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August Wilhelm Schlegel
Cheftheoretiker der Romantiker

Die Idee einer Weltliteratur, wie sie Goethe vorschwebte, hat niemand so repräsentiert und propagiert wie der am 5. September 1767, vor 250 Jahren, in Hannover geborene August Wilhelm Schlegel. Der Schriftsteller und Philologe wurde zum Begründer einer neuen, vergleichenden Literaturwissenschaft.

Von Christian Linder | 05.09.2017
    Das zeitgenössische Porträt zeigt den deutschen Schriftsteller, Übersetzer, Sprach- und Literaturwissenschaftler August Wilhelm Schlegel (1767-1845).
    Er "hat gezeigt, wie man wissenschaftliche Gegenstände in eleganter Sprache behandeln kann", attestierte Heinrich Heine seinem Professor August Wilhelm Schlegel (im Bild) (dpa / Bifab)
    Vorlesungen des 1818 an die Universität Bonn berufenen und in halb Europa als "poetisches Genie" berühmten Professors August Wilhelm Schlegel muss man sich als Spektakel vorstellen. Es gibt den Augenzeugenbericht eines Studenten - er hieß Heinrich Heine.
    "Noch heute fühle ich den heiligen Schauer, der durch meine Seele zog, wenn ich vor seinem Katheder stand und ihn sprechen hörte. Herr Schlegel trug Glacéhandschuh und war nach der neuesten Pariser Mode gekleidet. Neben ihm stand sein Bedienter in der freiherrlichst Schlegelschen Hauslivree und putzte die Wachslichter, die auf silbernen Armleuchtern brannten und nebst einem Glase Zuckerwasser vor dem Wundermanne auf dem Katheder standen."
    Auch wenn Heine später mit klirrender Ironie über das vornehm-eitle Gehabe des "Herrn Professors" herzog, repräsentierte dieser zumindest geistig wie kein anderer Goethes Vorstellung von einer Weltliteratur.
    Bis heute moderne Standards formuliert
    Geboren am 5. September 1767 als Sohn eines evangelischen Pastors in Hannover, fand Schlegel früh sein Arbeitscredo.
    "Ein echter Kenner kann man nicht sein ohne Universalität des Geistes, das heißt ohne die Biegsamkeit, welche … in den Stand setzt, … uns in die Eigenheiten andrer Völker und Zeitalter zu versetzen, sie gleichsam aus ihrem Mittelpunkt herauszufühlen."
    Aus dieser Grundhaltung entwickelte Schlegel seine Ideen und wurde zum Begründer einer neuen, vergleichenden Literaturwissenschaft, indem er sich nicht nur der Errungenschaften von Autoren wie Calderón und Shakespeare vergewisserte - die er auch ins Deutsche übersetzte -, sondern in Kritiken ebenso auf die Gegenwartsliteratur reagierte und Standards formulierte, die bis heute nichts von ihrer Modernität eingebüßt haben.
    Kritik, das hieß für Schlegel: "in die Zusammensetzung eines fremden Wesens eindringen, erkennen, wie es ist, belauschen, wie es wurde, nicht allein die verliehene Kraft gegen das, was sie gewirkt hat, wägen, sondern auch den ganzen Zusammenhang der Dinge."
    Eigene Zeitschrift "Athenaeum"
    Die Kritiken erschienen seit 1795 zunächst in der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift "Die Horen", bis August Wilhelm Schlegel 1798 zusammen mit seinem Bruder Friedrich eine eigene Zeitschrift gründete, "Athenaeum", die sich im Umkreis von Autoren wie Ludwig Tieck und Novalis zum Sprachrohr der Romantiker entwickelte, mit den Schlegel-Brüdern als Cheftheoretiker.
    August Wilhelm Schlegels Aufmerksamkeit galt vor allem auch der Sprache, die er als Phänomen für "ein großes, nie vollendetes Gedicht" hielt, das die menschliche Natur aber immer nur mangelhaft ausdrücken könne.
    "Auch nach den strengsten und sorgfältigsten Zergliederungen bleibt unsere eigene Natur uns immer noch ein Rätsel: besonders ist das Gewebe unserer Empfindungen so fein und dicht, dass sich die einzelnen Fäden, woraus es besteht, kaum unterscheiden, geschweige denn unversehrt auftrennen lassen."
    Ein "Homme de lettre" par excellence.
    So erlebte 1803 die französische Schriftstellerin Germaine de Staël Schlegel: "Er hat alle Bücher der Welt gelesen, obwohl er erst sechsunddreißig Jahre alt ist."
    Kein Erfolg mit einem eigenen poetischen Werk
    Die Begegnung mit Madame de Staël wurde lebensentscheidend. Denn Schlegel muss 1803 klar gewesen sein, dass sein Traum vom Erfolg mit einem eigenen poetischen Werk sich nicht durchsetzen ließ - ein 1800 erschienener erster Band mit Gedichten fand kaum Würdigung, und das 1802 veröffentlichte Drama "Ion" war ein Reinfall.
    Als 1803 auch seine Ehe mit der ebenfalls als Schriftstellerin tätigen Frau Caroline geschieden wurde, nahm er das Angebot Madame de Staëls an, für ein üppiges Gehalt Hauslehrer ihrer Kinder zu werden. Nebenbei beriet er de Staël bei der Fertigstellung ihres 1813 erschienenen Buches "De L’Allemagne", "Über Deutschland", übersetzte weiter Shakespeare-Stücke, schrieb seine Kritiken und hielt viel beachtete Vorträge.
    Bis zu seinem Tod 1845 an der Universität Bonn
    Nach Madame de Staëls Tod 1817 folgte er gern dem Ruf der neu gegründeten Bonner Universität und brachte noch einmal seine Interessen für die Weltliteratur ein, indem er mit seiner Sprachbegabung indische Literatur zu übersetzen begann; ansonsten verwaltete er aber in Bonn bis zu seinem Tod 1845 nur seine früher gewonnenen theoretischen Ansichten und zelebrierte im Übrigen seine Berühmtheit.
    Eines immerhin musste auch der spottende Heinrich Heine Schlegel attestieren: "Früher schrieben deutsche Gelehrte ein verworrenes, trockenes Deutsch, welches nach Talglichtern und Tabak roch… Schlegel hat gezeigt, wie man wissenschaftliche Gegenstände in eleganter Sprache behandeln kann … Durch ihn kam auch in das Leben der deutschen Dichter mehr Zivilisation."