Avnery: Guten Morgen.
Capellan: Herr Avnery, gibt es für Sie auch Grund für Optimismus, wie wir das von Salmon Shoval gestern gehört haben, oder muss man gerade jetzt eine neue Welle, eine weitaus heftigere Welle der Gewalt der Palästinenser fürchten?
Avnery: Leider ist das, was ich soeben von Herrn Shoval gehört habe, totaler Unsinn. Dieser Anschlag im Gaza war kein kollateraler Schaden. Wer eine Ein-Tonnen-Bombe auf ein Wohnhaus mitten in einem dicht zusammengedrängten Viertel wirft, der weiß doch, dass dabei nicht einer, sondern Dutzende umkommen. Und das ist natürlich auch passiert, und wer das getan hat, der hat ganz sicher damit gerechnet, dass Racheanschläge kommen werden und war daran interessiert, dass wir nicht zu einem Frieden und auch nicht zu einem Waffenstillstand kommen. Es ist heute schon allgemein bekannt - auch bei uns -, dass am Tage vorher die Tanzim-Bewegung, die größte palästinensische Bewegung beschlossen hat, einen einseitigen Waffenstillstand zu beginnen. Dieser Anschlag hat scheinbar darauf gezielt, das zu verhindern, denn Herr Scharon will eine militärische Entscheidung, und er hat diese Wahnvorstellung, dass man den Freiheitskampf eines Volkes durch eine militärische Entscheidung besiegen kann.
Capellan: Das heißt also, Herr Avnery, Sie haben keinen Zweifel daran, dass die palästinensische Seite, dass die Hamas wirklich zu einem Stop der Selbstmordanschläge bereit gewesen sein könnte?
Avnery: Ganz im Gegenteil. Wenn vor ein paar Tagen auch bei Hamas die Neigung bestand, vielleicht zusammen mit dem Tanzim zu einer Art Waffenstillstand zu kommen, jedenfalls die Anschläge in Israel selbst einzustellen, dann ist das wieder verflogen, denn es ist klar, dass heute die ganze palästinensische Öffentlichkeit nach Rache drängt und dass die Hamas-Bewegung alles tun wird, was sie kann, um diese Rache zu bewerkstelligen. Es kommt zu einer neuen Eskalation der Gewalt. Sie werden uns umbringen, wir werden sie umbringen. Wir werden ihr Blut vergießen, sie werden unser Blut vergießen, und das kann endlos so weitergehen, solange wir keine Regierung haben, die bereit ist, einen Kompromissfrieden zu schließen. Dazu ist Herr Scharon natürlich nicht bereit.
Capellan: Das würde also bedeuten, wenn ich Sie richtig interpretiere, dass Scharon Ihrer Ansicht nach ganz bewusst alle Friedensbemühungen torpediert. Warum sollte er das tun?
Avnery: Das ist doch ganz klar: Weil der Frieden, der jetzt möglich ist - und der Frieden ist möglich - ein Kompromissfrieden sein muss, der darauf beruhen wird, dass Israel alle oder beinahe alle besetzten Gebiete zurückgibt und dass Hunderte von Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgelöst werden müssen. Das will Herr Scharon nicht. Herr Scharon will, dass alle Siedlungen bestehen bleiben - er ist nicht bereit, eine einzige Siedlung aufzulösen -, und er ist nicht bereit, den größten Teil des Westjordanlandes zurückzugeben. Darum ist dieser Frieden, der möglich ist, für Scharon unmöglich.
Capellan: Sie sprechen die Siedlungen an: Israelische Siedlungen auf Palästinensergebiet gelten gemeinhin als das größte Hindernis für eine Friedenslösung. Da wurde nun eine Umfrage bekannt, wonach zwei Drittel der in diesen Siedlungen lebenden Israelis bereit wäre, gegen Entschädigung ins israelische Kernland umzuziehen. Sind also die Siedler für Scharon nur ein Vorwand für seine harte, für seine unnachgiebige Haltung?
Avnery: Es ist beides, Vorwand und auch Grund, denn die Siedler sind ja zum größten Teil von Scharon dorthin geschickt worden. Seit 30 Jahren ist die Haupttätigkeit von Scharon, die Siedler dort Siedlungen aufbauen zu lassen. Der Zweck der Siedlungen ist, genau das zu verhindern, was er nicht will, nämlich die Rückgabe des Westjordanlandes. Er wollte die Rückgabe des Westjordanlandes und die Entstehung eines Staates Palästina unmöglich machen. Das war der Zweck der ganzen Sache, und darum denkt er auch gar nicht daran, auch nur eine einzige Siedlung aufzulösen. Aber das Ziel geht natürlich weit über die Siedlungen hinaus. Das Ziel ist, die besetzten Gebiete am Ende zu annektieren und zu einem Teil Israels zu machen und so den Staat Israel vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss auszudehnen. Und darum geht es. Im Grunde genommen ist es eine historische, ideologische Entscheidung darüber, was wir wollen, was für einen Staat Israel wir wollen: einen kleineren Staat, der in Frieden mit seinen Nachbarn lebt oder einen größeren Staat, der in einen ewigen Krieg verwickelt ist, der sicher für viele Generationen andauern wird. Das ist im Grunde die wirkliche Entscheidung, an der man all das, was täglich passiert, messen muss.
