Bahr: Also, ich war im Bett in Nürnberg, im Hotel . . .
Burchardt: . . . nachts . . .
Bahr: . . . und wurde nachts so um drei oder nach drei aufgeweckt durch einen Anruf aus dem Schöneberger Rathaus vom Chef der Senatskanzlei: ‚Komm sofort nach Berlin, so schnell es geht. Die sperren den Ostsektor'. Und dann bin ich also mit einer Taxe nach München gefahren, mit der ersten Maschine nach Tempelhof geflogen, ins Rathaus geeilt und in einen Wust von Aktivitäten versunken. Dann kam Brandt. Der war in Hannover aus dem Zug geholt worden - Wahlkampf begann gerade - und nach Berlin an die Sektorengrenze gegangen; dann zu den Kommandanten, und von dort kam er zurück - wütend, wie ich ihn selten erlebt habe. 'Diese Scheißer' sagte er zu diesen hochmögenden Generalen, weil die gezögert hatten, ob sie sich die Freiheit nehmen dürften, einen Jeep oder ein paar Jeeps an die Sektorengrenze zu schicken und zu protestieren. Und wir kamen uns natürlich hilflos vor und wütend und erbittert und ohnmächtig. Also, es war eine schreckliche Geschichte. Die explosionsartige Stimmung wuchs und führte dann zu der Überlegung: Papierener Protest reicht nicht; es muss mehr sein als papierener Protest. Wir haben eine Kundgebung dann am 16. vor dem Schöneberger Rathaus gemacht und gleichzeitig hat Brandt mit demselben Inhalt - 'papierener Protest reicht nicht' - einen Brief an Kennedy geschrieben, unter anderem vorgeschlagen: Verstärkung der amerikanischen Garnison zur psychologischen Grundierung 'man hat keine Angst'.
Burchardt: Damals am 16. August kam ja Vizepräsident Johnson immerhin als sichtbares Zeichen der Solidarität. Auf der anderen Seite hieß es, man war relativ überrascht im Westen von dieser Absperrung. Neue Dokumente scheinen zu belegen, dass man so überrascht eigentlich nicht sein konnte. Und wenn man mal einen Rückblick auf das sogenannte 'Wiener Treffen' von Chruschtschow und Kennedy im Juni, also zwei Monate zuvor - wenn man darauf mal zurückkommt, liegt ja möglicherweise in der Rücksicht auch der Verdacht nahe, dass man zur Stabilisierung der sehr kritischen Lage damals gesagt hat - gemeinsam: Wir machen was, wir sperren ab - 30.000 Menschen flüchteten monatlich aus dem Osten über die Sektorengrenze -, um den Weltfrieden zu sichern. Gab es da ein fait accompli?
Bahr: Also, ich bin fest davon überzeugt, dass es keine Absprache gegeben hat, sondern ich glaube, dass Kennedy und Chruschtschow, die einander Maß genommen haben in Wien, festgestellt haben - oder Chruschtschow hat festgestellt -, dass die Westmächte nicht aus Berlin rauszudrängen sind, es sei denn um das Risiko eines Krieges. Und das wollte er nicht. Und es kann sein, dass der Chruschtschow gesagt hat: 'Ich werde nichts tun, was Eure Position in Berlin - in Klammern 'West' - behindert oder gefährdet'. Und deshalb waren die Westmächte auch ganz ruhig; es gab doch keinerlei Alarm, es gab doch keinerlei Bereitschaftspositionen. An dem Wochenende war der amerikanische Präsident in seinem Sommersitz in Hyannis Port. Es gab in Bonn nichts dergleichen . . .
Burchardt: . . . aber spricht das nicht vielleicht genau für eine Absprache, dass man eben es für so normal wie möglich halten wollte . . .
Bahr: . . . nein. Sehen Sie mal: Am Donnerstag, den 10. August, war ein Empfang des sowjetischen Oberbefehlshabers in Potsdam. Und da haben die Vertreter der drei Westmächte natürlich gesagt: 'Was ist denn da los auf den Straßen, es sind so viele Lastwagen'. Und da hat der gesagt: 'Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, nichts passiert Euch'. Das stimmte ja auch fast. Passieren tat nur etwas für die Eingeborenen, für die Deutschen. Der Mauerbau war der Höhepunkt - wenn Sie so wollen - des Kalten Krieges insofern, dass die Deutschen reine Objekte der Geschichte und reine Objekte der anderen waren. Die wollten jedenfalls keinen Konflikt, keine Spannung; die wollten Stabilität - und haben gemacht und dann auch akzeptiert, dass diese Spaltung zementiert wurde. Es war eine Erleichterung, das Gefühl der Erleichterung gab es - 'da passiert ja doch nun nichts mehr'. Und ich bin in dieser Auffassung um so sicherer, als Kennedy in seiner Antwort an Brandt nicht nur gesagt hat: 'Das ist eine sowjetische Entscheidung, die kann man nur durch Krieg revidieren, und niemand von uns ist bereit, zum Krieg zu gehen deshalb', sondern gleichzeitig gesagt hat: 'Wir dürfen das nicht als Niederlage des Westens ansehen, denn hier ist Chruschtschow zurückgewichen' - das hat der geschrieben in Erinnerung an sein Treffen in Wien. Denn wer einmauert, will nicht angreifen. Und wir haben das nur als 'Trostpflaster' damals empfunden . . .
Burchardt: . . . ja, die Deutschen waren sicherlich da Objekt und nicht Subjekt . . .
Bahr: . . . ja, natürlich. Und wir haben erst später dann realisiert, dass diese Einschätzung von Kennedy richtig war und sehr weise und weitblickend war.
Burchardt: Herr Bahr, aber es fällt dennoch auf, dass Kennedy ja seine sogenannten drei Essentials immer wieder genannt hat. Es hieß nämlich, die Alliierten haben ein Recht auf Anwesenheit, es muss der freie Zugang nach Berlin gesichert bleiben und gleichzeitig die Lebensfähigkeit der Stadt. Genau das ist ja auch durch den Mauerbau nach wie vor garantiert worden. Ist nicht auch das noch ein Indiz dafür, dass es doch so etwas wie eine Absprache gegeben hat?
