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Aus der Nachrichtenredaktion
Warum Nachrichtensprache im digitalen Zeitalter noch wichtiger wird

Jedes Jahr lesen und hören wir von der Vergabe des "Wirtschaftsnobelpreises". Bei dem Begriff handelt es sich allerdings um eine inhaltlich falsche Verkürzung. Der Preis ist dabei nicht die einzige sprachliche Herausforderung für Nachrichtenredaktionen. Überlegungen zum Umgang mit Nachrichtensprache in sprachlich aufgeheizten Zeiten.

Von Tanja Köhler | 14.10.2019
    Buchstaben
    Im digitalen Zeitalter wird der Umgang mit Sprache noch wichtiger. (unsplash: Raphael Schaller)
    Alles begann 1968. Die schwedische Reichsbank rief eine Auszeichnung ins Leben, die sie "Preis der Schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel" nannte. Da der Preis parallel zu den Nobelpreisen verliehen wird und mit der gleichen Preissumme dotiert ist, wurde aus dem Wortungetüm recht schnell der "Wirtschaftsnobelpreis". Eine inhaltlich falsche Verkürzung, die jedes Jahr aufs Neue aufgegriffen wird, obwohl der Preis rein gar nichts mit den von Alfred Nobel gestifteten Preisen zu tun hat. Suggeriert wird mit dem Begriff auch ein Zusammenhang, den es nicht gibt und der in die Irre führt.
    Dass gesellschaftliche Akteure versuchen, die Wirklichkeit in ihrem Sinne umzudeuten, ist dabei keine Seltenheit. Man erinnere sich nur an das "Gute-Kita-Gesetz" (anstatt "Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung") von Bundesfamilienministerin Giffey oder den Begriff "Master-Plan", den Bundesinnenminister Seehofer für eines seiner Konzeptpapiere verwendete. Dabei geht es den Akteurinnen und Akteuren nicht immer um eine möglichst positive sprachliche Bewertung von Zusammenhängen. Nicht selten wird auch mit abwertenden Stereotypisierungen gearbeitet, was Begriffe wie "Flüchtlingstsunami", "Messermigration", "alimentierte Messermänner" oder "Kopftuchmädchen" deutlich machen.
    Nachrichtensprache wird im digitalen Zeitalter noch wichtiger
    Das alles ist zwar kein neues Phänomen. Durch die Digitalisierung hat die Verbreitung von inhaltlich falschen Verkürzungen, Vereinfachungen, Sprachmanipulationen, Propaganda und von PR-Botschaften aber massiv zugenommen. Beinahe jede Partei verfügt heutzutage über eigene "Newsrooms". Viele Parteien, Unternehmen, Vereine und andere gesellschaftliche Interessengruppen verbreiten darüber hinaus ihre PR über eigene Kanäle wie Youtube, Facebook, Twitter und Instagram. Denn es ist bei weitem nicht nur der politische Betrieb, der für eigene Ansichten öffentliche Aufmerksamkeit schaffen will und dafür eigene Standpunkte in den Vordergrund rückt, während er andere vernachlässigt. Zur Veranschaulichung: Je nach Blickwinkel werden z.B. Steuern von dem einen als "Last", von der anderen als Beitrag zum Gemeinwohl bezeichnet. Eine solch einseitige Deutung wird Framing genannt, über das inzwischen viel gesprochen wird. (Wer sich näher mit dem Framing-Konzept beschäftigen will, findet hier, hier und hier Debattenbeiträge.)
    Umso erstaunlicher, dass im Zuge der Digitalisierung zwar viel über neue Formen und Formate, aber selten über die Verwendung von Sprache nachgedacht wird. Dabei war Sprache schon immer eines der wichtigsten Qualitätskriterien für Nachrichtenredaktionen. Im Zeitalter der Digitalisierung, in dem die Verbreitung diskriminierender Äußerungen, abwertender Stereotypisierungen, von Propaganda und inhaltlich falscher Verkürzungen stark zugenommen hat, ist sie noch wichtiger geworden. Ob Trump oder Johnson, Klimawandel oder Brexit: Selektive sprachliche Polarisierungen von wem oder über was auch immer dürfen sich Nachrichtenredaktionen nicht zu eigen machen.
