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Autorin Jenny Offill
Auseinandersetzungen mit sich selbst

Mit 165 Seiten ist der zweite Roman von Jenny Offill zwar relativ kurz geraten. Er konfrontiert den Leser aber auf überraschende und literarisch überzeugende Weise mit den Gedanken der Autorin. Keine der Figuren in dem Roman hat einen Namen - da bleibt jede Menge Raum für eigene Assoziationen.

Von Martin Grzimek |
    Gelbe Ahornblätter leuchten am 06.12.2014 durch das flache Licht der Wintersonne im Fischerort Greetsiel.
    Jede Menge Raujm für eigene Assoziationen liefert das neue Buch von Jenny Offill. (picture-alliance / dpa / Ingo Wagner)
    In einer der Kritiken zu Jenny Offills Roman "Amt für Mutmaßungen" heißt es, man könne ihn in zwei Stunden lesen. Auf den ersten Blick scheint das plausibel. Die 165 Seiten des schmalen Buches bestehen aus einer Sammlung von losen Notizen und Zitaten. Der Plot ist dabei recht überschaubar. Es geht, grob gesagt, um eine Ehegeschichte mit all ihren üblichen Höhen und Tiefen. Erst ist da die anfängliche Liebe, der schließlich Zusammenleben, Heirat und die Geburt einer Tochter folgen. Die recht ehrgeizige Frau versucht vergeblich, sich innerhalb der familiären Klammern selbst zu verwirklichen, muss Arbeiten annehmen, die sie nicht befriedigen, und schließlich genügt ein Seitensprung ihres Mannes, um die Ehe zu gefährden. Zwar gelingt den beiden ein Neuanfang, aber ein grundsätzlicher Zweifel an der Gemeinschaft ist geblieben.
    Die 46-jährige, in New York lebende Autorin hat mehrfach angedeutet, dass in die Texte viele autobiographische Momente eingeflossen sind. So hat Jenny Offill wie auch die Erzählerin im Roman vor fünfzehn Jahren ihr erstes Buch veröffentlicht, dem jedoch kein zweites folgte, wie sehr sie daran auch gearbeitet hat. Übrig geblieben ist stattdessen eine tagebuchartige Sammlung von Textsplittern und vermischten Exzerpten aus philosophischen und literarischen Büchern, mit denen sie sich während all dieser Jahre beschäftigte, insgesamt also eine lockere Folge von Beobachtungen und Gedanken, die nun unter dem Titel "Amt für Mutmaßungen" vorliegt. Den Ausdruck "Dept. of speculation", so das Original, hat die Erzählerin als Adressenangabe auf ihre Briefe an ihren späteren Mann geschrieben, wohl um das Ungewisse anzudeuten, von dem ihre Erlebniswelt gegenüber dem Wunsch, ein gemeinsames Leben zu planen, beherrscht wird. Vermutungen, Spekulationen, partikulare Wahrnehmungen von Mitmenschen und ihrer Umgebung sind es, die die eigentliche Handlung des Romans, seinen Charakter bestimmen. Die Erzählerin scheint hierbei einer buddhistischen Lehre zu folgen.
    "Den Buddhisten zufolge kann man der Weisheit teilhaftig werden, indem man drei Stadien durchläuft. Die erste Erkenntnis ist die Erkenntnis der Abwesenheit eines 'Ichs'. Das zweite Stadium ist die Erkenntnis der Unbeständigkeit aller Dinge. Das dritte Stadium ist die Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Alltagserfahrung."
    Keine Namen, nicht einmal der Mann
    Die "Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Alltagserfahrung" deutet schon an, dass die Erzählerin die Welt um sie herum vor allem aus ihrem Kopf heraus begreift. Was sie sich in der Realität nicht einverleiben und ihren Vorstellungen unterwerfen kann, bleibt ihr fremd. Von ihren ersten flüchtigen Männerbekanntschaften gibt es daher nicht mehr als eine etwas süffisante Kategorisierung.
    "Da war ein kanadischer Junge, der nur Hafermehl aß. Da war ein französischer Junge, der meine Zähne untersuchen wollte. Ein englischer Junge, der aus einem Druidengeschlecht stammte. Ein holländischer Junge, der Hörgeräte verkaufte."
    Keine der in dem Roman auftauchenden Figuren erhält einen Namen, nicht einmal der Mann, mit dem sie in Brooklyn zusammenziehen, den sie heiraten und mit dem sie eine kleine Tochter haben wird. Während die Erzählerin – wie auch Jenny Offill - kreatives Schreiben in einem College lehrt, arbeitet er als Tontechniker bei einer Radiostation. Dort entwickelt er "Klangbilder", denen die Erzählerin nachsinnt.
    "Einmal hast du eine Aufnahme gespielt, in der man das Aufeinanderprallen von Atomen hören konnte. Ein andermal war es Wind in Blättern."
