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Kommentar zur deutschen Automobilwirtschaft
Die Zukunft liegt auch im Osten

Der Umstieg aufs E-Auto ist ein Konjunkturprogramm – vor allem für Chinas Automobilindustrie, meint Michael Seidel. Für die deutsche Automobilwirtschaft sieht er aber Chancen. Ein Teil der Lösung liege in den neuen Bundesländern.

Ein Kommentar von Michael Seidel (Schweriner Volkszeitung) |
Mehrer Ladestationen für Elektroautos stehen dicht nebeneinander.
E-Ladestation an der Autobahn-Raststätte „Dresdner Tor“: Nirgendwo ist der ländliche Raum infrastrukturell so schlecht erschlossen wie im Osten. Eine Chance für die E-Mobilität, meint Michael Seidel. (picture alliance / dpa / Robert Michael)
Altkanzler Gerhard Schröder ist heute ja nicht mehr so wohl gelitten. Aber Anfang der 2000er-Jahre hatte Schröder den ostdeutschen Ländern etwas verordnet, was sich heute in Teilen schon auszahlt. Erinnern Sie sich? 2004 legte ein „Beraterkreis Ost“ unter Führung des früheren Hamburger Regierungschefs Klaus von Dohnanyi ein Papier vor, wie der aus Sicht des Beraterkreises durchweg gescheiterte Aufbau Ost doch noch gerettet werden könnte.
Kaum einer der Vorschläge, etwa der einer Sonderwirtschaftszone, fand Gehör - bis auf einen: Künftige Investitionen sollten auf sogenannte Wachstumskerne konzentriert werden, die die Länder jeweils selbst definieren sollten. Dank gezielter Subventionen sollten so Firmen, Institute und Forschungseinrichtungen, kluge Köpfe, Ingenieure, Fachkräfte halten, ansiedeln und vernetzen, um Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln.
Ein Wachstumskern hieß neudeutsch „Automotive“ und ist heute eine feste Größe in dem von Wirtschaftsminister Robert Habeck berufenen „Expertenkreis Transformation der Automobilwirtschaft“. 

Das Wehklagen der Automobilwirtschaft

Wer die Internationale Automobilausstellung IAA in München verfolgte, konnte das Wehklagen der Automobilwirtschaft nicht überhören. Gilt doch die Autoindustrie mit all ihren Zulieferern, die allein 70 Prozent der Wertschöpfung in diesem Sektor ausmachen, fast eine Million Menschen beschäftigen und mehr als vier Prozent der heimischen Wertschöpfung erbringen, als industrielles Herz der deutschen Wirtschaft. Nicht umsonst hatten deren CEOs in der Vergangenheit nahezu ungehinderten Zugang zum Kanzleramt - egal, wer unter ihnen Regierungen bildete, hieß es hinter vorgehaltener Hand.
Seit Diesel- und anderen Skandalen kühlte sich das Verhältnis zwischen Autolobby und Politik zwar merklich ab. Doch der eigentliche Einschnitt war der weltweit eingeleitete Abschied von der erdölbasierten Verbrennertechnologie zugunsten der angeblich klimaverträglicheren und nachhaltigeren Elektromobilität. Doch Elektromobilität wird auf absehbare Zeit nicht den Siegeszug antreten. Alternative, CO2-freie Treibstoffe, die E-Fuels, stehen durchaus noch im Wettbewerb.

Riesiger Heimvorteil für China

Insofern ist der Umstieg geradezu ein Konjunkturprogramm insbesondere für China, das sich lange eher devot als Plagiator westlicher Technologie und aufnahmebereiter Absatzmarkt betätigte, aber längst unverhohlen eine Expansionsstrategie seines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells verfolgt. Vom Kopierer westlicher Vorbilder zum aggressiven Wettbewerber, der einen riesigen Heimvorteil hat: Er beherrscht bei Elektroautos die gesamte Wertschöpfungskette. Von der Rohstoffgewinnung bis zum fertigen Fahrzeug.
Wer heute also über den aggressiven Wettbewerber jammert, muss sich selbst an die Nase fassen. Denn mit ihrem Transfer von deutschem Industrie-Know-how haben die deutschen Autobauer den chinesischen Zauberlehrling selbst geschaffen, den sie nun nicht mehr loswerden.

Der Osten als Innovationsmotor

Insofern hat Kanzler Olaf Scholz recht: Konkurrenz solle anspornen, nicht erschrecken, schrieb er den Automobilisten zum IAA-Auftakt in München ins Stammbuch. Doch wo sollen diese Innovationen herkommen, um sich zukunftsfest aufzustellen? Auch wenn es nicht unbedingt nahe liegt - aber vielleicht liegt ein Teil der Lösung im buchstäblich nahen Osten, also in den ostdeutschen Bundesländern.
Dort hat sich der von Schröder einst initiierte „Automotive Cluster“ recht proper entwickelt, mit Schwerpunkt auf Digitalisierung, E-Mobilität und stabile Lieferketten.
Hinzu kommt: Nirgendwo ist der ländliche Raum infrastrukturell so schlecht erschlossen wie im Osten. Und laut jüngster Mobilitätsstudie werden in den ländlichen Regionen bis zu 70 Prozent aller Wege zwangsweise mit dem Auto zurückgelegt, während in den Metropolen die Verkehrsmittel des Umweltverbundes überwiegen.
Nirgendwo ist es also existenzieller, sowohl im Hinblick auf die E-Mobilität als auch auf neue Formen öffentlichen Verkehrs einfallsreicher zu werden - von der flächendeckenden Mobilfunkversorgung mit Blick auch auf autonomes Fahren über die Ladesäulen-Infrastruktur bis hin zu CO2-neutralen Kraftstoffen.
Egal, woher die dafür geeigneten Fahrzeuge künftig kommen. Und wenn die Ostdeutschen etwas besonders gut können, dann ist es pragmatische und innovative Transformation. Statt zu jammern, sollte die Automobilwirtschaft also die Chancen der Situation erkennen. Und die liegen auch im Osten.