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Auschwitz-Überlebende
"Die Menschenmenge lief und lief"

Drei Jahre lang wurde die Polin Zofia Posmysz im Vernichtungslager Auschwitz gefangen gehalten. Neun Tage vor der Befreiung des Lagers wurde sie auf einen Todesmarsch geschickt - ins Lager nach Ravensbrück, das erst im Mai befreit wurde. Der Weg nach Hause in die Freiheit war lang - und an seinem Ende wartete eine Enttäuschung.

Von Sabine Adler | 27.01.2015
    Auschwitz-Birkenau
    Monatelang kursierte unter den Auschwitz-Häftlingen das Gerücht über die baldige Befreiung durch die Alliierten. (picture-alliance/ dpa)
    Als die Rote Armee am 27. Januar das Vernichtungslager Auschwitz befreite, befand Zofia Posmysz sich schon im Konzentrationslager Ravensbrück, nach einem tagelangen Todesmarsch auf der Flucht vor der vorrückenden Front. Monatelang kursierte unter den Auschwitz-Häftlingen das Gerücht über die baldige Befreiung durch die Alliierten. Zofia Posmysz überlegte fieberhaft, ob sie sich in das sogenannte Krankenhaus einweisen lassen sollte, um so im Lager zu bleiben und dessen Befreiung zu erleben. Doch der Plan schien ihr zu gefährlich.
    "Es gab tapfere Personen, die sich in dieses Krankenhaus hineinschmuggeln ließen. Das war riskant, weil Häftlinge, die simulierten, getötet wurden. Aber die, die das gewagt haben, waren schon am 27. Januar frei."
    Drei Jahre, von 1942 bis 1945, wurde sie in dem Vernichtungslager gefangen gehalten, Auschwitz verlassen hat sie neun Tage vor der Befreiung.
    "Der letzte Tag in Auschwitz war der 18. Januar. Um 18 Uhr wurde unser Lager Birkenau B2B Richtung Deutschland getrieben. Es herrschten minus 18 Grad. Nach drei Tagen und drei Nächten zu Fuß wurden wir in offenen Güterwagen nach Ravensbrück gebracht."
    Zofia Posmysz telefoniert.
    Zofia Posmysz (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    Von dort aus ging es weiter nach Neustadt-Glewe, wo sie nach heftigen Fliegerangriffen am 2. Mai die Befreiung erlebte. Die SS-Wachen hatten das Lager panikartig verlassen, was die Häftlinge erst merkten, als der Befehl zum Appell ausblieb. Sie brachen das Tor auf.
    "Die Menschenmenge lief und lief, plötzlich blieben alle wie auf Kommando stehen. Jemand sagte: Hört mal, wir haben kein Brot. Wir liefen zum Lager zurück. Ich auch. Zwei Tage trauten wir uns nicht, das Lager zu verlassen. Am Abend sind amerikanische Soldaten in Jeeps erschienen. Einer lud mich zu einer kleinen Runde ein. Danach kamen die Lkw mit Essens-Paketen von den Vereinten Nationen."
    Sie erlebte die Angst der Deutschen vor den Ex-Häftlingen
    Zofia Posmysz, heute 91 Jahre alt, ist in Polen eine berühmte Hörspiel- und Buch-Autorin. Soeben hat sie auf Deutsch ihr Buch "Befreiung und Heimkehr" veröffentlicht. Ihr letztes, wie sie sagt. Darin schildert sie die Zweifel, die sie und eine Gruppe von 23 ehemaligen Auschwitz-Häftlingen auf ihrem Weg zurück in die Heimat befallen haben. Polen gehörte schon zum sozialistischen Lager, die Sowjetunion diktierte östlich der Elbe die Nachkriegsentwicklung.
    "Die Amerikaner, die uns die Lebensmittel-Pakete gebracht haben, rieten uns hinter die Elbe zu gehen, weiter östlich kämen die Russen, die würden sich schlecht benehmen. Wir hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Und: Konnte man sich schlechter benehmen als die Deutschen, die noch auf dem Todesmarsch so viele Menschen mit Genickschuss getötet haben? Und wenn sie Patronen sparen wollten, die Frauen wie Schweine mit Stöcken erschlagen haben?"
    Sie erlebte die Angst der Deutschen vor den Ex-Häftlingen, vor deren Rache, auch vor Diebstahl. Die Begegnungen mit den Soldaten der Roten Armee verliefen höchst unterschiedlich.
    "Der erste Besuch von den Russen fand schon nach zwei Tagen statt. Sie hatten auch Selbstgebrannten mitgebracht. Meine Freundin Maria, die Pharmazeutin von Beruf war, warnte uns zu trinken. Zwei taten es dennoch, sie feierten die Freiheit, den Sieg. Sa pobdjedu! Sie starben, denn der Alkohol war Methanol."
    "Das waren wirklich schreckliche Enttäuschungen"
    Dass in Polen bald Verhältnisse wie in der Sowjetunion herrschen würden, konnten sich die meisten Frauen aus ihrer Rückkehrergruppe nicht vorstellen. Zofia Posmysz war in Auschwitz-Birkenau mit Russinnen befreundet. Von ihnen lernte sie ein Lied über den Stalinschen Terror und dessen berüchtigten Geheimdienst NKWD. Äpfelchen wohin rollst Du? In den NKWD, von dort kehrst du nie zurück.
    "Das waren alles Vorwarnungen. Keiner wusste, dass Polen bereits zur russischen Einflusszone gehörte, aber je weiter wir nach Hause kamen, desto mehr sahen wir, wie sehr wir uns getäuscht haben."
    Zofia Posmysz hat vier Bücher geschrieben, die allermeisten zu Zeiten, da Polen sozialistisch war. Kritik an der UdSSR und Roten Armee war undenkbar, deswegen schob sie "Befreiung und Heimkehr" immer auf. Das Buch sollte auch von Olenka erzählen, die erst mit ihr in Auschwitz und danach unter den Kommunisten eingesperrt war, beide Male, weil ihr Bruder der polnischen Heimatarmee angehört hat. Die kämpfte erst gegen die Nazis, dann gegen die Rote Armee.
    "Das waren wirklich schreckliche Enttäuschungen. Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Mein Vater wurde 1943 erschossen. Meine Mutter hätte ohne mich nicht überlebt. Ich bekam zu meinem Gehalt einmal im Monat ein Essenspaket und das gab ich ihr. Da sagte sie: Jetzt bist du unser Vater."
    Zofia Posmysz erfuhr von der Befreiung von Auschwitz erst am 24. Mai 1945, dem Tag, an dem sie zu Hause ankam.