    Die Aufzeichnungen der Erzählerin sind voll von solchen sinnlichen Eindrücken, Andeutungen und Reizwörtern, die das Lesen unterbrechen und Raum öffnen für Assoziationen. Zu Beginn der Ehe bezieht sie ihren Mann durch die direkte Ansprache im Du auch noch in ihre Zwiegespräche mit sich selbst ein. Doch dann, scheinbar unvermittelt, verschwindet dieses Du, und die Erzählerin tritt nur noch beschreibend und reflektierend auf. Die Darstellung familiärer Gewohnheiten, alltäglicher Handhabungen, die Aufmerksamkeit gegenüber dem heranwachsenden Kind bilden den Mittelpunkt ihrer Interessen. Von nun an geht es nur noch um "meine Tochter" oder eben "meinen Mann".
    "Mein Mann räumt den Tisch ab. Fleischreste kleben an den Tellern, eine durchweichte Serviette schwimmt in der Bratensoße. In Indien, heißt es, soll es Menschen geben, die von Luft leben. Jemand hat meiner Tochter einen Spielzeugkoffer geschenkt."
    Abstrakte Sinnbilder eines rettungslosen Verschwindens
    Das gemeinsame Leben engt die Erzählerin immer mehr ein. Statt an ihrem zweiten Roman zu arbeiten, nimmt sie eine gut bezahlte Auftragsarbeit als Ghostwriterin an. Für einen reichen Möchtegernastronauten soll sie eine Monographie der Raumfahrt schreiben. So kommt zum Häuslichen das Kosmische hinzu, und beides scheint die Erzählerin gleichermaßen zu bestürmen. Außerdem wird Brooklyn wie in jedem heißen Sommer von einer unerträglichen Bettwanzenplage heimgesucht, eine kaum zu ertragende Belästigung.
    "Bevor wir das Haus verlassen, müssen wir unsere Kleidung in einem speziellen Ofen sterilisieren. Alles, was wir nicht tragen, muss sofort eingepackt und versiegelt werden. ‚Wir leben wie Astronauten’, sagt mein Mann und rutscht auf seine Seite des Bettes."
    "... rutscht auf seine Seite des Bettes", - wie in vielen der Notizen muss auch diese lapidare Bemerkung bildlich genommen werden. Als die Erzählerin nach und nach bemerkt, dass ihr Mann eine Affäre hat, droht ihre Vision von einem erfüllten Leben in sich zusammenzubrechen. An dieser Stelle mitten im Buch führt Jenny Offill einen radikalen Perspektivwechsel ein: Nun verschwindet sogar das bislang von sich erzählende "Ich" hinter der gesichtslosen Maske einer bloßen Frauenfigur. Es gibt nur noch "die Frau" und "den Mann". Obwohl der Sprechduktus in den Aufzeichnungen noch immer von einer rein subjektiven Wahrnehmung bestimmt ist, sind mit einem Mal alle Beziehungswörter gelöscht. Einhergehend mit diesem Wahrnehmungsdefizit werden die Aufzeichnungen nun fahriger, oberflächlicher, brechen ab, suchen Halt in der gesicherten Welt philosophischer oder literarischer Weisheiten oder in poetischen, fast abstrakten Sinnbildern eines rettungslosen Verschwindens.
    "Früher war der Äther überall. Zum Beispiel in der Krümmung eines Arms. (Wie auch die Himmel.) Er verlangsamte das Wandern der Sterne, sagte der linken Hand, wohin die rechte sich bewegte. Dann war es damit vorbei. Wie mit der Hysterie, wie mit der Hohlwelt. Die Nachrichten kamen aus dem Radio. Nur noch nichts als Luft. Geben Sie Ihre Versuche auf."
    Die Konsequenz aus diesem gestörten Solipsismus wäre eine Art Verstummen, das Aufgeben jeglicher Gemeinschaftlichkeit, der totale Rückzug in die eigene Gedankenwelt. Vor diesem radikalen Schritt schreckt Jenny Offill allerdings zurück. Sie wählt einen versöhnlichen, etwas müde klingenden Schluss. Die Familie zieht aus der bedrohlichen Atmosphäre der Stadt aufs friedliche Land und versucht einen neuen Anfang. Jenny Offill konfrontiert uns in ihrem zweiten Roman insgesamt auf überraschende und literarisch überzeugende Weise mit der verstörenden und luziden Auseinandersetzung einer Schriftstellerin mit sich selbst. Man nehme sich also jede Menge Zeit, in dem Buch zu lesen und seinen eigenen Assoziationen zu folgen. Der Roman "Amt für Mutmaßungen" ist es allemal wert.
    Jenny Offill: "Amt für Mutmaßungen", Roman, aus dem Englischen von Melanie Walz, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 165 Seiten, 17,99 Euro.