Donnerstag, 28. März 2024

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Avi Primor: Antisemitismus geht stetig zurück

Avi Primor, Leiter des Zentrums für europäische Studien an der Universität Herzliya und ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, hat in einer breit angelegten Studie belegt, dass der Antisemitismus in Europa und Amerika stetig abgenommen hat. Jemand müsse kein Antisemit sein, wenn er die Politik Israels kritisiere. Für Israel sei es wichtig, sich mit dieser Kritik auseinanderzusetzen, betonte Primor.

Avi Primor im Gespräch mit Friedbert Meurer | 26.08.2008
    Meurer: Das Landgericht Köln verhandelt zurzeit über eine Klage Evelyn Hecht-Galinskis, der Tochter des früheren Zentralratspräsidenten. Sie will, dass der bekannte Publizist Henryk M. Broder sie nicht länger als antisemitisch bezeichnen darf. Genau das wirft Broder Frau Hecht-Galinski vor, weil sie die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit der Politik der Nazis vergleiche. Das bestreitet Frau Hecht-Galinski. Stein des Anstoßes ist aber auch eine Aussage, die sie vor zwei Jahren hier im Deutschlandfunk gemacht hat:

    O-Ton Hecht-Galinski: Der Zentralrat hat sich hier nicht als Sprachrohr der israelischen Regierung und Propagandamaschinerie zu verstehen. Das sehe ich nicht so, weil wir sind deutsche Juden und wir sind hier keine Israelis. Ich möchte nicht in diesen Topf geworfen werden.

    Meurer: Es ist nicht das erste Mal und Frau Hecht-Galinski ist nicht die erste, gegen die der streitbare Broder den Vorwurf des Antisemitismus erhebt. Ein Motiv dafür nannte Broder, als er vor gut einem Jahr den Ludwig-Börne-Preis zugesprochen bekam.

    O-Ton Broder: Toleranz, das Wort Toleranz steht auf dem Paravent, hinter dem sich Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit verstecken. Toleranz ist die preiswerte Alternative zum aufrechten Gang, der zwar gepredigt, aber nicht praktiziert wird. Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will, der muss intolerant sein. Der muss Grenzen ziehen und darauf bestehen, dass sie nicht überschritten werden.

    Meurer: Der Streit zwischen Broder und Frau Hecht-Galinski beschäftigt die Justiz und am Telefon begrüße ich Avi Primor. Er leitet das Zentrum für europäische Studien an der Universität Herzliya und war früher Israels Botschafter in Deutschland. Guten Morgen, Herr Primor!

    Primor: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Darf Henryk M. Broder Frau Hecht-Galinski als antisemitisch bezeichnen?

    Primor: Wenn es stimmt, dass Frau Galinski die Israelis mit den Nazis verglichen hat, dann finde ich das als äußerst grotesk. Ich meine, um Israelis mit Nazis zu vergleichen, muss man schon vollkommen bekloppt sein. Aber ob das mit Antisemitismus verbunden ist, glaube ich nicht. Ich glaube, dass Leute übertreiben. Sie verstehen nicht, was sie da antun. Die machen aus dem Nazismus etwas Alltägliches und damit schießen sie sich selber ins Knie. Aber mit Antisemitismus muss es nicht unbedingt verbunden sein, obwohl Antisemiten solche Argumente benutzen. Das stimmt! Aber das muss nicht Frau Galinski sein.

    Meurer: Frau Hecht-Galinski spricht zum Beispiel vom Ghetto, wenn sie die besetzten Gebiete im Westjordanland meint. Ist das schon ein unerlaubter Vergleich mit dem Warschauer Ghetto?

    Primor: Ich glaube, dass das auch grotesk ist. Ich glaube, dass das vollkommen falsch ist. Auf 5500 Quadratkilometern leben Palästinenser und bewegen sich in ihren Städten, in ihren Dörfern wie sie wollen, nicht in einem Ghetto. Das ganze Gebiet ist von Israel abgeriegelt. Das stimmt. Aber darin leben die Leute zwar unter Besatzung, aber nicht wie in einem Ghetto und kein Mensch sagt ihnen, wie sie zu leben haben. Dieser ganze Vergleich ist derartig grotesk, dass ich überhaupt keine Begriffe dazu habe.

