Baar: Ich glaube schon. Also, wir haben ja eine kritische Situation erlebt in Atlanta, und ich denke eigentlich, dass das jetzt eine Chance ist, den olympischen Segen wieder gerade zu hängen. Wie gesagt: Atlanta war nicht so wahnsinnig glücklich. Wir haben aber jetzt in der Vergangenheit drei Spiele gehabt, die völlig unterschiedlich waren - in Seoul, in Barcelona, in Atlanta, auf unterschiedlichen Kontinenten mit unterschiedlichen Mentalitäten der Menschen. Und Australien ist wieder etwas ganz Neues, und ich gehe davon aus – und es zeigt sich, wie ich weiß, bisher –, dass es sehr schöne Spiele werden.
DLF: Die Sydney-Spiele sind die Millenium-Spiele, die ersten des neuen Jahrhunderts also. Ist da noch viel geblieben von dem, was einst etwas pathetisch das ‚Treffen der Jugend der Welt‘ genannt wurde?
Baar: Ich würde schon sagen: Ja. Also, ich habe das immer als solches empfunden. Auch wenn das eine Riesen-Mammut-Veranstaltung ist, ist es trotzdem eine unvergleichliche Aktion für die Sportler, denn die Sportler sind ja von dem Trubel rundherum doch relativ abgeschottet. Und von der Seite – und ich sehe mich ja in erster Linie noch als Athletenvertreter – kann ich das eigentlich schon behaupten, dass das Spiele der Jugend sind.
DLF: 10.600 Athleten in Sydney – das ist eine neue Rekordzahl. Sind das nicht zu viele Sportler?
Baar: Ja, natürlich sind das sehr, sehr viele, das ist gar keine Frage. Aber es hat sich ja gezeigt, dass das funktionieren kann. Und letztendlich ist es ja gerade dieser Reiz dieser Spiele, dass eben sehr viele Sportler aus allen Nationen und in vielen verschiedenen Sportarten mit ganz vielen Facetten auch an Leistungsfähigkeiten auftreten können. Das macht letztendlich die Olympischen Spiele aus, und deswegen kann man da auch nicht großartig reduzieren.
DLF: Aber als Samaranch Präsident wurde – 1980 –, gab es 21 olympische Sportarten mit 203 Wettbewerben. Jetzt im Jahr 2000 sind es 28 Sportarten mit 300 Wettbewerben. Wo soll das noch hinführen?
Baar: Ja, es wird nicht weiterführen, das wissen wir ja. Die Anzahl der Teilnehmer ist festgelegt auf eine Größenordnung von 10.000. Jetzt kann man nur noch an Sportarten reduzieren und andere Sportarten dazuholen. Wenn man aber eben als Basis die Vielfalt der Spiele sieht, dann gilt das erst einmal als solches. Ich sehe den Prozess des Wachsens erst einmal gestoppt.
DLF: Herr Baar, Sie waren dreimal Olympiateilnehmer – 1988, 92 und 96. Als Ruderer haben Sie mit dem Achter Bronze und Silber gewonnen. Olympia hat sich zu Kommerzspielen entwickelt, die Spiele scheinen für viele - für Zuschauer, für Funktionäre, für die Medien auch, für die Wirtschaft - da zu sein, aber am allerwenigsten für die Athleten. Oder täuscht der Eindruck?
Baar: Das täuscht ein bisschen. Ich meine, ich sehe meine Aufgabe als Mitglied der IOC-Athletenkommission eben vor allen Dingen darin, die Rechte der Athleten in den Vordergrund zu stellen, das heißt, immer da aufzupassen, wenn die individuellen Recht beschnitten werden. Aber wie ich schon gesagt habe: Die Sportler sind ja erst einmal ziemlich abgeschottet. Sie leben ja im Olympischen Dorf erst einmal für sich und können zu den Wettkämpfen reisen und sind da auch relativ abgetrennt von der Öffentlichkeit. Es sind eigentlich zwei kleine Welten, wenn man da ist. Und ich denke mal, für die Sportler ist es nach wie vor eine unvergleichliche Veranstaltung.
DLF: Die Spiele sollen ja für die Athleten da sein. Aber geht der Athlet nicht in dieser Masse unter?
Baar: Weiß ich nicht. Er lebt ja von der Masse auch. Es ist schon richtig: Es ist eine Mammut-Veranstaltung, aber letztendlich ist es natürlich auch ein Beweis für den Athleten - wenn die Öffentlichkeit sich für ihn interessiert -, dass seine Leistung anerkannt wird. Also letztendlich lebt der Sportler davon, dass ein großes Interesse da ist. Er muss eben nur aufpassen, dass er da nicht überrannt wird. Das ist überhaupt keine Frage.
DLF: Die Sydney-Spiele, Herr Baar, sind die ersten nach dem Olympia-Bestechungsskandal, der das IOC ja in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt hat. Die Folgen dieser Vertrauenskrise – sind die noch spürbar?
Baar: Die sind auf jeden Fall spürbar. Ich denke, es besteht eine große Angst davor, wie die Spiele jetzt in Sydney ablaufen werden. Denn wir standen sozusagen am Scheideweg im vergangenen Jahr; das war ganz kritisch. Wir hatten zwei große Problemfelder, und die olympische Bewegung als solche war in Frage gestellt. Deswegen ist jetzt das IOC oder die olympische Bewegung in der Pflicht, zu beweisen, was sie können. Und deswegen ist eben der Druck auf Sydney auch so groß.
DLF: Warum ist es aus Ihrer Sicht eigentlich zu diesem Skandal - zu diesem Korruptionsskandal - gekommen? Was sind die Ursachen?
Baar: Nun ja, wir haben ja eigentlich zwei Problemfelder im vergangenen Jahr gehabt. Das eine war das Thema ‚Doping‘, und das andere war das Thema ‚Bestechungsvorwürfe‘ im Zusammenhang mit Salt Lake City. Wie ist es dazu gekommen? Das IOC ist sehr stark gewachsen – aus dem Nichts sozusagen in den vergangenen zwei Jahrzehnten in dieses Mammutprogramm mit sehr viel Geld. Die olympische Bewegung stand eigentlich ja schon kurz vor dem ‚Aus‘ – 1984 bei den Spielen. Ich übertreibe ein bisschen, aber es war schon nicht vergleichbar mit heute. Und dann ist die Organisation so gewachsen, und die Organisation als solche ist einfach nicht in der Lage, dem Herr zu werden. Das haben wir gesehen. Da gibt es die IOC-Vollversammlung und da gibt es die ganzen Hauptamtlichen, die die Arbeit letztendlich machen müssen. Und das als solches passt einfach nicht. Da muss einfach mehr Verantwortung für die IOC-Mitglieder rein. Das ist eben, worauf ich immer großen Wert lege, dass irgend jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Und die ganze Organisation muss durchschaubarer sein, also muss durchsichtiger werden. Und erst dann – denke ich mal – ist die Organisation auch in der Lage, dieses Programm überhaupt durchziehen zu können.
DLF: Kann man sagen, dass die Verantwortlichen im IOC in der Vergangenheit gar nicht interessiert waren, Transparenz in das hineinzubringen, was sie getan haben?
Baar: Das kann man schon so sagen. Da ist immer die eine oder andere Behinderung gewesen. Also, an Informationen, an wirkliche Internas zu kommen, ist nicht unbedingt ganz einfach. Von daher gebe ich Ihnen da recht. Es ist so ein Besitzstandsdenken: Ich halte das, was ich habe und gebe kein Stück ab. Aber es hat sich eben gezeigt, dass das nicht funktionieren kann und dass das eben die Ursache für die Konflikte ist. Und was wir jetzt gemacht haben, diesen Reformprozess, den wir angeschoben haben – das ist ja auch nur der erste Schritt und wirklich nur ein kleines Fenster, das wir da aufgemacht haben. Es muss noch sehr, sehr viel mehr geschehen.
DLF: Was?
