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Aufklärung statt Medienhype

Zeitungsverlage setzen wieder stärker auf Rechercheteams und die eigenen Geschichten. Dabei geht es um Marketing, aber vor allem um den guten Ruf. Denn die meinungsbildenden Medien haben in den letzten Jahren Vielfalt und Unabhängigkeit vermissen lassen.

Von David Goeßmann | 24.10.2010
    Es geht hinauf in den 14. Stock des Springer-Hochhauses. Von hier hat man einen exklusiven Blick über die Hauptstadt. Rund ums Regierungsviertel werden jetzt, zur Mittagszeit, die ersten Pressekonferenzen beendet. An den Redaktionsschreibtischen wird ohne Hektik gearbeitet. Alles wirkt aufgeräumt und gedämpft, großzügig und modern. Hinten, am Ende des Raums, sitzt Jan-Eric Peters in seinem Büro hinter einer Glasfront. Der 45-jährige Chefredakteur der Weltgruppe hat gute Nachricht aus dem Verlag:

    Eine Million Euro hat der Springer-Konzern in einen Fonds für investigative Berichterstattung gesteckt. Die Tageszeitung "Die Welt" hat zudem Anfang September ein siebenköpfiges Investigativteam gegründet. Sie steht damit nicht allein. Auch andere Medien wie die Nachrichtenagentur dapd, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung oder der Stern setzen mit eigenen Teams und Ressorts auf hintergründige, aufdeckende Geschichten. Jan-Eric Peters:

    "Wir machen heute Zeitung und Online-Kanäle und sind mobil unterwegs. Und wir merken, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir Einheitsbrei verbreiten, sondern wir brauchen eigene Geschichten. Und davon sehr viele."

    Der Wirtschaftsjournalist Jörg Eigendorf leitet das Recherche-Team. Vieles werde auch Kärrnerarbeit sein. Eigendorf spricht von "Landkarten von Informationen", Aufbereitung von Daten, Recherche-Handwerk und Dienstleistung für andere Ressorts. Politik werde dabei eine wichtige Rolle spielen. Natürlich wolle man Scoops landen, die Diskussionen auslösen und Aufmerksamkeit erregen. Eigendorf versteht seine Arbeit aber auch als Gegengewicht gegen die Zunahme von PR und Lobbyismus:

    "Unsere Aufgabe ist es, zu filtern, zu interpretieren, zu gucken, was steht hinter der Nachricht. Es ist eigentlich ein dramatischer Prozess, wie viel heute nur darin investiert wird, in der Politik und in der Wirtschaft, Informationen so zu verpacken, dass man die Gesellschaft, den Leser, den Zuhörer, den Zuschauer in der Form erreicht, wie man es gerne hätte. Und wir als Journalisten, als Übersetzer sind damit viel, viel wichtiger geworden. Dass unsere Reputation darunter in den vergangenen Jahren teilweise gelitten hat und seit vielen Jahren leidet, liegt auch daran, dass oft Exklusivität vor Qualität geht."

    Hinter den Rechercheteams der Verlage steckt auch Marketing. Man hat erkannt, dass selbst recherchierte Geschichten und Enthüllungen das Image eines Mediums erhöhen und Auflagen sichern helfen. Leuchttürme setzen, heißt es heute immer öfter im heiß umkämpften Nachrichtenmarkt. In den USA operieren schon seit längerem Rechercheteams, auch außerhalb der klassischen Medien, finanziert durch Spendengelder.

    Diese positiven Entwicklungen laufen ab vor dem Hintergrund von Kürzungen in den "Niederungen" des politischen Journalismus. Wie andere Medienkonzerne auch hat der Springer Verlag in den vergangenen Jahren seine Redaktionen radikal zusammengeführt und verkleinert. In der Hauptstadt entstehen mehr und mehr Gemeinschaftsbüros, bei denen dieselben Korrespondenten für mehrere Printprodukte und Medien arbeiten. Gleichzeitig verkünden Medienkonzerne wie Bertelsmann oder Springer wieder Rekordgewinne.