Bahr: Nein, und zwar aus folgendem Grunde: Diese drei Essentials, die Sie gerade genannt haben, standen zum erstenmal drin im Kommuniqué der NATO-Frühjahrssitzung in Oslo - im April glaube ich. Und da, als ich dieses Kommuniqué gelesen habe, bin ich zu Brandt gelaufen und habe es aufgeregt auf den Tisch ihm gelegt und gesagt: 'Dieses ist das 'grüne Licht' dafür, dass die Sowjets mit dem Ostsektor machen können, was sie wollen'. Bis dahin war nämlich Viermächtestatus. Die Garantie des Viermächtestatus war plötzlich reduziert auf die Lebensfähigkeit und die Anwesenheit und den Zugang der drei Mächte auf die drei Sektoren. Und da hat es keine Absprache gegeben - 'Ihr dürft das nehmen' -, sondern man hatte die Garantie für Berlin reduziert auf die Garantie der Lebensfähigkeit für Westberlin.
Burchardt: Es gab damals große Kritik an Bundeskanzler Adenauer, dass er sich so spät in Berlin blicken ließ. Wie sehen Sie das heute im Rückblick? War das enttäuschend auch für die Stadt, auch für Sie als Regierung?
Bahr: Also, wir waren natürlich wütend und haben ein bisschen gehöhnt 'der Johnson ist schneller über den Ozean gekommen als Adenauer über den Rhein', und wir waren insbesondere wütend, weil an dem Tage, an dem wir die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus hatten, um die Leute hier zu beruhigen und zu sagen, was hier überhaupt möglich ist und was nicht möglich ist - ausgerechnet an diesem Tage, wo mehr als papierener Protest notwendig war, hat Adenauer den sowjetischen Botschafter empfangen und ihn beruhigt und ihm gesagt: 'Also die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Beziehung zu verschlechtern und irgend-etwas zu machen, was die Sache verschärft'. Das war schon ein hartes Ding. Selbst die Springer-Presse hat angefangen, Adenauer zu kritisieren. Das wollte auch was heißen.
Burchardt: Später hat ja Chruschtschow gegenüber dem damaligen deutschen Botschafter Kroll nochmal eingeräumt, wie tatsächlich die Rolle der Sowjetunion gewesen ist, und er hat gesagt: 'Wir waren unter Zwang'. Ist das tatsächlich historisch so belegt, dass die Sowjets unter Zwang waren, diese Mauer zu bauen?
Bahr: Es ist wahrscheinlich, dass erstens Chruschtschow das Ziel von Stalin erreichen wollte, nämlich Berlin zu liquidieren. Was er durch die Blockade nicht geschafft hat, wollte er nun durch den Vorschlag einer 'freien Stadt' - Brandt hat gesagt 'vogelfreie Stadt' - realisieren. Und als er das nicht geschafft hat, weil das Risiko eines Konfliktes da war, hat er das Minimalziel gemacht, nämlich den Ulbricht von der Leine gelassen, ihn die Mauer bauen lassen, damit der Westteil seines Reiches konsolidiert wurde, das heißt, verstopft wurde. Für 20 Pfennige S-Bahn konnte man den Osten verlassen, und das war auf Dauer eben nicht zu ertragen. Insofern hat er auch zu recht glauben können, er muss unter Zwang handeln.
Burchardt: Wir sprechen über die politische Dimension; sprechen wir auch mal über die menschliche. Die menschliche Tragödie war sicherlich ungleich größer, weil sie fühlbar war - gerade für Familien, die getrennt wurden von einem Tag auf den anderen. Hat der Westberliner Senat damals noch irgendwelche Möglichkeiten ad hoc gesehen, um hier Erleichterungen, wie sie ja später auch - nicht zuletzt durch Ihre Ostpolitik - bewirkt worden sind, einzuführen?
Bahr: Natürlich nicht; wir waren Objekte. Der wirkliche Punkt war eine dreifache Erbitterung: Nachdenken zunächst einmal, dass nun diese drei hochmögenden Mächte mit der letzten nicht kündbaren Gewalt nun die Befehle des Innenministers der Deutschen Demokratischen Republik befolgten - Karl Maron -, die es doch angeblich gar nicht gab und jedenfalls eine Regierung, die man nicht anerkannte, und nicht mehr jede Straße, sondern nur noch drei und ein bisschen später einen Checkpoint Charlie benutzen konnten oder durften, wenn Sie in den Ostsektor wollten. Na, das ist schon mal sehr komisch, nicht? Der zweite Punkt war: Wir mussten Polizei einsetzen, unsere Polizei einsetzen zum Schutz der Mauer, weil unsere freundlichen, fabelhaften, sympathischen Studenten dieses Ding mit Plastiksprengstoff schneller in die Luft jagen wollten als es hätte wieder aufgebaut werden können. Und Nummer drei: Unser Schießbefehl war dem östlichen Schießbefehl untergeordnet. Das heißt, nach unserer Auffassung hatte jeder Bürger der Stadt das Recht, frei in den anderen Teil zu gehen. Und plötzlich waren auch im Osten Leute, die trugen unberechtigt Uniform und hatten sogar Waffen - ohne einen Waffenschein von uns. Und die hoben diese Waffen, und die schossen - und das war ein Verbrechen. Und Polizei ist normalerweise dazu da, Verbrechen zu verhüten. Das heißt, wir hätten Feuerschutz geben müssen, wir hätten die freischießen müssen. Stattdessen durfte von der Waffe nur Gebrauch gemacht werden bei uns im Falle der Notwehr oder wenn Schüsse auf unsere Seite einschlugen. Es durfte dort nichts passieren. Und kein Mensch hat gesagt, die Justiz soll doch mal klären, ob das eine Begünstigung des Ostens oder unterlassene Hilfeleistung ist. Und diese drei Punkte - sage ich jetzt mal nur - kamen zusammen zu dem Ergebnis: Wenn niemand in der Lage ist, dieses Ding wieder wegzukriegen und niemand uns hilft, dann müssen wir wenigstens anfangen zu überlegen, ob man die Mauer nicht durchlässig machen könnte für Stunden oder für ein paar Familien, damit man wieder rüber kann oder dass die sich mal begegnen können. Das war die Politik der Passierscheine. Und diese Politik funktionierte deshalb nicht, weil wir eine große Koalition hatten und weil der CDU-Vorsitzende in Berlin, Bürgermeister Franz Amrehn, eine Grundsatzposition vertrat, die ganz anders war. Er sagte: 'Mit Verbrechern und Gefängniswärtern verhandelt man nicht'. Brandt sagte: 'Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht zum Schluss den Menschen hilft'. Amrehn sagte: 'Die Wunde muss offenbleiben', Brand sagte: ‚Wir müssen die Abnormität versuchen zu lindern und erträglich zu machen'. Ergebnis: So lange die große Koalition existierte, gab es keine Passierscheine; die gab es erst nach dem Ende der großen Koalition. Und genau das Gleiche später: Die große Koalition in Bonn - 66 bis 69 - musste beendet werden, ehe die Ost- und Entspannungspolitik passierte.