Baar: Letztendlich wird es darauf hinauslaufen, dass die Generation der IOC-Mitglieder – ich sage mal – sich langsam austauscht. Das heißt, dass wir neue Köpfe bekommen, die eben Rechtfertigungen abgeben müssen, was sie da tun. Das wird wahrscheinlich nur über einen Austausch gehen. Das klingt ein bisschen hart, aber letztendlich ist das so. Und von da aus muss einfach der Druck auf alle anderen Organisationen im IOC kommen, und damit meine ich vor allen Dingen die Hauptamtlichen., denn die halten die Macht letztendlich noch völlig ungerechterweise in den Händen. Und die werden sie freiwillig nicht abgeben. Also die werden sie nur abgeben, wenn wir eine starke Machtposition auf der anderen Seite bekommen.
DLF: Gehört denn, Herr Baar, zu den Ursachen des Olympia-Bestechungsskandals auch, dass die Anhänger der rein olympischen Lehre im IOC offenkundig in der Minderzahl sind im Vergleich zu den ‚Geschäftemachern‘?
Baar: Das mag vielleicht sein. Aber ich meine, man darf das Geschäftemachen als solches auch nicht verteufeln. Unsere ganze Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, Geschäfte zu machen. Auch der Sport kann sich da dem nicht entziehen. Letztendlich leben wir davon als Sportler, dass es Werbung gibt. Ohne diese Geschichte würde es die olympische Bewegung wahrscheinlich nicht mehr geben. Also, man darf es grundsätzlich nicht verteufeln. Aber es muss eine gewisse Ausgewogenheit halt da sein, und die klassischen olympischen Ideale müssen halt weiter in den Vordergrund geschoben werden. Aber das hängt auch – wie bei den Mitgliedern – insbesondere mit den Köpfen zusammen, die die Ideale vertreten.
DLF: Kann die olympische Vertrauenskrise spätestens dann bewältigt werden, wenn der IOC-Verantwortliche der letzten 20 Jahre, Präsident Samaranch, im Juni des Jahres 2001 – mit dann 81 Jahren – sich auf das olympische Altenteil zurückziehen wird?
Baar: Ja, das wird schon ganz entscheidend werden. Also, die Nachfolge des Präsidenten - das wird natürlich richtungsweisend sein. Und wenn ich mir überlege, welche Kandidaten dafür in Frage kommen, dann sind das schon Extreme. Also, das kann entweder in die eine Richtung oder in die andere Richtung laufen. Von daher sehe ich dem mit sehr viel Skepsis und sehr viel Spannung entgegen, was da auf uns zukommen wird. Letztendlich muss man aber sehen, dass durch die Reform, die wir durchgezogen haben, die Exekutive etwas stärker geworden ist und der Präsident etwas schwächer. Trotzdem ist der Präsident immer noch der Präsident, und er wird letztendlich die Gesamtpolitik vorgeben.
DLF: Hat ein Deutscher eine Chance, IOC-Präsident zu werden? Unter den Kandidaten wird immer wieder auch mal Thomas Bach genannt, der ja in der Exekutive ist und für den Posten eines IOC-Vizepräsidenten kandidiert.
Baar: Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt, aber ich denke schon, dass er irgendwann die Chance hat auf dieses Amt. Letztendlich ist das aber eine Diskussion, die jetzt noch nicht so öffentlich geführt wird. Wir haben jetzt eine Wahl für die Exekutive und für die Vizepräsidenten, und die ganze Kür – sage ich mal – in Richtung Präsidentschaft werden wir erst nach den Spielen von Sydney erleben. Von daher werden wir das sehen.
DLF: Bei einer Würdigung des 80. Geburtstages von IOC-Präsident Samaranch in diesem Jahr haben Sie, Herr Baar, Samaranch mit Helmut Kohl verglichen – mit dem Zitat ‚bei einer so langen Amtszeit läuft automatisch einiges aus dem Ruder‘.
Baar: Das kann man in verschiedenen Bereichen sehen. Das kann man auf der politischen Ebene so sehen – bei Helmut Kohl war das sicherlich, das kann man glaube ich ohne Umschweife so sagen, eines der großen Probleme. Und das kann man auch im sportlichen Bereich sehen, wenn ein Bundestrainer – ich sehe das am Beispiel des Deutschen Ruderverbandes gerade – sehr lange eine Mannschaft betreut, dann kann das irgendwann nicht mehr funktionieren, dann kommt nichts Neues mehr, keine neuen Impulse. Und genau so ist das auch mit einer Präsidentschaft in einer solch wichtigen Organisation wie dem IOC. Ich will ihm gar nicht mal unbedingt jetzt absprechen, dass er da nicht engagiert dabei ist und auch einiges bewegt hat. Aber es ist einfach zu lang. Die Zeichen wurden aber auch erkannt im IOC, und die Präsidentschaft wurde auch – sage ich mal – begrenzt.
DLF: Samaranch – die Meinungen über ihn sind ja sehr gespalten. Wie sehen Sie es – ein Mann, der das IOC finanziell reich, aber arm an Idealen gemacht hat?
Baar: Die Frage ist durchaus berechtigt. Ich meine, letztendlich haben wir ja im Moment die Situation, dass wir auf der einen Seite die etwas alten Ideale des IOC haben, auf der anderen Seite diesen ganzen Kommerz. Und Samaranch hat da sicherlich vieles zu verantworten. Und die Verantwortung ist ja zuerst einmal wertungsfrei. Erst einmal muss man sehen: Bewertet man das als gut oder als nicht gut. Ich denke mal, wir hätten die olympische Bewegung nicht an der Stelle, wo wir sie jetzt haben – ohne die ganze Kommerzialisierung. Von daher muss man das erst einmal als solches ihm also anrechnen. Und wie gesagt: Der Sportler lebt auch davon. Es kommt eben auf die gewisse Ausgewogenheit an. Man muss auch schon als Sportler mit der Zeit gehen, auch in einer klassischen Organisation wie dem IOC. Man kann ja nicht auf der einen Seite dem IOC eine zu konservative Haltung einräumen und dann auf der anderen Seite, wenn man mit der Zeit geht - und Kommerzialisierung ist nun mal ein Zeitthema -, dann ihm das wieder vorwerfen. Nein, wie gesagt: Die Ausgewogenheit ist da entscheidend, und dementsprechend auch die Verantwortung des IOC-Präsidenten. Insgesamt mit seiner ganzen Verantwortung – historisch gesehen auch – ist das schon ein durchaus zweifelhaftes Thema. Aber sein großes Interesse ist es nun mal, am Ende seiner Amtszeit mit einem positiven Licht abzugehen.
DLF: Thema ‚Doping‘. Auch, wenn erstmals Dopingkontrollen sich auch auf Erythropoietin, auf die Droge der Dauerleister – auf EPO – erstrecken: Angesichts der Tatsache, dass ja Wachstumshormon nicht untersucht wird und andere neue nicht auffindbare Substanzen im Umlauf sein sollen, hat ja die Samaranch-Prognose, Sydney seien die ersten wirklich sauberen Spiele, bei Wissenschaftlern nur für Heiterkeit gesorgt.
Baar: Ja, das halte ich auch für völlig unrealistisch. Wir sind noch weit davon entfernt und wir werden es vielleicht nie erreichen, wirklich einen echt sauberen Sport zu reiten. Aber wenn wir von ‚nicht sauberem‘ Sport sprechen, dann sprechen wir von einem ganz kleinen Anteil von Sportlern, die das wirklich machen. Das muss man mal hervorheben. Man muss das Image der Sportler, die das eben nicht tun, schon schützen. Und die Mehrzahl der Sportler ist eben mit Doping überhaupt nicht in Kontakt. Es gibt einige wenige, die das machen. Wir werden auch in Sydney einige Fälle erleben, davon kann man ausgehen. Rein statistisch gesehen – und ich bin nun mal irgendwie Ingenieur – glaube ich daran, dass wir was erleben werden. Es kommt eben darauf an, dass man in aller Offenheit und mit aller Härte dann damit umgeht. Dass es Betrug gibt, das ist in jedem Gesellschaftsbereich so. Da ist auch der Sport nicht von frei. Nur – es kommt auf den Umgang damit an. Und da bin ich mal gespannt.