    Aber warum man das sagt? Ich glaube, dass Leute die Tendenz haben zu übertreiben, wenn sie eine These beweisen wollen. Aber diesen schnellen Sprung auf Antisemitismus finde ich als falsch, weil wenn wir aus dem Antisemitismus so eine einfache Alltagsangelegenheit machen, dann können wir den Antisemitismus nicht mehr bekämpfen. Wenn man immer nach dem Wolf schreit und endlich kommt mal der Wolf, dann ist man nicht mehr glaubwürdig und den echten Wolf kann man dann nicht mehr bekämpfen.

    Meurer: Was ist denn für Sie antisemitisch? Wann beginnt das?

    Primor: Das ist ziemlich schwierig zu sagen. Es beginnt zunächst einmal mit der Gleichberechtigung der Juden und Gleichberechtigung, die nicht nur juristisch sein muss, sondern auch gesellschaftlich, was im 19. Jahrhundert nicht der Fall war. Das heißt die Juden haben eine juristische Gleichberechtigung bekommen, aber wurden sehr oft von der Gesellschaft ausgeschlossen. Insofern war das Antisemitismus. Aber den Antisemitismus genau zu beschreiben, das konnte ich noch nie. Ich konnte nur sagen, wer kein Antisemit ist. Das ist mir klar. Wenn jemand mit einem Juden eine schlechte Erfahrung hat und danach nichts verallgemeinert, der ist kein Antisemit. Aber natürlich kann man mit Juden schlechte Erfahrungen haben. Die Juden haben schlechte Leute genauso wie andere Völker. Infolgedessen bin ich auch kein begeisterter Freund der Philosemiten, die meinen, dass die Juden besser als andere sind. Sie sind weder besser noch schlechter; sie sind genau wie die anderen.

    Meurer: Verwendet Broder den Vorwurf des Antisemitismus, was er ja schon häufiger getan hat, auch, um zu unterbinden, dass jemand die israelische Politik gegen die Palästinenser kritisiert?

    Primor: Ich weiß nicht, wie Broder das macht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass in Israel viele Leute das machen, weil es bequem ist. Es gibt heftige Kritik in aller Welt gegen unsere Politik in den besetzten Gebieten, gegen die Siedlungspolitik, gegen die Behandlung der Palästinenser. Ich glaube, unsere Pflicht wäre es, diese Kritik zu widerlegen, die Thesen der Kritik zu widerlegen, uns ehrlich mit dieser Kritik auseinanderzusetzen. Aber wenn man sich das Leben leicht machen will, dann sagt man, diese Kritik ist keine sachliche Kritik, das stammt aus Rassismus, das ist eine emotionale Kritik, es ist Antisemitismus und infolgedessen müssen wir uns mit dieser Kritik gar nicht auseinandersetzen. Damit tun wir uns selber ein Unrecht.

    Meurer: Wie kann ein Jude selbst denn antisemitisch sein? Hier in Deutschland werden viele sagen, das ginge gar nicht.

    Primor: Ich weiß nicht, wie das möglich ist. Es gibt Leute, die von Selbsthass sprechen. Wenn sich ein Jude tatsächlich so fühlt, dann soll er eben übertreten, dann soll er woanders hingehen, dann soll er das Judentum verlassen. Aber ich sage das gleiche auch über Juden in Deutschland, die sagen, dass man in Deutschland nicht leben kann, dass Deutschland voll mit Antisemiten ist und voller Vorurteile gegen Juden und so weiter. Dann sage ich, ihr lebt doch nicht mehr in Nazi-Deutschland. Ihr könnt ja auswandern und ihr habt das eigene Land, den Judenstaat. Warum benutzt ihr es nicht. - Also alle übertreiben ein bisschen, wenn sie emotional sind.

    Meurer: Herr Primor, Sie haben gerade jetzt einen Aufsatz publiziert, wonach der Antisemitismus in Europa und in Deutschland nicht zugenommen habe, sondern im Gegenteil abgenommen. Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?

