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Ausnahmezustand in der Türkei
"Die Rechtsstaatlichkeit bleibt auf der Strecke"

Was derzeit in der Türkei passiere, zeige vor allem die große Unsicherheit der Regierung, sagte Gerald Knaus, Direktor der Europäischen Stabilitätsinitiative, im DLF. Die Regierung Recep Tayyip Erdogans wisse nicht genau, wer für den Putschversuch verantwortlich sei. Derzeit greife in der Türkei Angst um sich, die Polarisierung nehme zu und die Rechtsstaatlichkeit bleibe dabei auf der Strecke.

Gerald Knaus im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 21.07.2016
    Präsident Erdogan verkündet nach einer Kabinettsitzung den Ausnahmezustand.
    Gerald Knaus: "Erdogan versucht, pauschal ganze Gruppen einzuschüchtern." (dpa)
    Dirk-Oliver Heckmann: Präsident Erdogan verliert keine Zeit. Erst die sogenannten Säuberungen bei Militär und Justiz, dann die Entlassung Tausender Lehrer und Hochschulprofessoren und das Verbot für Akademiker, das Land zu verlassen. Gestern dann auch noch die Entscheidung, den Ausnahmezustand zu verhängen.
    Am Telefon begrüße ich jetzt Gerald Knaus, Direktor der Europäischen Stabilitätsinitiative. Guten Tag, Herr Knaus.
    Gerald Knaus: Guten Tag.
    Heckmann: Herr Knaus, Erdogan verhängt den Ausnahmezustand für drei Monate. Wie besorgniserregend ist das aus Ihrer Sicht?
    Knaus: Ich glaube, die Tatsache, dass der Ausnahmezustand verhängt worden ist, ist weniger Besorgnis erregend als die Rhetorik, die jetzt in der Türkei rund um die Niederschlagung des Putsches um sich greift. Man kann, wie das die Regierung in der Türkei tut, natürlich sagen, auch andere europäische Länder wie Frankreich, wie Belgien haben nach gravierenden Ereignissen wie Terrorismus besondere Maßnahmen getroffen. Aber was jetzt passiert, zeigt vor allem die große Unsicherheit der Regierung, die eigentlich nicht genau weiß, wer alles hinter dem Putsch steht, und aus diesem Grund, so scheint es, einfach gleich pauschal Tausende Leute in verschiedenen Institutionen, die sie offensichtlich nicht unter Kontrolle hat, mit dem Putsch in Verbindung bringt. Und das bedeutet, dass es eigentlich gar keine Möglichkeit gibt, genau aufzuarbeiten, rechtsstaatlich aufzuarbeiten, was wirklich passiert ist. Die Angst greift um sich, die Polarisierung nimmt zu und die Rechtsstaatlichkeit bleibt dabei dann auf der Strecke.
    Heckmann: Die Rechtsstaatlichkeit bleibt auf der Strecke. Die türkische Regierung behauptet allerdings zu wissen, wer hinter dem Putsch stand, nämlich die Gülen-Bewegung. Was will Erdogan jetzt mit dem Ausnahmezustand erreichen aus Ihrer Sicht?
    Knaus: Ich glaube, das Bild der Stärke, das die Regierung jetzt projiziert, und vor dem Hintergrund der enormen Unsicherheit in der Türkei ist es auch verständlich, dass sich viele Leute an jemanden klammern, von dem sie hoffen, dass er vor diesen Wellen von Attentaten, Attacken, der Kampf mit der PKK, der Terrorismus des Islamischen Staates, Krieg in den Nachbarländern, dass jemand da Stärke zeigt.
    Aber das echte Problem ist - und das hat man gesehen bei den Verhaftungen von Erdogans engsten Militärberatern, also Leute, die er selbst um sich hatte, die ihm erklären sollten, was in den Streitkräften vor sich geht, und die wurden jetzt verhaftet, weil angeblich in den Coup verwickelt. Er weiß offensichtlich nicht - sonst hätte er sich nicht mit diesen Leuten umgeben -, was in der Armee, was in anderen Institutionen vor sich geht. Und dieses Gefühl von man weiß eigentlich nicht, wo die Gefahr steckt, verbunden mit der Tendenz zu Verschwörungstheorien, die es nicht nur in der Türkei, aber besonders auch in der Türkei gibt, die macht das Ganze sehr gefährlich.
    "Man weiß eigentlich nicht, wo die Gefahr steckt"
    Heckmann: Oder Erdogan nutzt die Gelegenheit, jetzt wirklich reinen Tisch zu machen mit seinen Gegnern.
    Knaus: Es ist ja auch aus der Perspektive der Stabilisierung betrachtet extrem kontraproduktiv, was hier passiert. Er hat Wahlen gewonnen, es gibt eigentlich keine wirklichen Gegner in der Politik, die nächsten Jahre stehen keine Wahlen auf dem Programm, im Parlament haben sich, was den Putsch betrifft, alle Parteien klar gegen den Putsch ausgesprochen.
    Ich glaube, was hier derzeit abläuft ist das Gefühl, man weiß eigentlich nicht, wo die Gefahr steckt. Man sieht sie überall, es gibt alle zwei Wochen einen Terroranschlag, vor wenigen Wochen in Istanbul am Flughafen. Jetzt gibt es einen Putsch, die Regierung weiß nicht, wer dahinter steckt, und so reagiert sie einfach darauf, indem sie Tausende Leute suspendiert, im Militär verhaftet, was natürlich die Verunsicherung nur noch größer macht. Als Strategie, Stabilität zu schaffen, ist das eine sehr schlechte Strategie. Ich glaube nicht, dass das sein Plan ist.