    Das "Gute Kita Gesetz" und der "sogenannte Wirtschaftsnobelpreis"
    Das preisgekrönte sprach- und medienkritische Online-Projekt Floskelwolke widmet sich diesem Problem und macht täglich auf die in deutschsprachigen Medien meistbenutzten Floskeln und Phrasen aufmerksam. Die Funde reichen von harmlosen Nachlässigkeiten über inhaltlich falsche Redewendungen bis hin zu verfälschenden Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge.
    Für Nachrichtenredaktionen ist es problematisch, wenn hohle Phrasen oder gar Sprachmanipulationen und das Verharmlosen komplexer Zusammenhänge in die Berichterstattung eingehen. Die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks spricht deshalb zum Beispiel vom "guten Kita-Gesetz" und vom "sogenannten Wirtschaftsnobelpreis" und klärt in den Meldungen über die Entstehungsgeschichte des Preises auf.
    Es gibt Redaktionen, die sich beim Auffinden sprachlicher Nachlässigkeiten von Algorithmen unterstützen lassen. T-Online setzt beispielsweise eine Software ein, die Artikel auf mehr als 800 häufige Rechtschreibfehler und mehr als 100 typische Floskeln durchforstet. Findet das Programm einen Fehler, wird die zuständige Redakteurin oder der zuständige Redakteur darauf aufmerksam gemacht.
    Der "Guardian" hat einen Style-Guide für den Umgang mit Sprache entwickelt. Dort ist beispielsweise nachzulesen, dass man den Begriff "Klimakrise" dem Begriff "Klimawandel" vorzieht, um wissenschaftlich präziser über Umweltprobleme zu berichten. Die Chefredakteurin des Guardian, Viner, erklärte dazu, "Klimawandel" klinge zu passiv im Vergleich zu den Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Forschern, die von einer Katastrophe für die Menschheit sprechen.
    Framing steckt im Detail
    Das wiederum macht deutlich: "Framing" zu verhindern ist nicht einfach, weil Sprache immer Assoziationen hervorruft und die Verwendung von Begriffen immer mit einer Deutung einhergeht. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Die Fakten sind in beiden Fällen identisch, die Bewertung eine jeweils andere. Ein anderes Beispiel: Ist nicht auch das "generische Maskulinum" bereits Framing, weil es die Wirklichkeit rein männlich darstellt? Eine grammatikalische Regel ist es – wie oft behauptet wird – jedenfalls nicht. Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch weist darauf hin, dass wissenschaftlich längst nachgewiesen sei, dass das generische Maskulinum nicht generisch, also nicht als beide Geschlechter umfassend, interpretiert werde und Frauen deshalb nicht wissen können, ob sie mitgemeint sind oder nicht.
    Das wirft auch in unserer Redaktion häufig Fragen auf: Waren wirklich nur Polizisten im Einsatz oder waren auch Polizistinnen dabei? Beteiligten sich an den Protesten wirklich nur Demonstranten oder auch Demonstrantinnen? Solche Fragen sind nicht unerheblich, weil sie auch gesellschaftspolitische Bedeutung haben können. Man denke nur an die Proteste im Sudan, die zum Sturz der Militärdiktatur geführt haben. Die Proteste wurden maßgeblich von Frauen initiiert, die zum Teil 70% der Demonstrierenden ausmachten. Für die Berichterstattung ist diese Tatsache relevant, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Sudan eines der Länder mit den restriktivsten Frauenrechten weltweit ist, in dem Frauen unter anderem für das Tragen von Hosen und das Ablegen des Kopftuches mit Peitschenhieben bestraft werden können.
    Hinterfragen, einordnen, erklären
    Die Bedeutung von Nachrichtensprache ist im digitalen Zeitalter gewachsen. Sie ist eines der wichtigsten Werkzeuge für Nachrichten-Journalistinnen und -Journalisten. Die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion ist sich dessen bewusst. Wir hinterfragen Begriffe und Wörter, wir suchen im Zweifel nach anderen Formulierungen, wir erklären und ordnen ein, um die Fakten bestmöglich zu transportieren. Deshalb werden wir auch künftig vom "sogenannten Wirtschaftsnobelpreis" sprechen (müssen).