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Außenhandel-Fixierung
Politologe Andreas Nölke fordert Ende des „Exportismus“

Wie es der deutschen Wirtschaft geht, hängt nach wie vor davon ab, wie die Exporte laufen. Denn Politik und Industrie steuern nicht um. Von „Exportismus“, einer Ideologie, spricht der Politikwissenschaftler Andreas Nölke. Er zeigt, wie sich der Fokus verschieben ließe.

Von Sina Fröhndrich | 01.02.2021
Buchcover: Andreas Nölke: "Exportismus. Die deutsche Droge"
Politikwissenschaftler Andreas Nölke kritisiert die deutsche Fixierung auf den Außenhandel (Buchcover: Westend Verlag, Hintergrund: picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich)
China, die USA und danach Deutschland: 2019 landete die Bundesrepublik auf Platz drei der größten Exportnationen. Was in weiten Teilen der Politik und Industrie beklatscht wird, stößt beim Politikwissenschaftler Andreas Nölke auf Kritik. Für ihn sind die deutschen Exporte eine Droge. In den vergangenen vier Jahrzehnten habe sich die Exportlastigkeit deutlich erhöht. Auch weil Unternehmen und Staat eher gespart als investiert hätten – deswegen brauchte es die Nachfrage aus dem Ausland. Dabei zeige sich bei anderen großen Volkswirtschaften – etwa China oder den USA, dass diese eine viel geringere Exportleistung in Relation zur Wirtschaftsleistung hätten. Sie sind weniger abhängig als Deutschland. "Ohne dieses Exportniveau würde das Wirtschaftswachstum in Deutschland einbrechen. Hohe Arbeitslosigkeit könnte die Folge sein."
Nölke fordert, diese Abhängigkeit zu beenden. Statt auf den nächsten Kick zu warten, wie bei einer Droge, empfiehlt er einen Entzug. Erstens, weil die exportorientierte Industrie schon vor der Pandemie in der Rezession steckte, zweitens, weil der US-chinesische Handelskonflikt den Handel erschwerte – und drittens sieht sich Nölke auch durch die Pandemie bestätigt.

Privater Konsum wichtig für Wachstum

Deutschlands Wirtschaft leide besonders, weil wichtige Exportmärkte hart getroffen wurden. Nölke führt aus, dass etwa zwischen 2013 und 2016 der private Konsum einen wesentlich höheren Anteil am Wachstum hatte als die Exporte. Dennoch macht er eine Fixierung auf den Außenhandel aus – trotz eher schlechter Zukunftsaussichten. Beispiel China:
"Zu den neuesten Herausforderungen gehört die Ausweitung des umfassenden chinesischen Sozialkreditsystems auf Unternehmen. Ganz abgesehen von generellen Sorgen über die damit zur Verfügung zu stellenden Daten besteht das Risiko, dass deutsche Unternehmen, die sich in irgendeiner Form politisch unliebsam gemacht haben, als ‚stark vertrauensunwürdige Unternehmen‘ eingestuft und aus dem Land geworfen werden."
Und: China ist längst kein billiger Produktionsstandort mehr – sondern eine moderne Dienstleistungsökonomie mit High-Tech-Exporten. Chinesische Unternehmen werden zu Konkurrenten für deutsche Firmen. Weitere Gefahren sieht Nölke in Wirtschaftskrisen in Schwellenländern, die die Nachfrage nach deutschen Gütern senken könnten. Und nicht zu vergessen: Deutschland mache sich durch den viel kritisierten Handelsüberschuss politisch erpressbar.
"Trump hat inzwischen den deutschen Außenhandelsüberschuss mit dem deutschen Beitrag zur Finanzierung der NATO verknüpft. […] Zudem fällt die deutsche Bundesregierung auch seit Längerem mit einer sehr gemäßigten Rhetorik gegenüber chinesischen Menschenrechtsverstößen auf."

Gute Löhne durch Exporte?