Capellan: Herr Avnery, die israelische Seite und ihre Regierung, aber auch viele Ihrer Landsleute, argumentieren ja immer wieder mit dem Recht auf Selbstverteidigung, wenn es zu solchen schrecklichen Selbstmordanschlägen der Palästinenser kommt. Warum lassen Sie das als Reaktion darauf nicht gelten?
Avnery: In jedem Krieg glaubt jede Seite, sie verteidigt sich, und die andere Seite ist der Angreifer, und sie üben nur Vergeltung für das, was die andere Seite tut. Die Palästinenser sind genauso davon überzeugt wie wir. Das ist ganz natürlich, muss ich sagen. Der Grund sind weder die Anschläge noch die Vergeltungen, sondern der Grund ist die andauernde Besatzung der besetzten Gebiete. Israel besetzt Palästina und nicht umgekehrt. Israelische Soldaten sind in allen palästinensischen Städten. Wir haben keine palästinensischen Soldaten in israelischen Städten. Die Palästinenser besetzten uns nicht, sondern wir sie, und das ist das Grundübel, aus dem alles entspringt. Das Ziel muss sein, dieser Besetzung eine Ende zu setzen.
Capellan: Das heißt aber, Fazit wäre für Sie, dass es mit Scharon keinen Ausweg aus der Spirale der Gewalt gibt?
Avnery: Nein. Das war meinen Freunden und mir vom ersten Augenblick klar. Wir haben am Tag, an dem Scharon gewählt worden ist, eine große Annonce in den Zeitungen veröffentlicht mit dem Text: Heute beginnt der Countdown zum Unglück. Das war uns klar, denn wir kennen doch Herrn Scharon seit 40 Jahren, und er hat eine klare, ideologische Einstellung, die sich in allen seinen Taten ausdrückt - nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er tut.
Capellan: Uri Avnery war das, israelischer Friedensaktivist, Träger des alternativen Friedensnobelpreises. Herr Avnery, haben Sie vielen Dank und auf Wiederhören.
Link: Interview als RealAudio
Capellan: Herr Avnery, gibt es für Sie auch Grund für Optimismus, wie wir das von Salmon Shoval gestern gehört haben, oder muss man gerade jetzt eine neue Welle, eine weitaus heftigere Welle der Gewalt der Palästinenser fürchten?
Avnery: Leider ist das, was ich soeben von Herrn Shoval gehört habe, totaler Unsinn. Dieser Anschlag im Gaza war kein kollateraler Schaden. Wer eine Ein-Tonnen-Bombe auf ein Wohnhaus mitten in einem dicht zusammengedrängten Viertel wirft, der weiß doch, dass dabei nicht einer, sondern Dutzende umkommen. Und das ist natürlich auch passiert, und wer das getan hat, der hat ganz sicher damit gerechnet, dass Racheanschläge kommen werden und war daran interessiert, dass wir nicht zu einem Frieden und auch nicht zu einem Waffenstillstand kommen. Es ist heute schon allgemein bekannt - auch bei uns -, dass am Tage vorher die Tanzim-Bewegung, die größte palästinensische Bewegung beschlossen hat, einen einseitigen Waffenstillstand zu beginnen. Dieser Anschlag hat scheinbar darauf gezielt, das zu verhindern, denn Herr Scharon will eine militärische Entscheidung, und er hat diese Wahnvorstellung, dass man den Freiheitskampf eines Volkes durch eine militärische Entscheidung besiegen kann.
Capellan: Das heißt also, Herr Avnery, Sie haben keinen Zweifel daran, dass die palästinensische Seite, dass die Hamas wirklich zu einem Stop der Selbstmordanschläge bereit gewesen sein könnte?
Avnery: Ganz im Gegenteil. Wenn vor ein paar Tagen auch bei Hamas die Neigung bestand, vielleicht zusammen mit dem Tanzim zu einer Art Waffenstillstand zu kommen, jedenfalls die Anschläge in Israel selbst einzustellen, dann ist das wieder verflogen, denn es ist klar, dass heute die ganze palästinensische Öffentlichkeit nach Rache drängt und dass die Hamas-Bewegung alles tun wird, was sie kann, um diese Rache zu bewerkstelligen. Es kommt zu einer neuen Eskalation der Gewalt. Sie werden uns umbringen, wir werden sie umbringen. Wir werden ihr Blut vergießen, sie werden unser Blut vergießen, und das kann endlos so weitergehen, solange wir keine Regierung haben, die bereit ist, einen Kompromissfrieden zu schließen. Dazu ist Herr Scharon natürlich nicht bereit.