    Zwei, drei Straßen entfernt von den Verlags-Türmen des Springer-Konzerns liegt der Askanische Platz. Die Gegend ist in Aufbruchstimmung. Schicke Hotels und Restaurants sprießen aus dem Boden, das Bundesumweltministerium hat um die Ecke einen neuen Dienstsitz gebaut, Unternehmen haben hier ihre Repräsentanzen. Über einem Gebäudeeingang steht in schlichten Buchstaben "Der Tagesspiegel". Vor einigen Monaten ist das Berliner Blatt hierher gezogen. Die Flure im Zeitungsgebäude sind breit und luftig. Das Büro von Harald Schumann wirkt dagegen eher schmal. Im Regal und auf dem Schreibtisch stapeln sich dicke Bücher. Das Wort investigativ mag Schumann nicht. Er sei kein Detektiv, höre niemanden ab. Handwerk reicht, sagt er.

    Seit 2004 ist Schumann "Redakteur für besondere Aufgaben" beim Berliner Tagesspiegel. Sein Job: Zusammenhänge erklären, hinter die Kulissen schauen. Es sei schon ein Luxus, als Journalist während der Arbeitszeit Sachbücher lesen zu dürfen. Doch das sei notwendig, um der Wissens-Übermacht und Deutungshoheit von Interessengruppen in Politik, Wirtschaft und Finanzwelt gewachsen zu sein. Bei der Bankenrettung veröffentlichte Schumann die von der Regierung geheim gehaltene Gläubigerliste der Hypo Real Estate. Demnach profitierte - anders als in den Zeitungen zu lesen war - auch die Deutsche Bank von dem Rettungspaket.

    "Es gab schon sehr früh die Kritiker, mit denen man sich hätte zusammen setzen können. Man musste die Leute nur aufsuchen. Mit ein bisschen Zeit konnte man zu einem frühen Zeitpunkt eine kritische Perspektive entwickeln. Ich kann es nicht genau beurteilen, weil ich viele Medien von innen gar nicht kenne: Aber einige, von denen ich weiß, dass sie Zeit und Geld haben, waren zumindest in den ersten sechs Monaten eher zu faul."

    Die Nähe zur Politik führe im Einzelfall bis zur Korruption von Journalisten. So etwa, als die Regierung mit Josef Ackermann darüber verhandelte, inwieweit sich die Privatbanken an der Rettung der Hypo Real Estate beteiligen:

    "Und in den allermeisten Zeitungen, in den großen Medien dieses Landes, wurde immer nur berichtet: Der Privatsektor hat sich an der Rettung der Hypo Real Estate beteiligt. Obwohl, ich weiß es, viele Kollegen wussten, dass es nicht stimmt. Daran kann man sehen, das Spinning, wie das so schön heißt, also die Verbindungen von SPD-Minister Steinbrück und seinem Staatssekretär und ihren Helfern im Parlament zu den Journalisten, waren so gut, dass es ihnen lieber war, sie unterlassen die Berichterstattung über die Wahrheit und kriegen dafür exklusiv Papiere zugesteckt."

    Als die deutschen Medien den neoliberalen Kurs der Politik unterstützten, mahnte Schumann, verwies auf die Folgen, lieferte Argumente und Zusammenhänge. Sein damaliger Arbeitgeber, der Spiegel, wollte diese Geschichten nicht mehr im Blatt haben.

    Heute sind kritische Stimmen zum Neoliberalismus wieder öfter zu hören. Das liegt auch daran, dass die Wirkung marktradikaler Politik sichtbarer geworden ist. Es könnte der Beginn einer heilsamen Entfremdung zwischen Politik und Journalismus sein. Könnte.

    Ein Schlagabtausch auf offener Bühne. Auf der einen Seite Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Chefredaktion des Stern und einflussreicher Alpha-Journalist, auf der anderen Albrecht Müller, radikaler Medienkritiker und ehemaliger Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt.

    Für Albrecht Müller steht fest: Die Medien haben bei der Durchsetzung neoliberaler Politik nicht Aufklärung, sondern systematisch Vernebelung betrieben. In seinem Buch "Meinungsmache" listet er rund hundert Beispiele neoliberaler Kampagnen auf: Die Privatisierung der Altersvorsorge, Steuererleichterungen für Unternehmen, die Alternativlosigkeit von Deregulierung und Sozialabbau. Nichts davon halte der sachlichen Überprüfung stand, sagt der Gründer des Nachdenkseiten-Blogs und wirft den Mainstream-Medien vor, das Vertrauen der Bürger missbraucht zu haben.

