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Autobiografie
Viv Albertine und ihre Punk-Zeit

Vor 40 Jahren entwickelte sich in London der Punk zu einer Bewegung, die schnell die ganze Insel eroberte. Ein Teil davon war Viv Albertine. Sie spielte Gitarre bei der Frauenband Slits. Darüber hat die Britin die Autobiografie "A Typical Girl" verfasst - ganz ohne dabei die Zeit des Punks zu verklären.

Von Christoph Reimann | 28.05.2016
    Die britische Musikerin Viv Albertine
    Die britische Musikerin Viv Albertine (Deutschlandradio / Liliane Mofti)
    "Als ich 15, 16, 17 Jahre alt war, hatte sich bei mir viel Ärger angestaut. Deshalb habe ich zur Gitarre gegriffen. Musikalität spielte dabei keine Rolle, und es ging auch nicht darum, Songs mit schönen Texten zu schreiben. Ich war sauer, und die Gitarre war das einzige Instrument, die einzige Waffe, um meinem Ärger Luft zu machen."
    Noch heute, mit Anfang 60, spürt Viv Albertine die Wut von damals. Frauen, die nur nett auszusehen und sonst nichts zu melden haben? Nicht mit Albertines Hintergrund: Sie wächst in einer Sozialwohnung im Norden Londons auf, die Familie zerrüttet, der Vater gewalttätig, die Rollenverteilung wie ein Klischee. Dann, Mitte der 70er-Jahre, Albertine ist Anfang 20, erscheint plötzlich vieles möglich. In der Stadt entsteht eine neue Szene: die Keimzelle des britischen Punk.
    Als es auf die Haltung ankam
    Man muss nicht reich sein, nicht besonders gebildet oder auf traditionelle Weise gutaussehend, um ein Punk zu sein. Worauf es ankommt, ist eine Haltung, das Einstehen für die eigenen Werte. Albertine schließt sich der jungen Szene an, lernt Sid Vicious und Johnny Rotton kennen, kauft ihre Kleidung bei Sex, dem Punkladen von Malcom McLaren und Vivienne Westwood. Heute wird diese Zeit verklärt, die Musiker von damals werden zu Ikonen stilisiert. Allerdings nicht in der Autobiografie "A Typical Girl" von Viv Albertine. Eines der vielen positiven Merkmale der Veröffentlichung.
    "Ich habe diese Zeit im Buch behandelt, als wäre es keine große Sache gewesen, weil es sich damals auch so anfühlte. Das ganze Buch ist im Präsens geschrieben, weil ich mich nicht schlauer machen wollte, als ich es damals war. Ich habe zu der Zeit nicht gewusst, was als nächstes auf mich wartete, habe Fehler gemacht, war oft bescheuert - ohne eine omnipräsente Stimme in meinem Kopf, die meine Handlungen bewertet hätte. Es war ganz gewöhnlich, es fühlte sich alltäglich an."
    Mit Ballett-Tutu gegen den Konservatismus
    Bald schließt sich Viv Albertine den Slits an, anfangs eine reine Frauenband. Albertine spielt Gitarre. Die Slits provozieren mit ihrer Kleidung, tragen Lackstiefel zu Ballett-Tutu. An ihren Ohren baumeln rotgefärbte Tampons. Eine Slit zu sein ist im konservativen Großbritannien der 70er-Jahre zwangsläufig ein politischer Akt - und ein gefährlicher noch dazu:
    "Wir Slits sind immer gemeinsam rumgelaufen, weil es sonst zu unsicher für uns war, so wie wir aussahen. Wir wurden oft körperlich angegriffen, angespuckt oder beschimpft. Besonders von jungen Männern, die sich dachten: 'Wenn ihr nicht aussehen wollt wie Frauen und auch nicht so verhaltet, dann müssen wir euch auch nicht so behandeln.' Das war ihre Entschuldigung, uns gegenüber aggressiv zu sein."
    Ende der Slits
    Die Slits nehmen eine vielbeachtete Debütplatte auf. Aber Anfang der 80er hält der Neoliberalismus Einzug in die britische Politik. Die Zeit der Punks ist vorüber, die Slits lösen sich auf. Zu diesem Zeitpunkt endet nicht etwa die Autobiografie von Viv Albertine, stattdessen beginnt die zweite Hälfte: beruflicher Neustart, Ehe, ein Kind, Lebenskrise. Das Punk-Ethos von damals - ganz legt sie es auch in diesen Jahren nie ab, der Wille, sich selbst zu behaupten, ist immer da. In "A Typical Girl" zeichnet Viv Albertine ein Stück britischer Musikgeschichte nach. Und sie erinnert immer wieder an das, worum es im Pop eigentlich geht: um Selbstermächtigung, um ein paar schiefe Akkorde, die das Zeug haben, dein Leben für immer zu verändern. Albertine:
    "Die Autobiografie ist im Grunde eine Anleitung zur Selbsthilfe. Denn ich wollte, dass sie von jungen Leuten gelesen wird. Meine Botschaft: Du musst nichts Besonderes sein, um etwas Besonderes zu tun oder den Blickwinkel der Leute zu verändern. Du kannst genauso normal sein wie Viv, aufgewachsen in einer Sozialwohnung, ungebildet, schüchtern, voller Fehler und irgendwie merkwürdig. Du kannst diese Person sein, du kannst etwas verändern."