DLF: Aber der überraschende Rückzug von einer Reihe chinesischer Sportler, die bereits nominiert waren - ganz offenkundig wegen der EPO-Problematik -, auch das Auffinden von Wachstumshormonen im Vorfeld bei der Einreise hat ja gezeigt, dass offenbar etwas in Gang gekommen ist.
Baar: Ja, es ist die Frage, was dabei in Gang gekommen ist. Ich habe auch schon gedacht: Da hat man jetzt ein paar ‚Pappkameraden‘ an die Wand gestellt, um dann den Anschein einer sauberen Mannschaft zu erzeugen. Ich meine, dass es gewisse Delegationen gibt im internationalen Sportgeschäft, wo die Sportwelt davon ausgeht, dass da gedopt wird, das ins nun mal so; das ist ein unausgesprochenes Geheimnis. Das wissen alle, dass da was passiert. Nur: Man kann es nicht immer beweisen. Deswegen kann man den individuellen Sportlern auch nicht unbedingt etwas beweisen. Eine solche Aktion, wie jetzt, würde ich mal als nicht besonders richtungsweisend sehen. Entscheidend wird sein, was wir bei den Tests erleben, die während der Spiele stattfinden.
DLF: Ist der Kampf gegen Doping im Sport überhaupt jemals zu gewinnen?
Baar: Ich weiß nicht, ob er zu gewinnen ist. Aber man kann ihn verlieren, und deswegen muss man kämpfen. Das ist eigentlich ein schönes Bild, wenn man das mit dem Sport vergleicht: Es ist so, als wenn man laufen würde – und man hat keine Chance, als Erster ins Ziel zu kommen, aber man will trotzdem nicht als Letzter reinkommen bzw. stolpern. Man muss einfach sehen, dass die olympische Bewegung als solches erst einmal sehr, sehr wertvoll ist. Und deswegen muss man alles tun dafür – auch im Hinblick auf den gesamten anderen Sport, denn vieles geht ja von der olympischen Bewegung aus –, dass man das schützt, dass man einfach versucht, diesen Kampf weiterzuführen, obwohl er in meinen Augen nicht zu gewinnen ist.
DLF: Im deutschen Olympiateam für Sydney sind, Herr Baar, zahlreiche Trainer, die am Dopingsystem der DDR beteiligt waren. Allein in der Leichtathletik sind es zehn Trainer, die zum Teil per Strafbefehl ihre Dopinguntaten bei Gericht gestanden haben. Wo bleiben Moral und Anstand, oder - Frage: Zählt nur der Erfolg?
Baar: In erster Linie zählt der Erfolg, das kann man schon sagen. Und der Erfolg wird versucht, durch Kompetenz zu fördern. Und dass neben den Dopingvorwürfen, die gegen entsprechende Trainer vorliegen, muss man eben festhalten, dass diese Trainer eben auch sehr kompetent sind. Und das sind die Gründe, die dafür sprechen, sie weiter im Angestelltenverhältnis zu behalten. Trotzdem: So ganz verstehen kann ich das auch nicht. Es ist ja nicht nur in der Leichtathletik so, sondern in vielen anderen Sportarten ist das auch so. Ich hätte mir damals auch gewünscht, dass das wirklich rückhaltloser geklärt wird, das Thema. Aber es war in allen Verbänden die Bereitschaft letztendlich nicht da. Und letztendlich hätte ich mir auch gewünscht – auch für die Sportler –, dass die Trainer sich hinstellen und einfach mal das bekennen. Das hätte viel geholfen – ein Bekennen im Sinne von ‚ich fühle mich schuldig‘. Das fehlte an vielen Stellen, und dann wäre auch die Verärgerung über solche Sachen nicht mehr so groß, denn letztendlich waren – das muss man ja auch sagen – auch diese Trainer jahrelang mehr oder weniger gezwungen, das zu tun. Man muss auch mal sich selber angucken: Hätte ich als Trainer in einer entsprechenden Situation in diesem System wirklich anders gehandelt? Es kann sicherlich nicht jeder sagen, dass er das anders gemacht hätte. Deswegen muss man mit der Reaktion vorsichtig sein. Ich hätte mir gewünscht, dass ein stärkeres Bekennen dazu dagewesen wäre. Das hätte der Situation geholfen, dann hätte man verzeihen können. Dann wäre die Situation wesentlich besser als sie jetzt ist.
DLF: In dieser Situation ist ja auch der Staat gefordert, denn der Staat – die Bundesrepublik Deutschland – hat sich verpflichtet, einen dopingfreien Sport zu fördern und zu unterstützen.
Baar: Ich denke schon, aber auf der anderen Seite muss man immer wieder betonen, dass es ganz gut ist, wenn sich die Politik aus der Verantwortung im Sport ein Stück weit raushält, dass der Sport erst einmal für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt sicherlich Situationen, wo man von politischer Seite hätte auch mehr Verantwortung übernehmen müssen.
DLF: Denn die viel gerühmten ‚Selbstreinigungskräfte des Sports‘ – die gibt’s ja im deutschen Sport nicht.
Baar: Die gibt’s im deutschen Sport nicht in dem Maße, wie man sich das wünschen könnte, und im internationalen auch nicht – nein.
DLF: Herr Baar, die ersten Spiele in Australien 1956 in Melbourne waren die der ersten gesamtdeutschen Olympiamannschaft. Damals gab es 114 Athleten aus der Bundesrepublik und 36 aus der DDR, die danach dann zur Weltmacht des Sports aufstieg. Eine Einheit gibt es - 10 Jahre danach – im Sport so sehr und so wenig, denke ich, wie im deutschen Alltag. Warum wollen das die Sportfunktionäre nicht wahr haben?
Baar: Nun, wie gesagt: Für die Sportfunktionäre hängt vieles von ihrer eigenen Existenz ab. Also, wenn das Image des deutschen Sportes leiden würde, dann würde auch ihr eigenes Image und ihre eigene Existenz gefährdet sein. Aber letztendlich: Ich würde das nicht so auf Ost – West herauskristallisieren. Wir haben einfach eine große Mannschaft auf vielen Sportarten, und auch die einzelnen Verbände sind sich ja nicht immer grün – es ist nicht unbedingt eine Mannschaft. Das ist einfach so. Ich würde das gar nicht mal so dramatisch sehen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass man einfach die Zeit hat, eine Mannschaft auch wirklich zu formen, auch vorher die Mannschaft – die ganze Olympiamannschaft – mal zusammenzubringen, weil ich auch weiß, dass so etwas natürlich auch hilft. Wenn ich weiß, eine ganze Mannschaft freut sich mit mir, wenn ich Erfolg habe – und ich kenne die Leute und freue mich da wiederum mit: Das ist eine Euphorie, die der ganzen Leistungsfähigkeit helfen kann. Das hätte ich mir schon gewünscht. Das ist natürlich organisatorisch nicht so ganz einfach. Dass es nicht unbedingt eine Einheit gibt, das muss man einfach – glaube ich – im Moment so hinnehmen.
DLF: Als Aktivenvertreter wissen Sie, wie es im deutschen Sport zugeht. Es gibt nach wie vor vielleicht kein Ost-West-Problem, aber ein Ost-West-Gefälle.
Baar: Das gibt es. Es gibt in vielen Bereichen des Sportes noch das Ostsystem, was ziemlich perfekt läuft. Trotzdem – denke ich mal – versuchen schon alle eine gewisse Integration, auch eben aus Selbsterhaltungstrieb. Aber ich würde das nicht als so dramatisch bezeichnen im Moment.
