den Samstag als normalen Schultag. Bis heute könnte man das zum Beispiel im Land Brandenburg relativ unbürokratisch realisieren.
"Auf Beschluss der Schulkonferenz kann der Unterricht an sechs Wochentagen stattfinden. Der Beschluss bedarf der Zustimmung des Schulträgers", heißt es im Paragraf 13 des brandenburgischen Schulgesetzes.
"Familien brauchen Wochenenden"
Geschichtslehrerin Kathrin Dannenberg, Bildungspolitikerin und Abgeordnete der Linke im Potsdamer Landtag, würde allerdings davon abraten. Früher, zumal in der DDR, war es völlig normal, dass Schüler den Samstagvormittag in der Schule verbrachten.
Die Pädagogin glaubt aber, dass heute die Wochenenden den Familien gehören sollten. "Gerade bei dem Stress, den sie heute auch haben, brauchen die Familien das für sich." Auch Bildungsforscher Ulrich Kortenkamp hält nichts vom Samstagunterricht.
Ulrich Kortenkamp plädiert für die zeitweise Auflösung von Schulklassen und empfiehlt jahrgangsübergreifende Lerngruppen. Schüler sollten je nach Schwächen und Stärken zusammen lernen, egal in welcher Klasse sie sind, um so die Defizite auszugleichen.
Ein Beispiel: "Man hat Kinder, die haben in der Bruchrechnung gerade nichts gelernt. In der 5., 6. Klasse sollen die Schüler Brüche addieren können. Jetzt haben sie es aber nicht gelernt. Dann muss man überlegen, was macht man mit denen. Man kann sie nicht einfach immer weiterschleppen, weil das in der 9. Klasse ein Problem wird. Also könnte man sagen, hier hat man einen Teil, die brauchen das noch, die müssen was nachholen. Die gehen in einen eigenen Unterricht und lernen jahrgangsübergreifend."
Mehr Flexibilität nötig
Man brauche in der Schulbildung ab jetzt angesichts der Pandemie viel mehr Flexibilität als bisher, meint der Bildungsforscher. Das sei mit einigem organisatorischen Aufwand verbunden, aber machbar.
"Wir haben jetzt die Chance, uns zu überlegen, wie wollen wir in einem Jahr Schule haben." Für Kortenkamp geht es darum wieder Lernmotivation, den Spaß am Lernen zu schaffen.
Schülerinnen und Schüler an Brennpunktschulen leiden verstärkt unter den pandemiebedingten Schulschließungen. Um fairere Bildungschancen zu ermöglichen, hat das Land NRW Maßnahmen ergriffen. Künftig gilt statt eines Kreissozialindex' ein "schulscharfer Sozialindex",
sagte NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer im Dlf
. Damit könnten Ressourcen künftig gerechter verteilt werden. Zudem werde es auch mehr Ressourcen geben. Stellen seien entfristet worden, neue Stellen geschaffen und im Landeshaushalt verankert worden. Man könne nun 500 sozialpädagogische Fachkräfte zusätzlich in die Grundschulen schicken.
Quellen: Christoph Richter, dpa, aha, rb, al, th