    Primor: Das ist ein Ergebnis aus einer sehr langen Studie. Ich habe das mit meinen Studenten gemacht. Wir haben alle Meinungsumfragen in Betracht gezogen, alle akademischen Analysen und vor allem die Meinungsumfragen und Analysen der jüdischen-amerikanischen Gesellschaften, die in Europa geforscht haben, damit kein Verdacht bestehen bleibt, dass die Forscher vielleicht selber Antisemiten sind. Das zeigt, dass der Antisemitismus regelmäßig seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpft. Er schrumpft überall, in Deutschland genauso wie anderswo, genauso wie in Amerika. In Amerika gibt es allerdings genauso viel Antisemitismus wie in Deutschland oder in Europa. Das bedeutet nicht, dass es keinen Antisemitismus gibt. Natürlich gibt es Antisemitismus. Es gibt den religiösen Antisemitismus, es gibt den rassistischen Antisemitismus, es gibt Neonazis und Nazis. Das gibt es alles. Aber das wächst nicht. Im Gegenteil: Es geht ständig zurück.

    Warum meinen jetzt die Leute sowohl bei uns als auch in Europa selber, dass der Antisemitismus wächst? - Weil sie eben dem gegenüber sehr empfindlich geworden sind. Erstens berichten die Medien über jeden Fall des Antisemitismus wie nie zuvor. Infolgedessen ist man sich schon dessen sehr bewusst geworden. Und außerdem: Weil die Leute eben nicht Antisemiten sind, sind sie gegenüber Antisemitismus empfindlich geworden und wollen es immer wahrnehmen. Je eher also der Antisemitismus schrumpft, desto eher meinen die Leute, dass er wächst.

    Wenn Sie gestatten, noch einen Satz. Dazu muss man auch sagen, dass es einen neuen Antisemitismus gibt: der muslimische Antisemitismus, den die Moslems aus Nordafrika oder anderswo mit nach Europa gebracht haben. Der hat einen Nährboden: den Konflikt im Nahen Osten. Das ist natürlich ein Nährboden für den muslimischen Antisemitismus in Europa. Das spüren die Juden auch.

    Meurer: Auf Deutschland betrachtet würden Sie sagen, Antisemitismus gibt es sozusagen nur noch in radikalen Kreisen, aber im Main Stream der Gesellschaft hat er deutlich nachgelassen?

    Primor: Das stimmt! In radikalen Kreisen, wie Sie sagen, oder in muslimischen Kreisen. Ja und es gibt Kritik gegen die israelische Politik, die ich manches Mal als Deckung des Antisemitismus betrachte, meistens aber sachlich, ehrlich, wenn auch sehr oft falsch.

    Meurer: Was würden Sie sagen, wenn Ihnen beispielsweise der Zentralrat Verharmlosung vorwirft, wenn doch zum Beispiel jüdische Schulen geschützt werden müssen und es immer mehr Übergriffe gibt?

    Primor: Das ist ja ein echtes Problem. Wenn Radikale jüdische Schulen angreifen, wenn Moslems jüdische Schulen, wie es in Frankreich und in Belgien der Fall war, angreifen, ist das ein schreckliches Problem. Wenn Menschen in Angst leben müssen, dann müssen sie sich schützen und natürlich verlangen sie dann mehr Schutz. Das ist alles gerechtfertigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die meisten Leute, die keinen Antisemitismus betreiben, mit Antisemitismus beschuldigt werden müssen.

    Primor: Ist das Leben für Juden in Deutschland sicherer geworden oder unsicherer?

    Primor: Wenn Sie das Leben in Deutschland mit der Vergangenheit vergleichen, dann ist es selbstverständlich sicherer geworden. Heute gibt es keine Grenzen mehr für Juden. Es gab selbst nach der Gewährleistung der Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahrhundert immer noch Schranken, offensichtliche Schranken oder dunkle Schranken, die den Juden den Zugang zu Studien, zu verschiedenen Gremien, zu verschiedenen Berufen gesperrt haben. Das alles existiert nicht mehr. Ein Jude hat heute alle Möglichkeiten im Leben, genau wie ein Nicht-Jude. Er kann jeden Beruf ausüben. Er kann eine Nicht-Jüdin heiraten. Er kann in jede Gesellschaft rein kommen. Das ist mit der Vergangenheit heute überhaupt nicht vergleichbar - weder in Deutschland noch anderswo in Europa oder in Amerika.

    Meurer: Das war Avi Primor, Leiter des Zentrums für europäische Studien an der Universität Herzliya und früher israelischer Botschafter in Deutschland. Herr Primor, schönen Dank nach Israel und auf Wiederhören!

    Primor: Gerne! Tschüß!