DLF: Einer der ‚Spaltpilze‘ in Ost und West ist ja der Dopingfall ‚Dieter Baumann‘, der noch in Sydney weiter verhandelt werden soll. In Ostdeutschland nimmt man offenbar weniger zur Kenntnis, dass nie zuvor ein des Dopings Beschuldigter ähnlich viel Eigeninitiative zur Aufhellung des Falles – eben wie Baumann selbst – entwickelt hat, der sich als Opfer eines Dopinganschlages sieht – nach einem Vorbild, das aus der Praxis der DDR-Staatssicherheit bekannt ist. Wie beurteilen Sie den Fall?
Baar: Nun, Sie werden verstehen, dass ich da jetzt nicht zu viel drüber sagen kann, so lange das noch nicht endgültig entschieden ist. Da bin ich schließlich auch IOC-Mitglied und muss da meine Neutralität auch an der jetzigen Stelle noch wahren. Es kann natürlich seine Situation ganz eindeutig verstehen, weil seine Existenz auch am Sport hängt. Und ich habe auch meine Zweifel, ob das alles so richtig ist. Aber letztendlich möchte und kann ich da im Moment nicht viel zu sagen.
DLF: Herr Baar, Deutschland erlebt eine Welle fremdenfeindlicher Aktivitäten und Übergriffe. Olympia ist ja nun ein Fest der Nationen, der Religionen und der Rassen. Warum gelingt es der Sportbewegung nicht angesichts der beklemmenden Situation in Deutschland, die sportimmanenten Werte, die immer behauptet werden – Toleranz, Verständigung, Fairplay –, stärker zur Geltung zu bringen?
Baar: Tut sie das nicht? Also, ich denke schon, dass wir das haben; ich denke, dass das im deutschen Sport schon der Fall ist. Wir haben letztendlich im deutschen Sport ein einmaliges System: Wir haben unser gesamtes, oder fast das gesamte, Sportsystem auf Vereine aufgebaut, jedenfalls das, woraus wir unsere Olympiamannschaft rekrutieren. Und über die Vereine haben wir auch ganz klar die Ideale, die da laufen. Ich denke, dass der deutsche Sport schon ein ganz gutes Image hat und eine ganz, ganz breite Basis in der Bevölkerung.
DLF: Aber wo ist die gesellschaftspolitische Vorreiterrolle des Sports in diesem Falle?
Baar: Der Sport – das habe ich immer wieder betont – der Sport ist nicht besser als die Gesellschaft. Er sollte es ein bisschen sein, das ist auch immer meine Forderung. Er sollte immer ein bisschen Vorbild sein und mit ein bisschen mehr Idealen als der Rest herangehen. Aber dass Fehler gemacht werden – siehe den Fall Doping –, also dass Betrügereien gemacht werden, das ist nun mal auch in gewisser Weise menschlich. Also, ich kann da eigentlich nichts anderes zu sagen. Ich sehe den Sport schon – und ich war ja nun lange dabei – in eigentlich einer ganz guten Situation. Ich persönlich würde mir wünschen, ich hätte mehr Zeit, selber Sport zu machen, denn die Werte, die vom Sport ausgehen, die lernt man erst wirklich zu schätzen, wenn man nicht mehr dabei ist.
DLF: Können Sie sich vorstellen, dass der Sport hier eine Initiative entwickelt? Denn in der gesellschaftspolitischen Diskussion – wie gesagt – kommt der Sport nicht vor.
Baar: Ich denke schon, dass er in gewisser Weise vorkommt. Aber er lebt ja auch davon. Wir haben uns immer dagegen gewehrt, zu politisch zu werden im Sport, denn da sind die Einflüsse dann da, die wir eigentlich nicht wollen. Die Sportler – und ich beziehe mich da mal wieder auf den olympischen Sport – die Sportler interessieren sich in erster Linie dafür, wie ihr eigenes Abschneiden bei den Olympischen Spielen ist. Jetzt da zu sehr ableiten zu wollen auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge – das wäre einfach für den Normalsportler zu schwierig. Und die Sportorganisationen sind einfach schon damit beschäftigt, mit den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, dieses zu organisieren. Wenn man dann noch mehr erwarten würde, dann wäre die Forderung einfach zu groß. Das kann die derzeitige Organisation einfach rein technisch nicht schaffen.
DLF: Herr Baar, Sie sind Mitglied der deutschen Mannschaftsführung in Sydney. Vor vier Jahren in Atlanta haben die Deutschen 65 Medaillen gewonnen – 20 Gold, 18 Silber und 27 Bronze – und sie waren Dritte in der sogenannten Nationenwertung, hinter den USA und Russland. Was erwarten Sie diesmal vom deutschen Olympiateam?
Baar: Nun ja, zunächst einmal muss man sehen, dass wir eine reduzierte Mannschaft haben. Wir haben etwa 10 Prozent weniger Teilnehmer, was sich natürlich auch in den Medaillen widerspiegeln wird. Davon muss man einfach ausgehen. Dazu kommt noch, dass wir vor allem in Barcelona, aber auch noch in Atlanta, besondere Spiele hatten. Das waren noch Auswirkungen von einer Zusammenführung von zwei Olympiamannschaften. Das haben wir gesehen – gerade Barcelona. Das wird nicht zu schlagen sein in der Bilanz so schnell, und dementsprechend haben wir da einen Abwärtstrend zu sehen. Aber ich möchte es mal positiv ausdrücken: Ich gehe einfach davon aus, dass alle sich engagieren. Und wir werden ein paar Überraschungen haben – in beide Richtungen. Wir werden Erfolge haben, die wir nicht erwartet haben, und Misserfolge von denen, wo wir gedacht hätten, wir hätten einen Erfolg. Aber letztendlich muss man auch die Realität sehen. Und da bin ich einfach – sage ich mal – mathematisch orientiert und sage: Es wird sicherlich schwierig sein, an das anzuknüpfen, was wir bisher hatten. Medaillen sind wichtig. Sie positionieren letztendlich den deutschen Sport im internationalen Geschäft und damit auch die Argumentation sportpolitisch. Also, wenn wir eine starke deutsche Olympiamannschaft haben, dann haben wir auch sportpolitisch wieder ein stärkeres Gewicht. Das ist einfach so. Man kann einfach mit mehr Selbstbewusstsein in die Gespräche gehen, wenn man weiß, die deutsche Mannschaft hat Erfolg. Und von daher sind die Medaillen schon sehr, sehr wichtig. Und natürlich darüber hinaus: Für jede einzelne Sportart, also für den einzelnen nationalen Verband, hängt davon auch die finanzielle Förderung ab für die nächsten Jahre – für den Weg bis zu den nächsten Spielen. Also, Medaillen sind schon ganz schön wichtig - und nicht zuletzt auch für den Sportler selbst. Ich meine, ich habe das am eigenen Leib erfahren. Dieses Thema ‚Dabeisein ist alles‘ – das kann ich jetzt sagen. Jetzt, im Nachhinein sage ich: Dabei zu sein ist ganz schön. Aber wenn man dabei ist und gewinnt keine Medaille, dann tut das höllisch weh. Also, insgesamt sind Medaillen sehr, sehr wichtig, und ich kann nur hoffen, dass wir viele von denen holen.
DLF: Aber dieser Zusammenhang – Anzahl der Medaillen und Höhe der öffentlichen Sportförderung –: Ist das nicht gefährlich?
Baar: Das ist gefährlich, aber es betrifft ja nur einen Teil der Förderung. Es ist ja nicht die gesamte Förderung davon abhängig. Aber auf der anderen Seite ist das unser Leistungsprinzip, und in der Gesellschaft müssen ja die Ressourcen, die wir haben – wir haben Kürzungen erlebt in der Vergangenheit –, die muss man ja gerecht verteilen. Und wie will man das sonst machen als über Leistung. Also, es ist einfach nicht anders realisierbar.
DLF: Abschließende Frage, Herr
Baar: Die Faszination Olympia – die existiert noch?