Burchardt: War das auch ein Grund damals, 69 - wenn wir mal kurz den Exkurs nehmen -, doch mit der FDP gemeinsame Sache zu machen, weil ja die FDP nachgewiesener Maßen schon Mitte der 60er Jahre - ich will mal sagen - progressiver in der Ostpolitik war - Achenbach ist ein Beispiel dafür - als andere Politiker?
Bahr: Wir waren mit der FDP intern völlig klar über die Richtung und die Art der Ostpolitik, die man machen musste, bevor das Wahlergebnis vorlag. Und Brandt und Scheel haben in der sogenannten 'Elefantenrunde' - Donnerstag vor dem Wahltag - auch gar kein Hehl daraus gemacht - sie würden es machen, wenn die Ziffern reichen. Und insofern war die Frage der außenpolitischen Seite der sozialliberalen Regierung - die Frage, wo der Brand mir sagte 'schreib das mal auf', ich sagte 'wann, wie lang soll's sein' und so - und das hat er durchgelesen und der Scheel gegengelesen, und das war - mit einer einzigen Ausnahme - in zehn Minuten erledigt. Die einzige Ausnahme war: Soll da drin stehen: Die DDR ist ein Staat - auch wenn sie für uns kein Ausland sein kann? Da war ich skeptisch. Ich habe gesagt: 'Das kommt raus, aber wozu eine Vorleistung?' Und da hat Brandt gesagt: 'Manchmal muss man in wichtigen Fragen zuerst springen', und dann hat Scheel die Sache entschieden, indem er gesagt hat: 'Ich glaube, wir machen das so, wie der Herr Bundeskanzler das vorschlägt'. So ist das gekommen, was dann zu der zweiten leidenschaftlichen Debatte in Deutschland geführt hat; das war: Diese Fundamentalismen von Amrehn gingen dann zu Barzel.
Burchardt: Einige Stichworte, die sich originär auch mit Ihrem Namen verbinden: Wandel durch Annäherung, Grundlagenvertrag, Passierscheinabkommen, Verhandlungen mit Herrn Kohl - von der Ostseite seinerzeit - letztendlich in der Tat ein Schritt auch auf den Osten zu. Was hatte Sie damals eigentlich so optimistisch gemacht, dass hier tatsächlich etwas zu bewerkstelligen war? Es ist ja die Grundlage der Ostpolitik damals Anfang der 70er Jahre gelegt worden. Die Mauer wurde durchlässiger. Und wenn man das weiter interpretiert, kann man auch sagen: Hier wurde der Anfang zum Zusammenbruch des Ostblocks gelegt.
Bahr: Also, zunächst mal haben wir im Planungsstab des Auswärtigen Amtes festgestellt: Es gab keinerlei Überlegungen zur deutschen Einheit. Und wenn man zur deutschen Einheit kommen will - und das wollten wir -, dann musste man erst mal die Beziehungen zu den Nachbarn im Osten normalisieren. Und dann war der zweite Punkt: Man musste die Sicherheitsfrage lösen, denn niemand würde Deutschland in die Freiheit seiner Einheit entlassen, wenn man Deutschland fürchten muss oder Sorge haben muss vor Deutschland. Das erste war die Ostpolitik. Das zweite ist dann durch die Amerikaner und die Sowjets, also Baker/Bush und Gorbatschow/ Schewardnadse gemacht worden. Wir haben heute in der Tat den Zustand, dass Deutschland an der Leine liegt, wie Baker in seinen Erinnerungen gesagt hat: Keiner muss Angst haben vor Deutschland; Sicherheit für Deutschland ist durch die NATO gegeben. Aber der eigentliche Punkt war: Anders werden wir zur Einheit nicht kommen, wenn die Deutschen nicht anfangen, sich selbst zu rühren und ihre Interessen selbst zu vertreten. Und insofern war - wenn Sie so wollen - in der Mitte dieser Zeit, zwischen dem Mauerbau und dem Mauerfall, das Viermächteabkommen mit dem freien Zugang nach Berlin oder der Regelung des zivilen deutschen Verkehrs - bis dahin gab es keine Regelung, und wenn die DDR die Ampeln auf rot stellte auf den Autobahnen, dann war es eben rot. Und wir haben in der großen Koalition noch überlegt im Kabinett: Sollen die Lastwagenfahrer nach 6 Stunden oder nach 8 Stunden oder nach 12 Stunden Wartezeit entschädigt werden? Da haben wir durch das Transitabkommen die Rechtsgrundlage zum ersten Mal geschaffen für den deutschen Verkehr, und wir haben bewiesen: 4 + 2 - Modell; die vier Mächte konnten nicht mehr ohne die beiden deutschen Regierungen in einer wichtigen Frage in Deutschland entscheiden. Das wurde dann etwas später 2 + 4, war logisch. Aber ich war überzeugt davon, dass ist der einzig mögliche Weg zur deutschen Einheit, ohne sagen zu können, wann würde das funktionieren.