Capellan: Das würde also bedeuten, wenn ich Sie richtig interpretiere, dass Scharon Ihrer Ansicht nach ganz bewusst alle Friedensbemühungen torpediert. Warum sollte er das tun?
Avnery: Das ist doch ganz klar: Weil der Frieden, der jetzt möglich ist - und der Frieden ist möglich - ein Kompromissfrieden sein muss, der darauf beruhen wird, dass Israel alle oder beinahe alle besetzten Gebiete zurückgibt und dass Hunderte von Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgelöst werden müssen. Das will Herr Scharon nicht. Herr Scharon will, dass alle Siedlungen bestehen bleiben - er ist nicht bereit, eine einzige Siedlung aufzulösen -, und er ist nicht bereit, den größten Teil des Westjordanlandes zurückzugeben. Darum ist dieser Frieden, der möglich ist, für Scharon unmöglich.
Capellan: Sie sprechen die Siedlungen an: Israelische Siedlungen auf Palästinensergebiet gelten gemeinhin als das größte Hindernis für eine Friedenslösung. Da wurde nun eine Umfrage bekannt, wonach zwei Drittel der in diesen Siedlungen lebenden Israelis bereit wäre, gegen Entschädigung ins israelische Kernland umzuziehen. Sind also die Siedler für Scharon nur ein Vorwand für seine harte, für seine unnachgiebige Haltung?
Avnery: Es ist beides, Vorwand und auch Grund, denn die Siedler sind ja zum größten Teil von Scharon dorthin geschickt worden. Seit 30 Jahren ist die Haupttätigkeit von Scharon, die Siedler dort Siedlungen aufbauen zu lassen. Der Zweck der Siedlungen ist, genau das zu verhindern, was er nicht will, nämlich die Rückgabe des Westjordanlandes. Er wollte die Rückgabe des Westjordanlandes und die Entstehung eines Staates Palästina unmöglich machen. Das war der Zweck der ganzen Sache, und darum denkt er auch gar nicht daran, auch nur eine einzige Siedlung aufzulösen. Aber das Ziel geht natürlich weit über die Siedlungen hinaus. Das Ziel ist, die besetzten Gebiete am Ende zu annektieren und zu einem Teil Israels zu machen und so den Staat Israel vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss auszudehnen. Und darum geht es. Im Grunde genommen ist es eine historische, ideologische Entscheidung darüber, was wir wollen, was für einen Staat Israel wir wollen: einen kleineren Staat, der in Frieden mit seinen Nachbarn lebt oder einen größeren Staat, der in einen ewigen Krieg verwickelt ist, der sicher für viele Generationen andauern wird. Das ist im Grunde die wirkliche Entscheidung, an der man all das, was täglich passiert, messen muss.
Capellan: Herr Avnery, die israelische Seite und ihre Regierung, aber auch viele Ihrer Landsleute, argumentieren ja immer wieder mit dem Recht auf Selbstverteidigung, wenn es zu solchen schrecklichen Selbstmordanschlägen der Palästinenser kommt. Warum lassen Sie das als Reaktion darauf nicht gelten?
Avnery: In jedem Krieg glaubt jede Seite, sie verteidigt sich, und die andere Seite ist der Angreifer, und sie üben nur Vergeltung für das, was die andere Seite tut. Die Palästinenser sind genauso davon überzeugt wie wir. Das ist ganz natürlich, muss ich sagen. Der Grund sind weder die Anschläge noch die Vergeltungen, sondern der Grund ist die andauernde Besatzung der besetzten Gebiete. Israel besetzt Palästina und nicht umgekehrt. Israelische Soldaten sind in allen palästinensischen Städten. Wir haben keine palästinensischen Soldaten in israelischen Städten. Die Palästinenser besetzten uns nicht, sondern wir sie, und das ist das Grundübel, aus dem alles entspringt. Das Ziel muss sein, dieser Besetzung eine Ende zu setzen.
Capellan: Das heißt aber, Fazit wäre für Sie, dass es mit Scharon keinen Ausweg aus der Spirale der Gewalt gibt?
Avnery: Nein. Das war meinen Freunden und mir vom ersten Augenblick klar. Wir haben am Tag, an dem Scharon gewählt worden ist, eine große Annonce in den Zeitungen veröffentlicht mit dem Text: Heute beginnt der Countdown zum Unglück. Das war uns klar, denn wir kennen doch Herrn Scharon seit 40 Jahren, und er hat eine klare, ideologische Einstellung, die sich in allen seinen Taten ausdrückt - nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er tut.
Capellan: Uri Avnery war das, israelischer Friedensaktivist, Träger des alternativen Friedensnobelpreises. Herr Avnery, haben Sie vielen Dank und auf Wiederhören.
Link: Interview als RealAudio