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Ausstellung in einem Berliner Abrisshaus
Haus mit Gesicht und Geschichte

Wie ein Magnet zog Berlin über Jahrzehnte Künstler aus aller Welt mit billigen Mietwohnungen und Ateliers an. Nun soll ein altes Mietshaus abgerissen werden. Bevor das Haus für immer verschwindet, verabschieden sich die letzten Mieter mit einer Ausstellung, die nicht nur Nostalgisches zu bieten hat.

Von Marie Kaiser |
    Auf dem Bild ist ein Hauseingang zu sehen. Von Außen wirkt das Haus intakt. Es soll aber trotzdem abgerissen werden.
    Seit 122 Jahren steht dieses blassrote Gründerzeithaus in Berlin. Nun soll es abgerissen werden. (Marie Kaiser)
    Noch steht es - das blassrote Gründerzeithaus, - vier Stockwerke mit schmalen Balkonen und Erkern. Es ist das letzte seiner Art hier – an drei Seiten eingekeilt von der "Mercedes-Welt am Salzufer". Die letzte Wohn-Bastion in einem Gewerbegebiet voller grauer Bürohausriesen. Um die 30 Familien haben hier einmal gelebt. Von außen ahnt niemand, dass jetzt fast alle Wohnungen verlassen sind – doch im Inneren wird das offensichtlich.
    "Das Haus ist eigentlich nicht in schlechtem Zustand, ein bisschen vernachlässigt, aber hier haben sie natürlich alles entkernt. Es gibt keinen Boden, keine Türschwellen mehr. Sie haben alle Türen herausgenommen."
    Eine Ausstellung zum Abschied
    Die Künstlerin und Kuratorin Dagmara Genda, geboren in Polen, aufgewachsen in Kanada, hat hier bis zuletzt ausgeharrt. Als letzte Bewohnerin kam sie auf die Idee, sich mit einer Ausstellung von ihrem Haus zu verabschieden.
    "Wir wollten keine Party machen. Wir wollten mehr. Etwas nicht unbedingt Gewinnorientiertes - wie all diese anderen Gebäude in der Gegend."
    Dagmara Genda fällt der Abschied vom Haus sichtbar schwer, nicht nur weil sie es für künstlerisch reizvoll hält.
    "Es ist so viel Schönes in diesem Haus, deswegen denke ich, dass das Haus wirklich ein Kunstwerk ist. Das ist ein Teil der Geschichte Berlins. Die jetzt verschwinden wird. Es ist schade, wirklich total schade."
    Ihr Partner, der niederländische Künstler William Engelen, der seit fast 20 Jahren hier lebt, hat im herrschaftlichen Treppenhaus mit schmiedeeisernen Ornamenten eine Klanginstallation eingerichtet.
    William Engelen: "Es gibt eine Reihe von neun Kristallgläsern, die mit unterschiedlicher Menge an Flüssigkeiten gefüllt sind. Die werden angeschlagen. Es ist ein erfreuliches Zumklingenbringen der Gläser vor einer Rede, um einander zu beglückwünschen, zum Prostsagen oder in diesem Fall als eine Art von Verabschiedung."
    "Salute" heißt die Komposition, die den Besucher nach oben führen soll – ins Herz der Ausstellung, in die Wohnung von Dagmara Genda und William Engelen mit hohen Decken und Dielenboden. Ihre Möbel haben die beiden schon ausgeräumt - alle Ecken sind jetzt von Kunst besetzt - auch Abstellkammer und Bad.
    Gespensterhafter Scherenschnitt
    Im Wohnzimmer zeigt Dagmara Genda eine eigene Installation. Von der Decke hängt eine dreidimensionale Zeichnung. Ein verzerrter Abdruck des Wohnzimmers mit seinen Fenstern, Türen, Fußleisten und Winkeln – ein gespensterhafter Scherenschnitt aus schwarzer LKW-Plane.
    Dagmara Genda: "Was ich machen wollte, ist eine verformte Version des Wohnzimmers, das diesen Abriss überleben wird auf eine neue Weise."
    Die Wandmalereien der Künstlerin Friederike Feldmann werden den Abriss nicht überleben. Sie werden am Ende mit zerstört werden. Feldmann hat 12 Jahre lang in der Künstlerwohnung gelebt und fühlt sich immer noch verbunden mit dem Haus.
    Friederike Feldmann: "Wenn man durch die umliegenden Straßen geht, das hat alles so ein Einheitsgesicht. Und dieses Haus, obwohl es nur ein Haus ist, gibt der ganzen Straße ein Gesicht. Tatsächlich war das das spannendste Haus in dem ich je gewohnt habe."
    Die Wände ihres alten Zimmers hat Friederike Feldmann komplett bemalt - große einander überlappende Papierbahnen - in einer Fantasiesprache beschrieben. Als würde sie versuchen, all die Lebensgeschichten der Menschen zu erzählen, die das Haus in den 122 Jahren bewohnt haben.
    "Hier wohnte ein Querschnitt durch die Berliner Bevölkerung. Von der Akademikerin bis hin zum Alkoholiker ohne Job im Hinterhaus. Aber zum Hoffest haben sich immer alle getroffen. Da wurde eine lange Tafel im Hof aufgebaut. Das war wirklich immer ein rauschendes Fest."
    Eine letzte Verbeugung vor dem Haus
    Zum Abschied wird keine wilde Party gefeiert. Diese poetische und melancholische Ausstellung setzt den nachdenklichen Schlusspunkt und ist so etwas wie eine letzte Verbeugung vor dem Haus – aber auch ein leises, aber beharrliches Rütteln am Gewissen all jener, die mitentscheiden, welches Gesicht Berlin in Zukunft haben wird.
    Dagmara Genda: "Das Haus soll hier sein. Das Haus ist 122 Jahre alt, das Haus hat ganz viel erlebt. Und überlebt. Aber diese Spekulationswelle wird es nicht überleben. Und das ist ziemlich traurig und hat auch Folgen für die Stadt."