Burchardt: SPD-Politiker wie Hans Apel haben beispielsweise noch Mitte der 80er Jahre die deutsche Frage für erledigt erklärt, das heißt also, die Teilung faktisch sanktioniert.
Bahr: Es haben viele Leute nicht mehr geglaubt. Brandt hat mir sogar gesagt: 'Du gehörst zu den letzten Verrückten, die noch an die deutsche Einheit glauben'. Ich habe Mitte der 80er Jahre - weil Sie das gerade benannten - gedacht: Die deutsche Einheit kommt ganz sicher, aber sicher werde ich das nicht mehr erleben. Und ich bin natürlich ungeheuer fröhlich.
Burchardt: Muss denn das Auftreten von Gorbatschow mit Glasnost - Perestrojka für Sie die Initialzündung gewesen sein, ein Zeichen dafür, dass sich tatsächlich was bewegt?
Bahr: Na, selbstverständlich.
Burchardt: Bis hin zum Mauerfall?
Bahr: Bis hin zum Mauerfall, und zwar deshalb, weil der Gorbatschow eine ganz große Sache gemacht hat, und zwar auf der ideologischen Seite. Wenn Sie so wollen, war Gorbatschow der 'Papst der Kommunisten'. Und wenn der Papst der Kommunisten sagt: 'Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen', dann ist das vergleichbar, als wenn der Papst sagen würde: 'Ich werde Protestant' - unglaublich. Plötzlich sagt dieser Gorbatschow, er fühlt sich als Sozialdemokrat. Na, das konnte doch Kohl nicht bewirken. Das war die ideologische Seite des Kampfes; die konnte nur von den Sozialdemokraten geführt werden - mit dem Ergebnis, dass die Ideologie eben keinerlei Ausstrahlungskraft mehr hatte, keine Gefahr mehr war. Wir mussten Sorge haben vor Panzern und Raketen, aber nicht mehr vor der Ideologie.
Burchardt: Aber war es insofern dann nicht ein Fehler, dass die SPD Ende der 80er Jahre - 86, 87, 88 - das Papier zur Streitkultur mit der SED entworfen hat, das damals zumindest auch noch als eine faktische Sanktionierung der dortigen SED-Politik war?
Bahr: Das war die Fortsetzung dieser Politik auf der Ebene SPD-SED, hat ihren Zweck absolut erfüllt, war damals notwendig. Der erste Sozialdemokrat, der zu mir kann nach Bonn - Steffen Reiche, der ist heute Minister in Brandenburg -, der sagte - das war also 89 -: 'Ich möchte dieses Streitpapier haben, das brauchen wir'. Das hatten wir schon gar nicht mehr, haben wir dann über Nacht nachgedruckt und ihm 5.000 Stück da reingelegt. Das war das beste Zeichen dafür, wie notwendig das gewesen ist. Aber das ist nun alles Geschichte und hat seinen Zweck erfüllt.
Burchardt: Herr Bahr, wir sollten vielleicht zum Schluss des Gesprächs nochmal auf die aktuelle Situation in der deutschen Innenpolitik eingehen - die Rolle der PDS. Es stellt sich die Frage der Koalitionsfähigkeit auf der einen Seite, und auf der anderen Seite natürlich auch die Frage: Muss sich die PDS entschuldigen für den Mauerbau? Nach Ihrer Interpretation hört es sich ja so an, als ob sich eher die Sowjetunion oder die Nachfolge - also Russland/Moskau - entschuldigen müsse.
Bahr: Also, im Prinzip muss sich niemand für die Geschichte entschuldigen. Muss sich Putin entschuldigen? Warum soll sich dann Gysi entschuldigen? Man muss sich entschuldigen für die Mitverantwortung, die die SED zweifellos hatte. Man kann sich nicht entschuldigen für die Toten; da kann man Trauer haben über die Tragik und über den Schießbefehl, wohlwissend - die Existenz der DDR hing am Schießbefehl. Und als der Satellit DDR zum ersten Mal in dieser Frage wirklich souverän gehandelt hat am 9. November 1989 . . .
Burchardt: . . . fast aus Versehen . . .
Bahr: . . . fast aus Versehen, aber jedenfalls ohne die Sowjets zu fragen, zu konsultieren, zu informieren - war das der Anfang vom Ende der DDR. Damit war sie weg. Ich habe in den 60er Jahren Ärger gehabt mit einem Interview, wo ich gesagt habe ‚Wenn heute im NEUEN DEUTSCHLAND steht: Der Schießbefehl ist abgeschafft, dann gibt es morgen keine Leitern mehr zu kaufen in Ostberlin, weil - wenn es ohne Risiko möglich ist, dann laufen die wieder weg, dann kann man die Mauer gleich schleifen. Ich möchte als Sozialdemokrat, dass die PDS möglichst klein ist. Wir haben nicht verhindern können, dass sie im Ostteil der Stadt annähernd 40 Prozent bekommen hat, und trotzdem heißt das noch nicht unbedingt, dass sie für eine Koalition unentbehrlich ist. Wenn es möglich ist, eine Koalition ohne die PDS, ist mir das lieber - mit einer Ausnahme: Keine Wiederholung der großen Koalition. Warum nicht? Wir haben mit der großen Koalition ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Was aus der großen Koalition herauskommt, sieht man in Sachsen und in Thüringen. Da wird die PDS laufend stärker, ist zur zweitstärksten Partei geworden; die SPD ist drittstärkste Partei geworden. Und wir haben es 94 und 98 in Berlin gesehen. Seit 94 hat die PDS sich fast verdoppelt, und die SPD hat acht oder neun Punkte verloren. Das heißt, hier macht sich bemerkbar, dass es staatspolitisch nicht zu verantworten ist, wenn man der PDS den Luxus zuweist oder zubilligt, die einzige große Oppositionspartei zu werden.