Baar: Die existiert auf jeden Fall. Ich weiß, dass die Olympischen Spiele einfach ein unvergleichliches Erlebnis sind für jeden, der teilnimmt, vor allen Dingen für die Sportler natürlich und in erster Linie für die Sportler. Das wird auch nicht so schnell anders sein. Ich gehe davon aus, dass wir sehr schöne Spiele erleben werden in Sydney – mit tollen Erfolgen auch für die deutsche Mannschaft. Und ich hoffe einfach, dass jeder, der teilnimmt, das dann auch entsprechend mitnimmt und zufrieden für sich nach Hause gehen kann.
DLF: Die Sydney-Spiele sind die Millenium-Spiele, die ersten des neuen Jahrhunderts also. Ist da noch viel geblieben von dem, was einst etwas pathetisch das ‚Treffen der Jugend der Welt‘ genannt wurde?
Baar: Ich würde schon sagen: Ja. Also, ich habe das immer als solches empfunden. Auch wenn das eine Riesen-Mammut-Veranstaltung ist, ist es trotzdem eine unvergleichliche Aktion für die Sportler, denn die Sportler sind ja von dem Trubel rundherum doch relativ abgeschottet. Und von der Seite – und ich sehe mich ja in erster Linie noch als Athletenvertreter – kann ich das eigentlich schon behaupten, dass das Spiele der Jugend sind.
DLF: 10.600 Athleten in Sydney – das ist eine neue Rekordzahl. Sind das nicht zu viele Sportler?
Baar: Ja, natürlich sind das sehr, sehr viele, das ist gar keine Frage. Aber es hat sich ja gezeigt, dass das funktionieren kann. Und letztendlich ist es ja gerade dieser Reiz dieser Spiele, dass eben sehr viele Sportler aus allen Nationen und in vielen verschiedenen Sportarten mit ganz vielen Facetten auch an Leistungsfähigkeiten auftreten können. Das macht letztendlich die Olympischen Spiele aus, und deswegen kann man da auch nicht großartig reduzieren.
DLF: Aber als Samaranch Präsident wurde – 1980 –, gab es 21 olympische Sportarten mit 203 Wettbewerben. Jetzt im Jahr 2000 sind es 28 Sportarten mit 300 Wettbewerben. Wo soll das noch hinführen?
Baar: Ja, es wird nicht weiterführen, das wissen wir ja. Die Anzahl der Teilnehmer ist festgelegt auf eine Größenordnung von 10.000. Jetzt kann man nur noch an Sportarten reduzieren und andere Sportarten dazuholen. Wenn man aber eben als Basis die Vielfalt der Spiele sieht, dann gilt das erst einmal als solches. Ich sehe den Prozess des Wachsens erst einmal gestoppt.
DLF: Herr Baar, Sie waren dreimal Olympiateilnehmer – 1988, 92 und 96. Als Ruderer haben Sie mit dem Achter Bronze und Silber gewonnen. Olympia hat sich zu Kommerzspielen entwickelt, die Spiele scheinen für viele - für Zuschauer, für Funktionäre, für die Medien auch, für die Wirtschaft - da zu sein, aber am allerwenigsten für die Athleten. Oder täuscht der Eindruck?
Baar: Das täuscht ein bisschen. Ich meine, ich sehe meine Aufgabe als Mitglied der IOC-Athletenkommission eben vor allen Dingen darin, die Rechte der Athleten in den Vordergrund zu stellen, das heißt, immer da aufzupassen, wenn die individuellen Recht beschnitten werden. Aber wie ich schon gesagt habe: Die Sportler sind ja erst einmal ziemlich abgeschottet. Sie leben ja im Olympischen Dorf erst einmal für sich und können zu den Wettkämpfen reisen und sind da auch relativ abgetrennt von der Öffentlichkeit. Es sind eigentlich zwei kleine Welten, wenn man da ist. Und ich denke mal, für die Sportler ist es nach wie vor eine unvergleichliche Veranstaltung.
DLF: Die Spiele sollen ja für die Athleten da sein. Aber geht der Athlet nicht in dieser Masse unter?
Baar: Weiß ich nicht. Er lebt ja von der Masse auch. Es ist schon richtig: Es ist eine Mammut-Veranstaltung, aber letztendlich ist es natürlich auch ein Beweis für den Athleten - wenn die Öffentlichkeit sich für ihn interessiert -, dass seine Leistung anerkannt wird. Also letztendlich lebt der Sportler davon, dass ein großes Interesse da ist. Er muss eben nur aufpassen, dass er da nicht überrannt wird. Das ist überhaupt keine Frage.
DLF: Die Sydney-Spiele, Herr Baar, sind die ersten nach dem Olympia-Bestechungsskandal, der das IOC ja in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt hat. Die Folgen dieser Vertrauenskrise – sind die noch spürbar?
Baar: Die sind auf jeden Fall spürbar. Ich denke, es besteht eine große Angst davor, wie die Spiele jetzt in Sydney ablaufen werden. Denn wir standen sozusagen am Scheideweg im vergangenen Jahr; das war ganz kritisch. Wir hatten zwei große Problemfelder, und die olympische Bewegung als solche war in Frage gestellt. Deswegen ist jetzt das IOC oder die olympische Bewegung in der Pflicht, zu beweisen, was sie können. Und deswegen ist eben der Druck auf Sydney auch so groß.
DLF: Warum ist es aus Ihrer Sicht eigentlich zu diesem Skandal - zu diesem Korruptionsskandal - gekommen? Was sind die Ursachen?
Baar: Nun ja, wir haben ja eigentlich zwei Problemfelder im vergangenen Jahr gehabt. Das eine war das Thema ‚Doping‘, und das andere war das Thema ‚Bestechungsvorwürfe‘ im Zusammenhang mit Salt Lake City. Wie ist es dazu gekommen? Das IOC ist sehr stark gewachsen – aus dem Nichts sozusagen in den vergangenen zwei Jahrzehnten in dieses Mammutprogramm mit sehr viel Geld. Die olympische Bewegung stand eigentlich ja schon kurz vor dem ‚Aus‘ – 1984 bei den Spielen. Ich übertreibe ein bisschen, aber es war schon nicht vergleichbar mit heute. Und dann ist die Organisation so gewachsen, und die Organisation als solche ist einfach nicht in der Lage, dem Herr zu werden. Das haben wir gesehen. Da gibt es die IOC-Vollversammlung und da gibt es die ganzen Hauptamtlichen, die die Arbeit letztendlich machen müssen. Und das als solches passt einfach nicht. Da muss einfach mehr Verantwortung für die IOC-Mitglieder rein. Das ist eben, worauf ich immer großen Wert lege, dass irgend jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Und die ganze Organisation muss durchschaubarer sein, also muss durchsichtiger werden. Und erst dann – denke ich mal – ist die Organisation auch in der Lage, dieses Programm überhaupt durchziehen zu können.
DLF: Kann man sagen, dass die Verantwortlichen im IOC in der Vergangenheit gar nicht interessiert waren, Transparenz in das hineinzubringen, was sie getan haben?
Baar: Das kann man schon so sagen. Da ist immer die eine oder andere Behinderung gewesen. Also, an Informationen, an wirkliche Internas zu kommen, ist nicht unbedingt ganz einfach. Von daher gebe ich Ihnen da recht. Es ist so ein Besitzstandsdenken: Ich halte das, was ich habe und gebe kein Stück ab. Aber es hat sich eben gezeigt, dass das nicht funktionieren kann und dass das eben die Ursache für die Konflikte ist. Und was wir jetzt gemacht haben, diesen Reformprozess, den wir angeschoben haben – das ist ja auch nur der erste Schritt und wirklich nur ein kleines Fenster, das wir da aufgemacht haben. Es muss noch sehr, sehr viel mehr geschehen.
DLF: Was?
Baar: Letztendlich wird es darauf hinauslaufen, dass die Generation der IOC-Mitglieder – ich sage mal – sich langsam austauscht. Das heißt, dass wir neue Köpfe bekommen, die eben Rechtfertigungen abgeben müssen, was sie da tun. Das wird wahrscheinlich nur über einen Austausch gehen. Das klingt ein bisschen hart, aber letztendlich ist das so. Und von da aus muss einfach der Druck auf alle anderen Organisationen im IOC kommen, und damit meine ich vor allen Dingen die Hauptamtlichen., denn die halten die Macht letztendlich noch völlig ungerechterweise in den Händen. Und die werden sie freiwillig nicht abgeben. Also die werden sie nur abgeben, wenn wir eine starke Machtposition auf der anderen Seite bekommen.