    "Meinungsmache ist ganz eindeutig ganz massiv gemacht worden bei der Behandlung der Finanzkrise. Das ist das eklatanteste und teuerste Beispiel. Da hat man erst behauptet, die Finanzkrise sei aus den USA ganz plötzlich über uns gekommen. Und dann hat Frau Merkel behauptet und Herr Steinbrück, jede Bank sei systemrelevant. Auch wenn die Industriekreditbank in Düsseldorf eingeht, dann würde hier das System zusammen klappen. Das ist alles Kappes, aber hat dazu geführt, dass wir Steuerzahler und unsere Kinder und Enkel noch Milliarden zahlen müssen.”"

    Es habe Fehlentwicklungen gegeben, sagt Hans-Ulrich Jörges fast ein wenig trotzig. Der Stern-Macher, einer der prominenten Wortführer im politischen Medienbetrieb, regelmäßiger Gast in Polit-Talkshows und streitbarer Kommentator, machte schon mal Stimmung gegen Hartz-IV-Empfänger und hofierte Angela Merkel als Kanzlerin. Von neoliberaler Meinungsmache zu sprechen, sei aber schlicht absurd:

    ""Es gibt immer wieder Mainstream-Verhalten, es gibt ein Rudelverhalten, dass man sich in eine Richtung bewegt. Aber das ist niemals von Dauer. Und es ist auch niemals so, dass es die Medien vollständig abdecken würde. Es gibt immer Gegenstimmen dagegen. Und was bei solchen Diskussionen vollständig übersehen wird, ist, was wir an Medienvielfalt durch das Internet noch dazu gewonnen haben.”"

    Doch die meinungsbildenden Medien haben in den letzten Jahren Vielfalt und Unabhängigkeit vermissen lassen und selbst Politik betrieben. Zum Beispiel im Bundestagswahlkampf 2005. Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Neuwahlen ankündigte, starteten die Leitmedien eine Kampagne. Ob Spiegel, Focus oder Stern: Angela Merkel wurde von der Presse zur Favoritin und Hoffnungsträgerin erkoren, sie war der neue Garant für eine wirtschaftsfreundliche Politik. Die rot-grüne Bundesregierung galt schon vor der Wahl als Verlierer.

    Die Branche des politischen Journalismus ist verunsichert, wirkt ratlos. Ein Teil der Journalisten reagiert darauf mit einer Mischung aus Selbstkasteiung und Schadensbegrenzung. Kaum ein Medienkongress ohne Hinweis auf zunehmende Boulevardisierung, Infotainment, oberflächlichen Medienhype und auf zu große Nähe der Journalisten zur politischen Klasse im Treibhaus "Berliner Republik". Immer wieder ist die Rede von Hätscheljournalismus gegenüber der Merkel-Regierung. Dabei wird das eigentliche Problem, das tiefer liegt, kaum diskutiert. Volker Lilienthal, Professor für Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg:

    ""Wir verlassen uns als Journalisten viel zu häufig auf Aussagen von Politikern und anderen bestellten Akteuren, in Pressekonferenzen zum Beispiel. Wir verzichten auf den Augenschein im Journalismus. Wir waren nicht selbst vor Ort und sind oftmals zu gutgläubig. Also diese unterentwickelte Quellenkritik, die führt oftmals zu journalistischen Fehlleistungen. Und da betrügen wir im Grunde auch unser Publikum, weil wir ihm nicht das ganze Bild bieten."

    Szenenwechsel. Eine staubige Straße in der Nähe von Kabul. Der Journalist Marc Thörner sitzt in einem afghanischen Taxi. Langsam folgt es einem Bundeswehr-Konvoi, als der plötzlich stoppt. Ein deutscher Soldat steigt aus, zielt auf das Taxi. Ein Feuerball lodert neben dem Auto auf. Das sei ein Warnschuss gewesen, die erste Eskalationsstufe, wenn man sich bedroht fühle, sagt später ein deutscher Presseoffizier.