Burchardt: Sie sprechen jetzt von Berlin . . .
Bahr: . . . ich spreche von Berlin . . .
Burchardt: . . . würde das auch für den Bund gelten?
Bahr: Nein, für den Bund würde es deshalb nicht gelten, weil für den Bund keine Partei regierungsfähig ist, die ein schwieriges Verhältnis zur Nation, ein Null-Verhältnis zu den Vereinten Nationen und ein Null-Verhältnis zur Verteidigung - NATO und Bundeswehr - hat.
Burchardt: Halten Sie hier auch 'Wandel durch Annäherung' für möglich?
Bahr: Na, jedenfalls kann man sagen: Bei den Grünen hat Wandel durch Annäherung einigermaßen funktioniert. Ich will der PDS im Prinzip nicht die Lernfähigkeit absprechen, es wäre ja entsetzlich. Wie will ich denn innere Einheit erreichen? So lange die PDS so stark ist, gibt es keine innere Einheit. Das ist ein Zeichen, dass es die innere Einheit nicht gibt. Wenn ich sie will, muss die Sache - ich sage nochmal - natürlich werden, dass die PDS so klein wie möglich wird, aber im Prinzip als eine demokratische Partei gerechnet werden muss.
Burchardt: . . . nachts . . .
Bahr: . . . und wurde nachts so um drei oder nach drei aufgeweckt durch einen Anruf aus dem Schöneberger Rathaus vom Chef der Senatskanzlei: ‚Komm sofort nach Berlin, so schnell es geht. Die sperren den Ostsektor'. Und dann bin ich also mit einer Taxe nach München gefahren, mit der ersten Maschine nach Tempelhof geflogen, ins Rathaus geeilt und in einen Wust von Aktivitäten versunken. Dann kam Brandt. Der war in Hannover aus dem Zug geholt worden - Wahlkampf begann gerade - und nach Berlin an die Sektorengrenze gegangen; dann zu den Kommandanten, und von dort kam er zurück - wütend, wie ich ihn selten erlebt habe. 'Diese Scheißer' sagte er zu diesen hochmögenden Generalen, weil die gezögert hatten, ob sie sich die Freiheit nehmen dürften, einen Jeep oder ein paar Jeeps an die Sektorengrenze zu schicken und zu protestieren. Und wir kamen uns natürlich hilflos vor und wütend und erbittert und ohnmächtig. Also, es war eine schreckliche Geschichte. Die explosionsartige Stimmung wuchs und führte dann zu der Überlegung: Papierener Protest reicht nicht; es muss mehr sein als papierener Protest. Wir haben eine Kundgebung dann am 16. vor dem Schöneberger Rathaus gemacht und gleichzeitig hat Brandt mit demselben Inhalt - 'papierener Protest reicht nicht' - einen Brief an Kennedy geschrieben, unter anderem vorgeschlagen: Verstärkung der amerikanischen Garnison zur psychologischen Grundierung 'man hat keine Angst'.
Burchardt: Damals am 16. August kam ja Vizepräsident Johnson immerhin als sichtbares Zeichen der Solidarität. Auf der anderen Seite hieß es, man war relativ überrascht im Westen von dieser Absperrung. Neue Dokumente scheinen zu belegen, dass man so überrascht eigentlich nicht sein konnte. Und wenn man mal einen Rückblick auf das sogenannte 'Wiener Treffen' von Chruschtschow und Kennedy im Juni, also zwei Monate zuvor - wenn man darauf mal zurückkommt, liegt ja möglicherweise in der Rücksicht auch der Verdacht nahe, dass man zur Stabilisierung der sehr kritischen Lage damals gesagt hat - gemeinsam: Wir machen was, wir sperren ab - 30.000 Menschen flüchteten monatlich aus dem Osten über die Sektorengrenze -, um den Weltfrieden zu sichern. Gab es da ein fait accompli?
Bahr: Also, ich bin fest davon überzeugt, dass es keine Absprache gegeben hat, sondern ich glaube, dass Kennedy und Chruschtschow, die einander Maß genommen haben in Wien, festgestellt haben - oder Chruschtschow hat festgestellt -, dass die Westmächte nicht aus Berlin rauszudrängen sind, es sei denn um das Risiko eines Krieges. Und das wollte er nicht. Und es kann sein, dass der Chruschtschow gesagt hat: 'Ich werde nichts tun, was Eure Position in Berlin - in Klammern 'West' - behindert oder gefährdet'. Und deshalb waren die Westmächte auch ganz ruhig; es gab doch keinerlei Alarm, es gab doch keinerlei Bereitschaftspositionen. An dem Wochenende war der amerikanische Präsident in seinem Sommersitz in Hyannis Port. Es gab in Bonn nichts dergleichen . . .
Burchardt: . . . aber spricht das nicht vielleicht genau für eine Absprache, dass man eben es für so normal wie möglich halten wollte . . .
Bahr: . . . nein. Sehen Sie mal: Am Donnerstag, den 10. August, war ein Empfang des sowjetischen Oberbefehlshabers in Potsdam. Und da haben die Vertreter der drei Westmächte natürlich gesagt: 'Was ist denn da los auf den Straßen, es sind so viele Lastwagen'. Und da hat der gesagt: 'Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, nichts passiert Euch'. Das stimmte ja auch fast. Passieren tat nur etwas für die Eingeborenen, für die Deutschen. Der Mauerbau war der Höhepunkt - wenn Sie so wollen - des Kalten Krieges insofern, dass die Deutschen reine Objekte der Geschichte und reine Objekte der anderen waren. Die wollten jedenfalls keinen Konflikt, keine Spannung; die wollten Stabilität - und haben gemacht und dann auch akzeptiert, dass diese Spaltung zementiert wurde. Es war eine Erleichterung, das Gefühl der Erleichterung gab es - 'da passiert ja doch nun nichts mehr'. Und ich bin in dieser Auffassung um so sicherer, als Kennedy in seiner Antwort an Brandt nicht nur gesagt hat: 'Das ist eine sowjetische Entscheidung, die kann man nur durch Krieg revidieren, und niemand von uns ist bereit, zum Krieg zu gehen deshalb', sondern gleichzeitig gesagt hat: 'Wir dürfen das nicht als Niederlage des Westens ansehen, denn hier ist Chruschtschow zurückgewichen' - das hat der geschrieben in Erinnerung an sein Treffen in Wien. Denn wer einmauert, will nicht angreifen. Und wir haben das nur als 'Trostpflaster' damals empfunden . . .
