Oder die Bagatelle 10, der Blick hinter die Fassade einer bürgerlichen Idylle in einer Reihenhaussiedlung: ein vermeintlich vorbildlicher Ehemann und Familienvater geht fremd. Seine Frau hat eine entsprechende Visitenkarte mit Kussmund in seinem Sakko entdeckt. In der Silvesternacht stellt sie ihn zur Rede und setzt ihn vor die Tür. Der Mann fährt sofort zu seiner Geliebten, aber auch die will nichts mehr von ihm wissen. Derart abgewiesen unternimmt er noch in der gleichen Nacht einen Selbstmordversuch, den er überlebt, jedoch kopfabwärts gelähmt. Der Oberarzt überredet seine Frau, ihn wieder bei sich aufzunehmen.
Es sind Geschichten vom Scheitern, vom versäumten Leben, die Gülich erzählt. Er schildert Situationen, die zeigen, wie zerbrechlich eine herkömmliche Existenz plötzlich ist, wie schnell sie von einem unvorhergesehenen Ereignis bedroht und fundamental erschüttert werden kann. Und immer wieder schildert Gülich subtile Formen alltäglicher Gewalt und Unterdrückung, vor allem in Beziehungen und Familien. Wenn beispielsweise ein Vater seinem Sohn in einem entscheidenden Moment seiner schulischen Laufbahn Lob und Anerkennung für eine überraschend gute Klassenarbeit verweigert. Überhaupt die Kinder: ihnen gilt Gülichs besondere Aufmerksamkeit, wie sie der Welt der Erwachsenen oft schutzlos ausgeliefert sind.
Dabei vermeidet Gülich jedoch jede Spur von Rührseligkeit. Als Erzähler wahrt er Abstand, begegnet allen seinen Protagonisten mit Respekt und beobachtet sie kommentarlos. Wie diesen rüstigen Rentner auf dem Jakobsweg nach Santiago di Compostella, der 200 km vor dem Ziel bei einer alten Dame für eine Nacht Quartier nimmt und dann auf Bitten von ihr Tag um Tag bleibt, bis sie ihn schließlich genauso unerwartet auffordert, wieder zu gehen. Und weil der Mann nun im Verzug ist, fährt er mit dem Bus weiter, um am Stadtrand von Santiago auszusteigen und den Rest zu Fuß zu gehen. Zwei Stunden bleibt er vor dem Portal der Kathedrale, dann fährt er mit dem Zug zurück nach Hause. Was aber geht in diesem Mann vor? Was denkt, was empfindet er? Auf solche Fragen gibt Martin Gülich keine Antwort. Konsequent verweigert er uns den Blick in seine Figuren, enthält uns ihr Innenleben vollkommen vor und beschränkt sich auf die reine Außensicht des Geschehens, das er lakonisch und schnörkellos und dennoch präzise und prägnant schildert.
Dabei porträtiert Gülich immer wieder solche Sonderlinge und buchstäblichen Einzelgänger mit der Sehnsucht nach einer unbestimmten Erfüllung. Seinen Lokomotivführer z.B., der den Zug zwischen Hannover und Lüneburg auf freier Strecke anhält, um am Bahndamm in aller Ruhe zu vespern, allen Beschwörungen der Zugbegleiter und den Protesten und Verwünschungen der Fahrgäste zum Trotz, und achselzuckend murmelt: Alles an dieser Welt sei so verdammt selbstverständlich geworden. Ein Aussteiger im wörtlichsten Sinn, einer, der wenigstens einen Augenblick lang den Lauf der Dinge, die übliche Routine, aufhält. Und in einigen seiner Texte nimmt Gülich die Sprache dann auch durchaus beim Wort:
Später, sehr viel später, habe man ihr gesagt, ihr Leben sei am seidenen Faden gehangen. Noch heute klammere sie sich bisweilen an diesen einen Satz. Ein Leben, so leicht geworden, dass ein seidener Faden es hält. Manchmal wünsche sie sich nichts mehr, als dass es so wieder sei.
Als Bagatellen bezeichnet Martin Gülich seine Miniaturen, die mitunter nur 3 oder 4 Zeilen kurz sind und nie über eine Seite hinausgehen. Und wie derartige unbedeutende Kleinigkeiten kommen diese Texte ganz unscheinbar daher, ohne Überschrift und Titel, und sind dabei doch alles andere als banal. Im Gegenteil: bei aller formalen Beiläufigkeit gelingen Gülich in den besten seiner insgesamt 75 Texte konzentrierte Kürzestgeschichten, die in wenigen Sätzen ein ganzes Schicksal skizzieren.