    So beginnt eine der Reportagen über den Krieg am Hindukusch von Marc Thörner. Seine Berichte liefern Einblicke in ein besetztes Land, die wenig mit den politischen Verlautbarungen der Berliner Republik zu tun haben. Seit 2008 reist Thörner regelmäßig nach Afghanistan und recherchiert unabhängig vor Ort. Er schlüpft in die landesübliche Kleidung - an seiner Seite ein lokaler Begleiter, der die unterschiedlichen Dialekte beherrscht. Der deutsche Journalist spricht mit einfachen Afghanen, Warlords, Gouverneuren, islamischen Gelehrten und Taliban. Er interviewt die Bundeswehr und das US-Militär. Er seziert ihre strategische Informationspolitik, überprüft Quellen, widerlegt Aussagen westlicher Regierungsstellen. Seine Reportagen aus einem besetzten Land zeichnen ein Bild, das nicht zu dem passen will, das der Debattenjournalismus im politischen Berlin vom Afghanistan-Krieg zeichnet. So bringe die von deutschen Medien gepriesene Aufstandsbekämpfung, so Thörner, den islamischen Fundamentalismus, anders als behauptet, erst hervor. Sie sei ein Abklatsch kolonialer Geostrategie.

    "Es ist im Grunde eine Aneinanderreihung von kurzfristigen Beobachtungen und mir fehlt eben diese Tiefendimension in der Analyse in den meisten Artikeln. Das ist verwunderlich, weil die Informationen in Afghanistan relativ gut zu bekommen sind. Das ist ein Land, in dem man keine großen Schwellen überwinden muss, um mit den lokalen Akteuren - zum Beispiel Gouverneuren oder auch Warlords oder wer auch immer - in Kontakt zu treten. Und deshalb wundere ich mich, dass mal hier eine Beobachtung ist, dass mal da ein Dorfchef beschrieben wird, dass mal da ein Bundeswehr-Konvoi begleitet wird. Ich vermute, das liegt daran, dass die Bundeswehr weitgehend die Presse betreut, die nach Afghanistan unterwegs ist, mit Ausnahme weniger Kollegen, die wirklich unabhängig dort recherchieren."

    Das Institut für Kommunikationswissenschaften der Technischen Universität Dresden hat das Publikum befragt. Die Ergebnisse von 2009 sind niederschmetternd: Die Studie "Entzauberung eines Berufs - Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden” zeigt auf, dass nur noch ein Drittel der Deutschen den Journalisten vertraut. Die Bürger vermissen häufig eine objektive Berichterstattung und werfen Journalisten vor, keine ehrlichen Makler zu sein.

    Gleichzeitig scheint sich das Selbstbild vieler politischer Berichterstatter zu wandeln. Eine aktuelle Studie der Freien Universität Berlin zum politischen Journalismus hat rund 1000 Korrespondenten und Redakteure online befragt. Die Arbeitssituation hätte sich für viele der Befragten verschlechtert, sagt Journalistik-Professorin Margreth Lünenborg.

    "Frustrierend weiterhin, dass Recherchezeit tendenziell abnimmt. Das hat etwas mit Arbeitsdruck in den Redaktionen zu tun. Mit einer Ausdünnung der Personaldecke. Es ist sicherlich ein besorgniserregendes Qualitätsdefizit. Das haben wir einerseits festgestellt. Andererseits haben wir eben gesehen, dass die Zeit, die die Journalisten in Kommunikation mit dem Publikum verbringen, dass diese Zeit merklich zunimmt - nicht wirklich erstaunlich unter Bedingungen von Online-Kommunikation, E-Mail-Kommunikation, auch elektronischen Postings, die Kommentar-Funktionen geradezu provozieren, gewinnt das an Bedeutung. Nimmt das dementsprechend auch mehr Zeit in Anspruch."

    Die deutlich verstärkte Publikumsorientierung, so Lünenborg, stehe im Kontrast zu der vorherrschenden Selbstbezogenheit der Berliner Medienszene.

    "Was ich interessant finde ist, das sind sozusagen leichte Verschiebungen, Veränderungen, die sich andeuten, dass der Anspruch des Erklärens, Verständlichmachens, Zusammenhänge explizieren, an Relevanz gewinnt. Also die bloße Transmission von Informations-Bits-and-Bytes ist offenkundig nicht ausreichend, nicht zufriedenstellend, macht nicht mehr, weniger denn je, die originäre Leistung von Journalismus aus, sondern dem Publikum politische Zusammenhänge zu erklären, verständlich zu machen, das hat an Relevanz gewonnen."