Burchardt: . . . ja, die Deutschen waren sicherlich da Objekt und nicht Subjekt . . .
Bahr: . . . ja, natürlich. Und wir haben erst später dann realisiert, dass diese Einschätzung von Kennedy richtig war und sehr weise und weitblickend war.
Burchardt: Herr Bahr, aber es fällt dennoch auf, dass Kennedy ja seine sogenannten drei Essentials immer wieder genannt hat. Es hieß nämlich, die Alliierten haben ein Recht auf Anwesenheit, es muss der freie Zugang nach Berlin gesichert bleiben und gleichzeitig die Lebensfähigkeit der Stadt. Genau das ist ja auch durch den Mauerbau nach wie vor garantiert worden. Ist nicht auch das noch ein Indiz dafür, dass es doch so etwas wie eine Absprache gegeben hat?
Bahr: Nein, und zwar aus folgendem Grunde: Diese drei Essentials, die Sie gerade genannt haben, standen zum erstenmal drin im Kommuniqué der NATO-Frühjahrssitzung in Oslo - im April glaube ich. Und da, als ich dieses Kommuniqué gelesen habe, bin ich zu Brandt gelaufen und habe es aufgeregt auf den Tisch ihm gelegt und gesagt: 'Dieses ist das 'grüne Licht' dafür, dass die Sowjets mit dem Ostsektor machen können, was sie wollen'. Bis dahin war nämlich Viermächtestatus. Die Garantie des Viermächtestatus war plötzlich reduziert auf die Lebensfähigkeit und die Anwesenheit und den Zugang der drei Mächte auf die drei Sektoren. Und da hat es keine Absprache gegeben - 'Ihr dürft das nehmen' -, sondern man hatte die Garantie für Berlin reduziert auf die Garantie der Lebensfähigkeit für Westberlin.
Burchardt: Es gab damals große Kritik an Bundeskanzler Adenauer, dass er sich so spät in Berlin blicken ließ. Wie sehen Sie das heute im Rückblick? War das enttäuschend auch für die Stadt, auch für Sie als Regierung?
Bahr: Also, wir waren natürlich wütend und haben ein bisschen gehöhnt 'der Johnson ist schneller über den Ozean gekommen als Adenauer über den Rhein', und wir waren insbesondere wütend, weil an dem Tage, an dem wir die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus hatten, um die Leute hier zu beruhigen und zu sagen, was hier überhaupt möglich ist und was nicht möglich ist - ausgerechnet an diesem Tage, wo mehr als papierener Protest notwendig war, hat Adenauer den sowjetischen Botschafter empfangen und ihn beruhigt und ihm gesagt: 'Also die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Beziehung zu verschlechtern und irgend-etwas zu machen, was die Sache verschärft'. Das war schon ein hartes Ding. Selbst die Springer-Presse hat angefangen, Adenauer zu kritisieren. Das wollte auch was heißen.
Burchardt: Später hat ja Chruschtschow gegenüber dem damaligen deutschen Botschafter Kroll nochmal eingeräumt, wie tatsächlich die Rolle der Sowjetunion gewesen ist, und er hat gesagt: 'Wir waren unter Zwang'. Ist das tatsächlich historisch so belegt, dass die Sowjets unter Zwang waren, diese Mauer zu bauen?
Bahr: Es ist wahrscheinlich, dass erstens Chruschtschow das Ziel von Stalin erreichen wollte, nämlich Berlin zu liquidieren. Was er durch die Blockade nicht geschafft hat, wollte er nun durch den Vorschlag einer 'freien Stadt' - Brandt hat gesagt 'vogelfreie Stadt' - realisieren. Und als er das nicht geschafft hat, weil das Risiko eines Konfliktes da war, hat er das Minimalziel gemacht, nämlich den Ulbricht von der Leine gelassen, ihn die Mauer bauen lassen, damit der Westteil seines Reiches konsolidiert wurde, das heißt, verstopft wurde. Für 20 Pfennige S-Bahn konnte man den Osten verlassen, und das war auf Dauer eben nicht zu ertragen. Insofern hat er auch zu recht glauben können, er muss unter Zwang handeln.
Burchardt: Wir sprechen über die politische Dimension; sprechen wir auch mal über die menschliche. Die menschliche Tragödie war sicherlich ungleich größer, weil sie fühlbar war - gerade für Familien, die getrennt wurden von einem Tag auf den anderen. Hat der Westberliner Senat damals noch irgendwelche Möglichkeiten ad hoc gesehen, um hier Erleichterungen, wie sie ja später auch - nicht zuletzt durch Ihre Ostpolitik - bewirkt worden sind, einzuführen?