Deutschland nehme diese anscheinend in Kauf, um die Exporte am Laufen zu halten, vermutet der Autor. Ein Grund: Die Exportwirtschaft verspricht hohe Löhne – doch Nölke schränkt ein, dies gilt nur für ein Viertel der Beschäftigten. Ist der extreme Fokus auf den Export damit zu rechtfertigen? Zumal Menschen in der Agrarwirtschaft, der Gastronomie oder im Handel in den vergangenen Jahren kaum von steigenden Löhnen profitiert hätten. Und auch die eigentlich so gut bezahlten Jobs etwa in der Automobilindustrie sehen auf den zweiten Blick gar nicht mehr so gut bezahlt aus:
"Wenn man die Produktivitätsentwicklung einbezieht, ist die Entwicklung der Löhne in diesen Unternehmen gar nicht mehr so eindrucksvoll. Eine Berechnung der IG Metall für die Tarifrunde 2018 zeigt, dass die Lohnstückkosten in der deutschen Metall- und Elektroindustrie zwischen 2000 und 2016 […] sogar gesunken sind."
Wie nun könnte die exportabhängige Wirtschaft zu einer nur noch exportstarken umgebaut werden? Nölke, der auch die linke "Aufstehen"-Bewegung unterstützt, fordert vor allem, den Binnenkonsum anzukurbeln – ein Baustein dafür: höhere Löhne. Leihbeschäftigte sollten mehr verdienen, der Mindestlohn müsse auf 12 Euro angehoben werden. Minijobs sollten Studierenden und Schülerinnen und Schülern vorbehalten bleiben, zunächst auch allen in Rente, so lange das Rentenniveau nicht höher liege. Und nicht zuletzt brauche es staatliche Investitionen – Geld ausgeben, statt sparen - in frühkindliche Bildung und die Altenpflege.
"Zusätzliche Investitionen in Projekte wie neue Brücken, Schienen oder Breitbandverkabelung lassen sich zunächst problemlos durch eine zusätzliche Kreditaufnahme finanzieren. Ihrem finanziellen Aufwand stehen bleibende Werte gegenüber, die bei den aktuellen Negativzinsen für deutsche Staatsanleihen mehr wert sind als die dafür aufgenommen Kredite. […] Eine höhere Qualifikation von Schülern, eine intensivere Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen (wegen besserer Kinderbetreuung) oder ein besseres Gesundheitssystem machen sich über höheres Wachstum und höhere Steuereinnahmen langfristig bezahlt."

Nölke lässt wenig Raum für Wachstumskritik

Nölke schreibt leicht verdaulich, konkret und kenntnisreich. Der Politikwissenschaftler zitiert Arbeiten von arbeitgebernahen Instituten und Ökonomen und Ökonominnen genauso wie jene, die auf der arbeitnehmernahen Seite stehen, er verweist auf Studien von IWF, OECD und Bundesbank. Seine Argumentation ist weitgehend plausibel, allerdings fehlt etwa aus wachstumskritischer Sicht der Blick auf die Ressourcen. Nölke fordert zwar Klimainvestitionen – doch dass weniger Exporte auch weniger Verkehr und weniger Ressourcenverbrauch bedeuten (gleiches gilt für weniger Konsum), ist kein Thema für ihn.
"Nur wer über einen langfristig sicheren und gut bezahlten Job verfügt, kann sich weiter für ‚Postwachstum‘ und ‚Degrowth‘ begeistern – alle anderen lernen in der Corona-Rezession, wie wichtig wirtschaftliches Wachstum zur Vermeidung von Armut und Arbeitslosigkeit ist."
Der Frankfurter Politikprofessor hält am Wachstum fest, will es aber besser ausbalancieren. Kein neues Anliegen, Nölke hat es immer mal wieder formuliert. Nun sieht er angesichts der Pandemie die Chance für eine breite Diskussion. Viele Menschen seien durch die Handelskonflikte und die Coronakrise sensibilisiert worden. Und Nölke hat auch die Bundestagswahl im Blick – er sieht die Chance für eine intellektuelle Alternative und für ein konkretes politisches Programm. An welche Partei er denkt, ob es die Linke ist oder gar Grüne oder SPD, das verschweigt er jedoch.
Andreas Nölke: "Exportismus. Die deutsche Droge"
Westend Verlag, Frankfurt a.M., 256 Seiten, 22 Euro.