DLF: Gehört denn, Herr Baar, zu den Ursachen des Olympia-Bestechungsskandals auch, dass die Anhänger der rein olympischen Lehre im IOC offenkundig in der Minderzahl sind im Vergleich zu den ‚Geschäftemachern‘?
Baar: Das mag vielleicht sein. Aber ich meine, man darf das Geschäftemachen als solches auch nicht verteufeln. Unsere ganze Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, Geschäfte zu machen. Auch der Sport kann sich da dem nicht entziehen. Letztendlich leben wir davon als Sportler, dass es Werbung gibt. Ohne diese Geschichte würde es die olympische Bewegung wahrscheinlich nicht mehr geben. Also, man darf es grundsätzlich nicht verteufeln. Aber es muss eine gewisse Ausgewogenheit halt da sein, und die klassischen olympischen Ideale müssen halt weiter in den Vordergrund geschoben werden. Aber das hängt auch – wie bei den Mitgliedern – insbesondere mit den Köpfen zusammen, die die Ideale vertreten.
DLF: Kann die olympische Vertrauenskrise spätestens dann bewältigt werden, wenn der IOC-Verantwortliche der letzten 20 Jahre, Präsident Samaranch, im Juni des Jahres 2001 – mit dann 81 Jahren – sich auf das olympische Altenteil zurückziehen wird?
Baar: Ja, das wird schon ganz entscheidend werden. Also, die Nachfolge des Präsidenten - das wird natürlich richtungsweisend sein. Und wenn ich mir überlege, welche Kandidaten dafür in Frage kommen, dann sind das schon Extreme. Also, das kann entweder in die eine Richtung oder in die andere Richtung laufen. Von daher sehe ich dem mit sehr viel Skepsis und sehr viel Spannung entgegen, was da auf uns zukommen wird. Letztendlich muss man aber sehen, dass durch die Reform, die wir durchgezogen haben, die Exekutive etwas stärker geworden ist und der Präsident etwas schwächer. Trotzdem ist der Präsident immer noch der Präsident, und er wird letztendlich die Gesamtpolitik vorgeben.
DLF: Hat ein Deutscher eine Chance, IOC-Präsident zu werden? Unter den Kandidaten wird immer wieder auch mal Thomas Bach genannt, der ja in der Exekutive ist und für den Posten eines IOC-Vizepräsidenten kandidiert.
Baar: Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt, aber ich denke schon, dass er irgendwann die Chance hat auf dieses Amt. Letztendlich ist das aber eine Diskussion, die jetzt noch nicht so öffentlich geführt wird. Wir haben jetzt eine Wahl für die Exekutive und für die Vizepräsidenten, und die ganze Kür – sage ich mal – in Richtung Präsidentschaft werden wir erst nach den Spielen von Sydney erleben. Von daher werden wir das sehen.
DLF: Bei einer Würdigung des 80. Geburtstages von IOC-Präsident Samaranch in diesem Jahr haben Sie, Herr Baar, Samaranch mit Helmut Kohl verglichen – mit dem Zitat ‚bei einer so langen Amtszeit läuft automatisch einiges aus dem Ruder‘.
Baar: Das kann man in verschiedenen Bereichen sehen. Das kann man auf der politischen Ebene so sehen – bei Helmut Kohl war das sicherlich, das kann man glaube ich ohne Umschweife so sagen, eines der großen Probleme. Und das kann man auch im sportlichen Bereich sehen, wenn ein Bundestrainer – ich sehe das am Beispiel des Deutschen Ruderverbandes gerade – sehr lange eine Mannschaft betreut, dann kann das irgendwann nicht mehr funktionieren, dann kommt nichts Neues mehr, keine neuen Impulse. Und genau so ist das auch mit einer Präsidentschaft in einer solch wichtigen Organisation wie dem IOC. Ich will ihm gar nicht mal unbedingt jetzt absprechen, dass er da nicht engagiert dabei ist und auch einiges bewegt hat. Aber es ist einfach zu lang. Die Zeichen wurden aber auch erkannt im IOC, und die Präsidentschaft wurde auch – sage ich mal – begrenzt.
DLF: Samaranch – die Meinungen über ihn sind ja sehr gespalten. Wie sehen Sie es – ein Mann, der das IOC finanziell reich, aber arm an Idealen gemacht hat?
Baar: Die Frage ist durchaus berechtigt. Ich meine, letztendlich haben wir ja im Moment die Situation, dass wir auf der einen Seite die etwas alten Ideale des IOC haben, auf der anderen Seite diesen ganzen Kommerz. Und Samaranch hat da sicherlich vieles zu verantworten. Und die Verantwortung ist ja zuerst einmal wertungsfrei. Erst einmal muss man sehen: Bewertet man das als gut oder als nicht gut. Ich denke mal, wir hätten die olympische Bewegung nicht an der Stelle, wo wir sie jetzt haben – ohne die ganze Kommerzialisierung. Von daher muss man das erst einmal als solches ihm also anrechnen. Und wie gesagt: Der Sportler lebt auch davon. Es kommt eben auf die gewisse Ausgewogenheit an. Man muss auch schon als Sportler mit der Zeit gehen, auch in einer klassischen Organisation wie dem IOC. Man kann ja nicht auf der einen Seite dem IOC eine zu konservative Haltung einräumen und dann auf der anderen Seite, wenn man mit der Zeit geht - und Kommerzialisierung ist nun mal ein Zeitthema -, dann ihm das wieder vorwerfen. Nein, wie gesagt: Die Ausgewogenheit ist da entscheidend, und dementsprechend auch die Verantwortung des IOC-Präsidenten. Insgesamt mit seiner ganzen Verantwortung – historisch gesehen auch – ist das schon ein durchaus zweifelhaftes Thema. Aber sein großes Interesse ist es nun mal, am Ende seiner Amtszeit mit einem positiven Licht abzugehen.
DLF: Thema ‚Doping‘. Auch, wenn erstmals Dopingkontrollen sich auch auf Erythropoietin, auf die Droge der Dauerleister – auf EPO – erstrecken: Angesichts der Tatsache, dass ja Wachstumshormon nicht untersucht wird und andere neue nicht auffindbare Substanzen im Umlauf sein sollen, hat ja die Samaranch-Prognose, Sydney seien die ersten wirklich sauberen Spiele, bei Wissenschaftlern nur für Heiterkeit gesorgt.
Baar: Ja, das halte ich auch für völlig unrealistisch. Wir sind noch weit davon entfernt und wir werden es vielleicht nie erreichen, wirklich einen echt sauberen Sport zu reiten. Aber wenn wir von ‚nicht sauberem‘ Sport sprechen, dann sprechen wir von einem ganz kleinen Anteil von Sportlern, die das wirklich machen. Das muss man mal hervorheben. Man muss das Image der Sportler, die das eben nicht tun, schon schützen. Und die Mehrzahl der Sportler ist eben mit Doping überhaupt nicht in Kontakt. Es gibt einige wenige, die das machen. Wir werden auch in Sydney einige Fälle erleben, davon kann man ausgehen. Rein statistisch gesehen – und ich bin nun mal irgendwie Ingenieur – glaube ich daran, dass wir was erleben werden. Es kommt eben darauf an, dass man in aller Offenheit und mit aller Härte dann damit umgeht. Dass es Betrug gibt, das ist in jedem Gesellschaftsbereich so. Da ist auch der Sport nicht von frei. Nur – es kommt auf den Umgang damit an. Und da bin ich mal gespannt.