Bahr: Natürlich nicht; wir waren Objekte. Der wirkliche Punkt war eine dreifache Erbitterung: Nachdenken zunächst einmal, dass nun diese drei hochmögenden Mächte mit der letzten nicht kündbaren Gewalt nun die Befehle des Innenministers der Deutschen Demokratischen Republik befolgten - Karl Maron -, die es doch angeblich gar nicht gab und jedenfalls eine Regierung, die man nicht anerkannte, und nicht mehr jede Straße, sondern nur noch drei und ein bisschen später einen Checkpoint Charlie benutzen konnten oder durften, wenn Sie in den Ostsektor wollten. Na, das ist schon mal sehr komisch, nicht? Der zweite Punkt war: Wir mussten Polizei einsetzen, unsere Polizei einsetzen zum Schutz der Mauer, weil unsere freundlichen, fabelhaften, sympathischen Studenten dieses Ding mit Plastiksprengstoff schneller in die Luft jagen wollten als es hätte wieder aufgebaut werden können. Und Nummer drei: Unser Schießbefehl war dem östlichen Schießbefehl untergeordnet. Das heißt, nach unserer Auffassung hatte jeder Bürger der Stadt das Recht, frei in den anderen Teil zu gehen. Und plötzlich waren auch im Osten Leute, die trugen unberechtigt Uniform und hatten sogar Waffen - ohne einen Waffenschein von uns. Und die hoben diese Waffen, und die schossen - und das war ein Verbrechen. Und Polizei ist normalerweise dazu da, Verbrechen zu verhüten. Das heißt, wir hätten Feuerschutz geben müssen, wir hätten die freischießen müssen. Stattdessen durfte von der Waffe nur Gebrauch gemacht werden bei uns im Falle der Notwehr oder wenn Schüsse auf unsere Seite einschlugen. Es durfte dort nichts passieren. Und kein Mensch hat gesagt, die Justiz soll doch mal klären, ob das eine Begünstigung des Ostens oder unterlassene Hilfeleistung ist. Und diese drei Punkte - sage ich jetzt mal nur - kamen zusammen zu dem Ergebnis: Wenn niemand in der Lage ist, dieses Ding wieder wegzukriegen und niemand uns hilft, dann müssen wir wenigstens anfangen zu überlegen, ob man die Mauer nicht durchlässig machen könnte für Stunden oder für ein paar Familien, damit man wieder rüber kann oder dass die sich mal begegnen können. Das war die Politik der Passierscheine. Und diese Politik funktionierte deshalb nicht, weil wir eine große Koalition hatten und weil der CDU-Vorsitzende in Berlin, Bürgermeister Franz Amrehn, eine Grundsatzposition vertrat, die ganz anders war. Er sagte: 'Mit Verbrechern und Gefängniswärtern verhandelt man nicht'. Brandt sagte: 'Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht zum Schluss den Menschen hilft'. Amrehn sagte: 'Die Wunde muss offenbleiben', Brand sagte: ‚Wir müssen die Abnormität versuchen zu lindern und erträglich zu machen'. Ergebnis: So lange die große Koalition existierte, gab es keine Passierscheine; die gab es erst nach dem Ende der großen Koalition. Und genau das Gleiche später: Die große Koalition in Bonn - 66 bis 69 - musste beendet werden, ehe die Ost- und Entspannungspolitik passierte.
Burchardt: War das auch ein Grund damals, 69 - wenn wir mal kurz den Exkurs nehmen -, doch mit der FDP gemeinsame Sache zu machen, weil ja die FDP nachgewiesener Maßen schon Mitte der 60er Jahre - ich will mal sagen - progressiver in der Ostpolitik war - Achenbach ist ein Beispiel dafür - als andere Politiker?
Bahr: Wir waren mit der FDP intern völlig klar über die Richtung und die Art der Ostpolitik, die man machen musste, bevor das Wahlergebnis vorlag. Und Brandt und Scheel haben in der sogenannten 'Elefantenrunde' - Donnerstag vor dem Wahltag - auch gar kein Hehl daraus gemacht - sie würden es machen, wenn die Ziffern reichen. Und insofern war die Frage der außenpolitischen Seite der sozialliberalen Regierung - die Frage, wo der Brand mir sagte 'schreib das mal auf', ich sagte 'wann, wie lang soll's sein' und so - und das hat er durchgelesen und der Scheel gegengelesen, und das war - mit einer einzigen Ausnahme - in zehn Minuten erledigt. Die einzige Ausnahme war: Soll da drin stehen: Die DDR ist ein Staat - auch wenn sie für uns kein Ausland sein kann? Da war ich skeptisch. Ich habe gesagt: 'Das kommt raus, aber wozu eine Vorleistung?' Und da hat Brandt gesagt: 'Manchmal muss man in wichtigen Fragen zuerst springen', und dann hat Scheel die Sache entschieden, indem er gesagt hat: 'Ich glaube, wir machen das so, wie der Herr Bundeskanzler das vorschlägt'. So ist das gekommen, was dann zu der zweiten leidenschaftlichen Debatte in Deutschland geführt hat; das war: Diese Fundamentalismen von Amrehn gingen dann zu Barzel.
Burchardt: Einige Stichworte, die sich originär auch mit Ihrem Namen verbinden: Wandel durch Annäherung, Grundlagenvertrag, Passierscheinabkommen, Verhandlungen mit Herrn Kohl - von der Ostseite seinerzeit - letztendlich in der Tat ein Schritt auch auf den Osten zu. Was hatte Sie damals eigentlich so optimistisch gemacht, dass hier tatsächlich etwas zu bewerkstelligen war? Es ist ja die Grundlage der Ostpolitik damals Anfang der 70er Jahre gelegt worden. Die Mauer wurde durchlässiger. Und wenn man das weiter interpretiert, kann man auch sagen: Hier wurde der Anfang zum Zusammenbruch des Ostblocks gelegt.