    Eine riesige rote Fahne auf einem Dach. Darauf zu sehen eine weiße Tatze, das Symbol der Tageszeitung, kurz taz. Das Verlagsgebäude der taz steht mitten im ehemaligen Presseviertel der Weimarer Republik, gegenüber dem Glaskasten des Springer Verlags. In den offenen Redaktionsräumen schlängeln sich Mitarbeiter durch Gänge zwischen Schreibtischen und Regalen. Es riecht nach Zeitungspapier. Der Redaktionsschluss rückt merklich näher. Martin Kaul findet ein ruhiges Büro. In der Ecke hängt ein Rudi-Dutschke-Plakat. Der taz-Redakteur erzählt: "Schottern", das sei eine neue, subversive Strategie der Castorgegner. Dazu habe er gerade recherchiert. Gute Kontakte in die Szene seien dabei wichtig.

    Seit eineinhalb Jahren hat die taz offiziell einen Spezialisten für "Politik von unten". Während deutsche Medien für jede Partei eigene Fachredakteure haben, gilt das nicht für die politische Landschaft von Bürgerbewegungen. Kaul ist eine Ausnahme. Er fährt auf Anti-Atomkraft- oder Klima-Camps, verfolgt Bildungsstreiks und Bürgerinitiativen auch über aktuelle Protestaktionen hinaus, fragt nach Argumenten, Zielen und Strategien von politischen Bewegungen.

    "Die taz hat strategisch einen Bewegungsredakteur, weil wir natürlich der Meinung sind, dass Politik im wesentlichen eben nicht nur auf parlamentarischem Wege bedient und realisiert wird, sondern gerade aus der Ermächtigung der Einzelnen stammt und darüber gilt es zu berichten und auch zu dieser Ermächtigung beizutragen."

    Für den Soziologen Dieter Rucht, Co-Leiter der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa" am Wissenschaftszentrum Berlin, konzentriert sich die deutsche Presse zu stark auf die etablierte Politik. In Studien hat Rucht die Berichterstattung über soziale und politische Graswurzel-Bewegungen untersucht:

    "Das, was da auf der politischen Bühne passiert, was vor allen Dingen in den Entscheidungsgremien passiert, das wird gezeigt. Aber Teil dieser etablierten Politik sind auch politisch ziemlich irrelevante Vorgänge, etwa wenn der Staatspräsident XY zu Besuch kommt und da die Gangway runter schreitet. Alles was darüber hinaus geht, was sich in dem vorpolitischen Raum tummelt, im öffentlichen Raum, was vor allen Dingen keine festen Organisationsstrukturen, keine bekannten Namen und Gesichter aufweist, das wird doch deutlich vernachlässigt und unterbelichtet."
    Durch diese Vernachlässigung gingen wichtige Lösungsansätze politischer Initiativen schlicht verloren. Harald Schumann vom Tagesspiegel:

    "Medien, und da eben die Medienarbeiter, die Journalisten, versagen dann, wenn eigentlich aus der Gesellschaft großes kritisches Potential kommt, es aber überhaupt medial nicht mehr verarbeitet wird. Dann läuft was schief."

    Bei wichtigen Entscheidungen wie der neoliberalen Agenda, der Finanzmarktkrise und bei den Kriegseinsätzen der Bundeswehr begnügten sich die Medien oft damit, dem Regierungskurs und der etablierten Politik zu folgen, obwohl es Kritik aus der Gesellschaft gab. Die Bürger registrieren das sehr genau. Die fehlende Distanz zur Politik provozierte schließlich Gegenbewegungen und Abwehrreaktionen - auch bei Berichterstattern. Skeptische Stimmen sind nun öfter zu hören, die die politische Agenda grundsätzlicher befragen. Journalisten organisieren sich gegen PR- und Lobbyeinfluss, diskutieren Qualitätsjournalismus, besinnen sich aufs Handwerk, während Verlage den Wert von Recherche neu zu entdecken scheinen. Es sind aufklärerische Tendenzen, die wichtige Korrekturen zu den Medienhypes und Verlautbarungen bilden, die weiter durch die Republik wogen.