DLF: Aber der überraschende Rückzug von einer Reihe chinesischer Sportler, die bereits nominiert waren - ganz offenkundig wegen der EPO-Problematik -, auch das Auffinden von Wachstumshormonen im Vorfeld bei der Einreise hat ja gezeigt, dass offenbar etwas in Gang gekommen ist.
Baar: Ja, es ist die Frage, was dabei in Gang gekommen ist. Ich habe auch schon gedacht: Da hat man jetzt ein paar ‚Pappkameraden‘ an die Wand gestellt, um dann den Anschein einer sauberen Mannschaft zu erzeugen. Ich meine, dass es gewisse Delegationen gibt im internationalen Sportgeschäft, wo die Sportwelt davon ausgeht, dass da gedopt wird, das ins nun mal so; das ist ein unausgesprochenes Geheimnis. Das wissen alle, dass da was passiert. Nur: Man kann es nicht immer beweisen. Deswegen kann man den individuellen Sportlern auch nicht unbedingt etwas beweisen. Eine solche Aktion, wie jetzt, würde ich mal als nicht besonders richtungsweisend sehen. Entscheidend wird sein, was wir bei den Tests erleben, die während der Spiele stattfinden.
DLF: Ist der Kampf gegen Doping im Sport überhaupt jemals zu gewinnen?
Baar: Ich weiß nicht, ob er zu gewinnen ist. Aber man kann ihn verlieren, und deswegen muss man kämpfen. Das ist eigentlich ein schönes Bild, wenn man das mit dem Sport vergleicht: Es ist so, als wenn man laufen würde – und man hat keine Chance, als Erster ins Ziel zu kommen, aber man will trotzdem nicht als Letzter reinkommen bzw. stolpern. Man muss einfach sehen, dass die olympische Bewegung als solches erst einmal sehr, sehr wertvoll ist. Und deswegen muss man alles tun dafür – auch im Hinblick auf den gesamten anderen Sport, denn vieles geht ja von der olympischen Bewegung aus –, dass man das schützt, dass man einfach versucht, diesen Kampf weiterzuführen, obwohl er in meinen Augen nicht zu gewinnen ist.
DLF: Im deutschen Olympiateam für Sydney sind, Herr Baar, zahlreiche Trainer, die am Dopingsystem der DDR beteiligt waren. Allein in der Leichtathletik sind es zehn Trainer, die zum Teil per Strafbefehl ihre Dopinguntaten bei Gericht gestanden haben. Wo bleiben Moral und Anstand, oder - Frage: Zählt nur der Erfolg?
Baar: In erster Linie zählt der Erfolg, das kann man schon sagen. Und der Erfolg wird versucht, durch Kompetenz zu fördern. Und dass neben den Dopingvorwürfen, die gegen entsprechende Trainer vorliegen, muss man eben festhalten, dass diese Trainer eben auch sehr kompetent sind. Und das sind die Gründe, die dafür sprechen, sie weiter im Angestelltenverhältnis zu behalten. Trotzdem: So ganz verstehen kann ich das auch nicht. Es ist ja nicht nur in der Leichtathletik so, sondern in vielen anderen Sportarten ist das auch so. Ich hätte mir damals auch gewünscht, dass das wirklich rückhaltloser geklärt wird, das Thema. Aber es war in allen Verbänden die Bereitschaft letztendlich nicht da. Und letztendlich hätte ich mir auch gewünscht – auch für die Sportler –, dass die Trainer sich hinstellen und einfach mal das bekennen. Das hätte viel geholfen – ein Bekennen im Sinne von ‚ich fühle mich schuldig‘. Das fehlte an vielen Stellen, und dann wäre auch die Verärgerung über solche Sachen nicht mehr so groß, denn letztendlich waren – das muss man ja auch sagen – auch diese Trainer jahrelang mehr oder weniger gezwungen, das zu tun. Man muss auch mal sich selber angucken: Hätte ich als Trainer in einer entsprechenden Situation in diesem System wirklich anders gehandelt? Es kann sicherlich nicht jeder sagen, dass er das anders gemacht hätte. Deswegen muss man mit der Reaktion vorsichtig sein. Ich hätte mir gewünscht, dass ein stärkeres Bekennen dazu dagewesen wäre. Das hätte der Situation geholfen, dann hätte man verzeihen können. Dann wäre die Situation wesentlich besser als sie jetzt ist.
DLF: In dieser Situation ist ja auch der Staat gefordert, denn der Staat – die Bundesrepublik Deutschland – hat sich verpflichtet, einen dopingfreien Sport zu fördern und zu unterstützen.
Baar: Ich denke schon, aber auf der anderen Seite muss man immer wieder betonen, dass es ganz gut ist, wenn sich die Politik aus der Verantwortung im Sport ein Stück weit raushält, dass der Sport erst einmal für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt sicherlich Situationen, wo man von politischer Seite hätte auch mehr Verantwortung übernehmen müssen.
DLF: Denn die viel gerühmten ‚Selbstreinigungskräfte des Sports‘ – die gibt’s ja im deutschen Sport nicht.
Baar: Die gibt’s im deutschen Sport nicht in dem Maße, wie man sich das wünschen könnte, und im internationalen auch nicht – nein.
DLF: Herr Baar, die ersten Spiele in Australien 1956 in Melbourne waren die der ersten gesamtdeutschen Olympiamannschaft. Damals gab es 114 Athleten aus der Bundesrepublik und 36 aus der DDR, die danach dann zur Weltmacht des Sports aufstieg. Eine Einheit gibt es - 10 Jahre danach – im Sport so sehr und so wenig, denke ich, wie im deutschen Alltag. Warum wollen das die Sportfunktionäre nicht wahr haben?
Baar: Nun, wie gesagt: Für die Sportfunktionäre hängt vieles von ihrer eigenen Existenz ab. Also, wenn das Image des deutschen Sportes leiden würde, dann würde auch ihr eigenes Image und ihre eigene Existenz gefährdet sein. Aber letztendlich: Ich würde das nicht so auf Ost – West herauskristallisieren. Wir haben einfach eine große Mannschaft auf vielen Sportarten, und auch die einzelnen Verbände sind sich ja nicht immer grün – es ist nicht unbedingt eine Mannschaft. Das ist einfach so. Ich würde das gar nicht mal so dramatisch sehen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass man einfach die Zeit hat, eine Mannschaft auch wirklich zu formen, auch vorher die Mannschaft – die ganze Olympiamannschaft – mal zusammenzubringen, weil ich auch weiß, dass so etwas natürlich auch hilft. Wenn ich weiß, eine ganze Mannschaft freut sich mit mir, wenn ich Erfolg habe – und ich kenne die Leute und freue mich da wiederum mit: Das ist eine Euphorie, die der ganzen Leistungsfähigkeit helfen kann. Das hätte ich mir schon gewünscht. Das ist natürlich organisatorisch nicht so ganz einfach. Dass es nicht unbedingt eine Einheit gibt, das muss man einfach – glaube ich – im Moment so hinnehmen.
DLF: Als Aktivenvertreter wissen Sie, wie es im deutschen Sport zugeht. Es gibt nach wie vor vielleicht kein Ost-West-Problem, aber ein Ost-West-Gefälle.
Baar: Das gibt es. Es gibt in vielen Bereichen des Sportes noch das Ostsystem, was ziemlich perfekt läuft. Trotzdem – denke ich mal – versuchen schon alle eine gewisse Integration, auch eben aus Selbsterhaltungstrieb. Aber ich würde das nicht als so dramatisch bezeichnen im Moment.
DLF: Einer der ‚Spaltpilze‘ in Ost und West ist ja der Dopingfall ‚Dieter Baumann‘, der noch in Sydney weiter verhandelt werden soll. In Ostdeutschland nimmt man offenbar weniger zur Kenntnis, dass nie zuvor ein des Dopings Beschuldigter ähnlich viel Eigeninitiative zur Aufhellung des Falles – eben wie Baumann selbst – entwickelt hat, der sich als Opfer eines Dopinganschlages sieht – nach einem Vorbild, das aus der Praxis der DDR-Staatssicherheit bekannt ist. Wie beurteilen Sie den Fall?