    "Es ist eine Schwäche der Institutionen"
    Heckmann: Das heißt, Sie gehen eher davon aus, dass es eine Hilflosigkeit ist, und nicht davon, dass Erdogan da einen lange gehegten Plan aus der Schublade herausholt und jetzt umsetzt?
    Knaus: Je mehr Details wir über den Putsch erfahren aus der Türkei und jetzt auch von glaubwürdigen westlichen Journalisten, die die letzten Tage ja recherchiert haben, desto mehr wird klar, was für ein gewaltiger Schock das war für die Regierung und natürlich auch für die Gesellschaft. Und die Tatsache, dass es möglich ist, führende Militärs, den Generalstabschef und andere zu verhaften, einzusperren, das staatliche Fernsehen zu übernehmen, das Parlament zu bombardieren, die zeigt eigentlich die Schwäche. Es ist eine Schwäche der Institutionen.
    Es gibt in der Türkei, es gab noch nie in der Türkei eine funktionierende zivile Kontrolle der Streitkräfte durch das Parlament, durch ein starkes ziviles Verteidigungsministerium, und manchmal ist das die größere Gefahr für die Menschenrechte, wenn eine Regierung sich schwach fühlt, Stärke projiziert, nicht weiß, wo ihre Gegner sind, und anstatt darauf zu setzen, jetzt genau zu untersuchen, was da passiert ist, von vornherein sagt, das war eine große Verschwörung, womöglich aus dem Ausland gesteuert, durch einen mysteriösen Prediger in Amerika, aber eben nicht weiß, wer wirklich dahinter steckt und dann einfach pauschal ganze Gruppen versucht einzuschüchtern.
    Heckmann: Und wenn das so ist wie Sie sagen, wie sollte dann Europa reagieren? Grünen-Chef Cem Özdemir, der hat ja bereits gefordert, die EU-Beitrittsverhandlungen jetzt doch zu stoppen. Sind wir nicht langsam an einem Punkt, wo das notwendig sein wird?
    Knaus: Die EU-Beitrittsverhandlungen sind seit einigen Jahren - und das ist Teil der türkischen Tragödie - kaum noch glaubwürdig gewesen. Die EU hat Kapitel geöffnet, von denen kein Mensch erklären kann, was das jetzt eigentlich bedeuten soll, was das bringt, den Türken, der EU, den Reformen.
    Ich glaube, das wäre jetzt reine Symbolpolitik, die man natürlich machen muss, wenn gewisse rote Linien überschritten werden. Wenn jetzt die Türkei die Todesstrafe wieder einführt oder wenn sich herausstellt, dass eine der großen Leistungen der Erdogan-Regierung in den letzten zwölf Jahren, nämlich das Eindämmen der Folter als Instrument der Polizeiarbeit, dass das rückgängig gemacht wird, dass wir jetzt wieder Fälle von Folter haben als systematische Politik, dann muss man natürlich die Verhandlungen einstellen. Aber ich glaube, in dieser Phase ist das Wichtigste zu versuchen, mit Argumenten auch darauf zu drängen und zu dringen, dass die türkische Regierung selbst erkennt, sie wird mit der jetzigen Politik ihre Position nur weiter untergraben.
    In einer Region, in der im Irak Krieg herrscht, in Syrien Krieg herrscht, in der Ukraine herrscht Krieg, es gibt Kämpfe im Lande, es gibt ein großes Terrorismusproblem, es gibt drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei, vor diesem Hintergrund zu sehen, dass sich alle Institutionen, die Staatsanwaltschaft, die Justiz, das Militär, die Polizei gegenseitig misstrauen und innerhalb der Institutionen jeder jedem misstraut, das ist eine große Gefahr.
    "Es ist sehr schwer in Erdogans Kopf hineinzublicken"
    Heckmann: Herr Knaus, denken Sie denn eigentlich, dass Erdogan überhaupt noch an einem Beitritt zur EU interessiert ist? Denn eine Türkei nach seinen Vorstellungen, die wird doch niemals kompatibel sein mit Europa, oder?
    Knaus: Es ist sehr schwer, in Erdogans Kopf hineinzublicken. Wir wissen, dass er und seine Regierung von 2002 bis 2007 sehr, sehr viele Reformen vorangetrieben hat. Damals sah es allerdings auch wirklich so aus, als wäre die ganze Zukunft Europas die Mitgliedschaft in einer selbstbewussten und starken EU. Alle sind damals beigetreten, die Bulgaren, die Rumänen, die ganzen Osteuropäer. Danach wurde immer klarer, für die Türkei ist das eigentlich keine wirklich glaubwürdige Perspektive. Die Verhandlungen haben sich immer länger hingezogen. Und Erdogan hat sicherlich so wie andere politische Führer auch auf dem Balkan nur noch viel krasser beschlossen, das ist wohl nichts, was wirklich funktionieren wird, und dann begann der Machtkampf, der in der Türkei im Hintergrund ja schon seit Jahren schwelt.
    Es gab einen Versuch, seine Partei über das Verfassungsgericht auszuhebeln. Eine Stimme hat gefehlt, um die Partei 2008 zu verbieten nach zwei Wahlsiegen. Und all das hat unter Erdogans Mitstreitern und auch bei ihm zu dem Entschluss geführt, alle Institutionen unter ihre Kontrolle bringen zu wollen, um sicher zu sein. Wahlen alleine geben keine Sicherheit, also versucht man die Justiz zu kontrollieren, man versucht das Militär zu kontrollieren. Und das mit nicht rechtsstaatlichen Mitteln wird nicht funktionieren, weil es den Widerstand auch immer größer macht. Aber es ist für die türkische Gesellschaft natürlich eine Katastrophe.
    Heckmann: Der Direktor der Europäischen Stabilitätsinitiative Gerald Knaus war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Knaus, danke Ihnen für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.