Auslandsadoptionen
Die verkauften Kinder aus Südkorea

Tobias Hübinette wurde in den 70ern nach Schweden adoptiert. Er stammt aus Südkorea. Aber daran erinnert er sich nicht. In seiner Biografie gibt es Lücken und Lügen. Als er nachforscht, erfährt er von kriminellen Praktiken bei Auslandsadoptionen.

    Ein etwa zehnjähriger Junge wandert alleine durch den Wald. Es ist nur sein Rücken zu sehen.
    Wo komme ich her? Wer waren meine Eltern? Viele Adoptionskinder begeben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. (Symbolbild) (Imago / Cavan Images )
    Seinen genauen Geburtstag kennt Tobias Hübinette nicht. Geboren irgendwann im Jahr 1971. Mehr kann er nicht sagen. Auch seinen Geburtsort kennt er nicht. Irgendwo in Südkorea. Ihm wurde gesagt, er sei in einem Zug gefunden worden. Aber das ist wahrscheinlich gelogen.
    Ein Leben ohne Anfang, ohne Ursprung: Tobias‘ Lebensspur beginnt erst im März 1972, als er etwa sieben oder acht Monate alt ist. Ein Flugzeug bringt ihn nach Schweden. Das Baby wird adoptiert. Erst dann wird er zu Tobias Hübinette.
    „Ich wuchs in einer kleinen Stadt auf, einer Industriestadt im südlichsten Teil Schwedens namens Mortara“, erzählt der Soziologie-Professor. Er sitzt in einem Seminarraum der Universität Karlstad und spricht leise und zurückhaltend über etwas, dass ihn fast sein ganzes Leben lang innerlich aufgewühlt hat: Für Paare aus westlichen Ländern war es lange Zeit relativ einfach, ein Baby aus einem Entwicklungsland zu adoptieren. Viele dieser Adoptionen sind legal verlaufen. Doch angetrieben von der Nachfrage entstand in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Branche, die auch mit kriminellen Praktiken arbeitete. Leibliche Eltern in den Herkunftsländern wurden belogen. Es kamen Fälle von Kinderhandel und Urkundenfälschung ans Licht.

    "Es gab kaum offene Gespräche über meine Herkunft"

    Erst jetzt, im März 2025, hat eine südkoreanische Wahrheitskommission bestätigt, dass damals bei den Auslandsadoptionen betrogen und gelogen wurde. Als Gegenleistung für internationale Unterstützung wurden Kinder wie Gepäck ins Ausland geschickt. Auf Schiffen oder mit Flugzeugen. Zu europäischen und amerikanischen Familien. Es wird geschätzt, dass in den vergangenen 60 Jahren rund 200.000 koreanische Kinder zur Adoption freigegeben wurden.
    „Es gab sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie kaum offene Gespräche über meine Herkunft – und darüber, wer meine koreanischen Eltern gewesen sein könnten“, sagt Tobias Hübinette. Natürlich sei es möglich gewesen, über die Fakten zu sprechen. Darüber, dass er aus einem anderen Land stamme und dass das auch in den Dokumenten steht. „Aber davon abgesehen war das überhaupt kein Thema.“
    Als junger Erwachsener beginnt Hübinette, sich politisch zu engagieren. Er wird Teil der antifaschistischen Bewegungen, engagiert sich gegen Fremdenhass und muss feststellen: Auch Adoptionen – wie die seine – haben oft mit Rassismus zu tun.

    Auf der Suche nach den biologischen Eltern

    Mit 25 Jahren fliegt Tobias das erste Mal nach Korea. Er beginnt, seine biologischen Eltern zu suchen – und erfährt dabei mehr und mehr über das System der damaligen Auslandsadoptionen und wie sein Leben mit den politischen Gegebenheiten der Zeit verstrickt war:  In den 70ern herrschte in Südkorea politische Unterdrückung. In den 80er-Jahren übernahm das Militär die Macht. Der Westen kritisierte das Regime für seine Menschenrechtsverletzungen. Bei den angebotenen Adoptivkindern dagegen schaute man aber nicht so genau hin - rund 200.000 Babys wurden damals von Südkorea zur Adoption ins meist westliche Ausland geschickt, in manchen Jahren ein Prozent aller Neugeborenen.
    In Schweden wurden die Kinder gerne aufgenommen, denn im eigenen Land wurden zu adoptierende Kinder knapp. Alleinerziehende Mütter konnten im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat auf immer mehr Unterstützung bauen. Hinzu kamen freie Verhütungsmittel und ein liberales Abtreibungsrecht. Adoptivkinder gab es im Inland also immer weniger. Schwedische Paare mit einem unerfüllten Kinderwunsch mussten also im Ausland nach Adoptivkindern suchen. „Das erzeugte einen enormen Druck auf die Herkunftsländer, die Nachfrage zu befriedigen“, sagt Hübinette. Die meisten dieser Herkunftsländer waren damals noch sehr arm, auch Südkorea. „Es ging also um viel Geld.“
    Die schwedischen Sozialdemokraten verstanden sich als Speerspitze der weltweiten Solidarität mit der sogenannten Dritten Welt. Kinder wie Tobias aus Südkorea mussten vor Hunger und Unterdrückung gerettet werden, glaubten viele. Und so wird Schweden zu dem Land, das weltweit pro Kopf mit Abstand die meisten Kinder ausländischer Herkunft adoptiert hat. Mehr als 60.000 Adoptionen in einem Land, das nicht mehr als zehn Millionen Einwohner hat. „Ich bin eines dieser über 60.000 Kinder“, sagt Hübinette.

    Schweden und der kriminelle Kinderhandel

    Bereits in den 1980er-Jahren wurden in Medien Vorwürfe gegen die zuständigen schwedischen Adoptionsagenturen laut. Von Kindesraub war die Rede. 2003 reagiert Schwedens Regierung und überarbeitet die Adoptionsvorschriften. Als eine Maßnahme gegen kriminellen Kinderhandel sollte den Waisenhäusern in den Herkunftsländern weniger Geld überwiesen werden. Die schwedischen Adoptiveltern zahlten beispielsweise für ein chinesisches Kind jeweils eine sogenannte „Spende“ von mehreren Tausend Dollar, meistens direkt an das betreffende Waisenhaus.
    Um seine Eltern zu finden, tritt Hübinette im koreanischen Fernsehen auf, startet dort einen Aufruf. Die Suche nach seinen Eltern bringt Hübinette dazu, sich auch politisch mehr und mehr zu engagieren, sich für die Anliegen von Schwedens Auslandsadoptierten einzusetzen. In Medien und öffentlichen Auftritten prangert er das Wegsehen vergangener schwedischer Regierungen an – und die Gleichgültigkeit heutiger Behörden gegenüber Schicksalen wie seinem.
    Seine biologischen Eltern hat Tobias Hübinette bis heute nicht gefunden. Aber politisch hat er einiges erreicht. Mittlerweile gibt es eine unabhängige Adoptionskommission. Sie soll die schwedische Adoptionspraxis bis in die 1990er-Jahre umfassend untersuchen. Auch Hübinette ist Mitglied dieser Kommission.
    Für ihn ist eine solche staatliche Untersuchung „der Beginn eines neuen Prozesses der Wahrheitsfindung und Versöhnung.“ An diesem müssten alle beteiligt sein: die Adoptierten, die Adoptiveltern, aber auch die Kinder der Adoptierten und deren Partner. Und dann natürlich die leiblichen Eltern. „Es geht nicht nur darum, die Wahrheit herauszufinden, sondern auch darum, die Wahrheit akzeptieren zu können.“

    Gunnar Köhn, lkn