Baar: Nun, Sie werden verstehen, dass ich da jetzt nicht zu viel drüber sagen kann, so lange das noch nicht endgültig entschieden ist. Da bin ich schließlich auch IOC-Mitglied und muss da meine Neutralität auch an der jetzigen Stelle noch wahren. Es kann natürlich seine Situation ganz eindeutig verstehen, weil seine Existenz auch am Sport hängt. Und ich habe auch meine Zweifel, ob das alles so richtig ist. Aber letztendlich möchte und kann ich da im Moment nicht viel zu sagen.
DLF: Herr Baar, Deutschland erlebt eine Welle fremdenfeindlicher Aktivitäten und Übergriffe. Olympia ist ja nun ein Fest der Nationen, der Religionen und der Rassen. Warum gelingt es der Sportbewegung nicht angesichts der beklemmenden Situation in Deutschland, die sportimmanenten Werte, die immer behauptet werden – Toleranz, Verständigung, Fairplay –, stärker zur Geltung zu bringen?
Baar: Tut sie das nicht? Also, ich denke schon, dass wir das haben; ich denke, dass das im deutschen Sport schon der Fall ist. Wir haben letztendlich im deutschen Sport ein einmaliges System: Wir haben unser gesamtes, oder fast das gesamte, Sportsystem auf Vereine aufgebaut, jedenfalls das, woraus wir unsere Olympiamannschaft rekrutieren. Und über die Vereine haben wir auch ganz klar die Ideale, die da laufen. Ich denke, dass der deutsche Sport schon ein ganz gutes Image hat und eine ganz, ganz breite Basis in der Bevölkerung.
DLF: Aber wo ist die gesellschaftspolitische Vorreiterrolle des Sports in diesem Falle?
Baar: Der Sport – das habe ich immer wieder betont – der Sport ist nicht besser als die Gesellschaft. Er sollte es ein bisschen sein, das ist auch immer meine Forderung. Er sollte immer ein bisschen Vorbild sein und mit ein bisschen mehr Idealen als der Rest herangehen. Aber dass Fehler gemacht werden – siehe den Fall Doping –, also dass Betrügereien gemacht werden, das ist nun mal auch in gewisser Weise menschlich. Also, ich kann da eigentlich nichts anderes zu sagen. Ich sehe den Sport schon – und ich war ja nun lange dabei – in eigentlich einer ganz guten Situation. Ich persönlich würde mir wünschen, ich hätte mehr Zeit, selber Sport zu machen, denn die Werte, die vom Sport ausgehen, die lernt man erst wirklich zu schätzen, wenn man nicht mehr dabei ist.
DLF: Können Sie sich vorstellen, dass der Sport hier eine Initiative entwickelt? Denn in der gesellschaftspolitischen Diskussion – wie gesagt – kommt der Sport nicht vor.
Baar: Ich denke schon, dass er in gewisser Weise vorkommt. Aber er lebt ja auch davon. Wir haben uns immer dagegen gewehrt, zu politisch zu werden im Sport, denn da sind die Einflüsse dann da, die wir eigentlich nicht wollen. Die Sportler – und ich beziehe mich da mal wieder auf den olympischen Sport – die Sportler interessieren sich in erster Linie dafür, wie ihr eigenes Abschneiden bei den Olympischen Spielen ist. Jetzt da zu sehr ableiten zu wollen auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge – das wäre einfach für den Normalsportler zu schwierig. Und die Sportorganisationen sind einfach schon damit beschäftigt, mit den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, dieses zu organisieren. Wenn man dann noch mehr erwarten würde, dann wäre die Forderung einfach zu groß. Das kann die derzeitige Organisation einfach rein technisch nicht schaffen.
DLF: Herr Baar, Sie sind Mitglied der deutschen Mannschaftsführung in Sydney. Vor vier Jahren in Atlanta haben die Deutschen 65 Medaillen gewonnen – 20 Gold, 18 Silber und 27 Bronze – und sie waren Dritte in der sogenannten Nationenwertung, hinter den USA und Russland. Was erwarten Sie diesmal vom deutschen Olympiateam?
Baar: Nun ja, zunächst einmal muss man sehen, dass wir eine reduzierte Mannschaft haben. Wir haben etwa 10 Prozent weniger Teilnehmer, was sich natürlich auch in den Medaillen widerspiegeln wird. Davon muss man einfach ausgehen. Dazu kommt noch, dass wir vor allem in Barcelona, aber auch noch in Atlanta, besondere Spiele hatten. Das waren noch Auswirkungen von einer Zusammenführung von zwei Olympiamannschaften. Das haben wir gesehen – gerade Barcelona. Das wird nicht zu schlagen sein in der Bilanz so schnell, und dementsprechend haben wir da einen Abwärtstrend zu sehen. Aber ich möchte es mal positiv ausdrücken: Ich gehe einfach davon aus, dass alle sich engagieren. Und wir werden ein paar Überraschungen haben – in beide Richtungen. Wir werden Erfolge haben, die wir nicht erwartet haben, und Misserfolge von denen, wo wir gedacht hätten, wir hätten einen Erfolg. Aber letztendlich muss man auch die Realität sehen. Und da bin ich einfach – sage ich mal – mathematisch orientiert und sage: Es wird sicherlich schwierig sein, an das anzuknüpfen, was wir bisher hatten. Medaillen sind wichtig. Sie positionieren letztendlich den deutschen Sport im internationalen Geschäft und damit auch die Argumentation sportpolitisch. Also, wenn wir eine starke deutsche Olympiamannschaft haben, dann haben wir auch sportpolitisch wieder ein stärkeres Gewicht. Das ist einfach so. Man kann einfach mit mehr Selbstbewusstsein in die Gespräche gehen, wenn man weiß, die deutsche Mannschaft hat Erfolg. Und von daher sind die Medaillen schon sehr, sehr wichtig. Und natürlich darüber hinaus: Für jede einzelne Sportart, also für den einzelnen nationalen Verband, hängt davon auch die finanzielle Förderung ab für die nächsten Jahre – für den Weg bis zu den nächsten Spielen. Also, Medaillen sind schon ganz schön wichtig - und nicht zuletzt auch für den Sportler selbst. Ich meine, ich habe das am eigenen Leib erfahren. Dieses Thema ‚Dabeisein ist alles‘ – das kann ich jetzt sagen. Jetzt, im Nachhinein sage ich: Dabei zu sein ist ganz schön. Aber wenn man dabei ist und gewinnt keine Medaille, dann tut das höllisch weh. Also, insgesamt sind Medaillen sehr, sehr wichtig, und ich kann nur hoffen, dass wir viele von denen holen.
DLF: Aber dieser Zusammenhang – Anzahl der Medaillen und Höhe der öffentlichen Sportförderung –: Ist das nicht gefährlich?
Baar: Das ist gefährlich, aber es betrifft ja nur einen Teil der Förderung. Es ist ja nicht die gesamte Förderung davon abhängig. Aber auf der anderen Seite ist das unser Leistungsprinzip, und in der Gesellschaft müssen ja die Ressourcen, die wir haben – wir haben Kürzungen erlebt in der Vergangenheit –, die muss man ja gerecht verteilen. Und wie will man das sonst machen als über Leistung. Also, es ist einfach nicht anders realisierbar.
DLF: Abschließende Frage, Herr
Baar: Die Faszination Olympia – die existiert noch?
Baar: Die existiert auf jeden Fall. Ich weiß, dass die Olympischen Spiele einfach ein unvergleichliches Erlebnis sind für jeden, der teilnimmt, vor allen Dingen für die Sportler natürlich und in erster Linie für die Sportler. Das wird auch nicht so schnell anders sein. Ich gehe davon aus, dass wir sehr schöne Spiele erleben werden in Sydney – mit tollen Erfolgen auch für die deutsche Mannschaft. Und ich hoffe einfach, dass jeder, der teilnimmt, das dann auch entsprechend mitnimmt und zufrieden für sich nach Hause gehen kann.