Bahr: Also, zunächst mal haben wir im Planungsstab des Auswärtigen Amtes festgestellt: Es gab keinerlei Überlegungen zur deutschen Einheit. Und wenn man zur deutschen Einheit kommen will - und das wollten wir -, dann musste man erst mal die Beziehungen zu den Nachbarn im Osten normalisieren. Und dann war der zweite Punkt: Man musste die Sicherheitsfrage lösen, denn niemand würde Deutschland in die Freiheit seiner Einheit entlassen, wenn man Deutschland fürchten muss oder Sorge haben muss vor Deutschland. Das erste war die Ostpolitik. Das zweite ist dann durch die Amerikaner und die Sowjets, also Baker/Bush und Gorbatschow/ Schewardnadse gemacht worden. Wir haben heute in der Tat den Zustand, dass Deutschland an der Leine liegt, wie Baker in seinen Erinnerungen gesagt hat: Keiner muss Angst haben vor Deutschland; Sicherheit für Deutschland ist durch die NATO gegeben. Aber der eigentliche Punkt war: Anders werden wir zur Einheit nicht kommen, wenn die Deutschen nicht anfangen, sich selbst zu rühren und ihre Interessen selbst zu vertreten. Und insofern war - wenn Sie so wollen - in der Mitte dieser Zeit, zwischen dem Mauerbau und dem Mauerfall, das Viermächteabkommen mit dem freien Zugang nach Berlin oder der Regelung des zivilen deutschen Verkehrs - bis dahin gab es keine Regelung, und wenn die DDR die Ampeln auf rot stellte auf den Autobahnen, dann war es eben rot. Und wir haben in der großen Koalition noch überlegt im Kabinett: Sollen die Lastwagenfahrer nach 6 Stunden oder nach 8 Stunden oder nach 12 Stunden Wartezeit entschädigt werden? Da haben wir durch das Transitabkommen die Rechtsgrundlage zum ersten Mal geschaffen für den deutschen Verkehr, und wir haben bewiesen: 4 + 2 - Modell; die vier Mächte konnten nicht mehr ohne die beiden deutschen Regierungen in einer wichtigen Frage in Deutschland entscheiden. Das wurde dann etwas später 2 + 4, war logisch. Aber ich war überzeugt davon, dass ist der einzig mögliche Weg zur deutschen Einheit, ohne sagen zu können, wann würde das funktionieren.
Burchardt: SPD-Politiker wie Hans Apel haben beispielsweise noch Mitte der 80er Jahre die deutsche Frage für erledigt erklärt, das heißt also, die Teilung faktisch sanktioniert.
Bahr: Es haben viele Leute nicht mehr geglaubt. Brandt hat mir sogar gesagt: 'Du gehörst zu den letzten Verrückten, die noch an die deutsche Einheit glauben'. Ich habe Mitte der 80er Jahre - weil Sie das gerade benannten - gedacht: Die deutsche Einheit kommt ganz sicher, aber sicher werde ich das nicht mehr erleben. Und ich bin natürlich ungeheuer fröhlich.
Burchardt: Muss denn das Auftreten von Gorbatschow mit Glasnost - Perestrojka für Sie die Initialzündung gewesen sein, ein Zeichen dafür, dass sich tatsächlich was bewegt?
Bahr: Na, selbstverständlich.
Burchardt: Bis hin zum Mauerfall?
Bahr: Bis hin zum Mauerfall, und zwar deshalb, weil der Gorbatschow eine ganz große Sache gemacht hat, und zwar auf der ideologischen Seite. Wenn Sie so wollen, war Gorbatschow der 'Papst der Kommunisten'. Und wenn der Papst der Kommunisten sagt: 'Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen', dann ist das vergleichbar, als wenn der Papst sagen würde: 'Ich werde Protestant' - unglaublich. Plötzlich sagt dieser Gorbatschow, er fühlt sich als Sozialdemokrat. Na, das konnte doch Kohl nicht bewirken. Das war die ideologische Seite des Kampfes; die konnte nur von den Sozialdemokraten geführt werden - mit dem Ergebnis, dass die Ideologie eben keinerlei Ausstrahlungskraft mehr hatte, keine Gefahr mehr war. Wir mussten Sorge haben vor Panzern und Raketen, aber nicht mehr vor der Ideologie.
Burchardt: Aber war es insofern dann nicht ein Fehler, dass die SPD Ende der 80er Jahre - 86, 87, 88 - das Papier zur Streitkultur mit der SED entworfen hat, das damals zumindest auch noch als eine faktische Sanktionierung der dortigen SED-Politik war?
Bahr: Das war die Fortsetzung dieser Politik auf der Ebene SPD-SED, hat ihren Zweck absolut erfüllt, war damals notwendig. Der erste Sozialdemokrat, der zu mir kann nach Bonn - Steffen Reiche, der ist heute Minister in Brandenburg -, der sagte - das war also 89 -: 'Ich möchte dieses Streitpapier haben, das brauchen wir'. Das hatten wir schon gar nicht mehr, haben wir dann über Nacht nachgedruckt und ihm 5.000 Stück da reingelegt. Das war das beste Zeichen dafür, wie notwendig das gewesen ist. Aber das ist nun alles Geschichte und hat seinen Zweck erfüllt.
Burchardt: Herr Bahr, wir sollten vielleicht zum Schluss des Gesprächs nochmal auf die aktuelle Situation in der deutschen Innenpolitik eingehen - die Rolle der PDS. Es stellt sich die Frage der Koalitionsfähigkeit auf der einen Seite, und auf der anderen Seite natürlich auch die Frage: Muss sich die PDS entschuldigen für den Mauerbau? Nach Ihrer Interpretation hört es sich ja so an, als ob sich eher die Sowjetunion oder die Nachfolge - also Russland/Moskau - entschuldigen müsse.
Bahr: Also, im Prinzip muss sich niemand für die Geschichte entschuldigen. Muss sich Putin entschuldigen? Warum soll sich dann Gysi entschuldigen? Man muss sich entschuldigen für die Mitverantwortung, die die SED zweifellos hatte. Man kann sich nicht entschuldigen für die Toten; da kann man Trauer haben über die Tragik und über den Schießbefehl, wohlwissend - die Existenz der DDR hing am Schießbefehl. Und als der Satellit DDR zum ersten Mal in dieser Frage wirklich souverän gehandelt hat am 9. November 1989 . . .
Burchardt: . . . fast aus Versehen . . .
Bahr: . . . fast aus Versehen, aber jedenfalls ohne die Sowjets zu fragen, zu konsultieren, zu informieren - war das der Anfang vom Ende der DDR. Damit war sie weg. Ich habe in den 60er Jahren Ärger gehabt mit einem Interview, wo ich gesagt habe ‚Wenn heute im NEUEN DEUTSCHLAND steht: Der Schießbefehl ist abgeschafft, dann gibt es morgen keine Leitern mehr zu kaufen in Ostberlin, weil - wenn es ohne Risiko möglich ist, dann laufen die wieder weg, dann kann man die Mauer gleich schleifen. Ich möchte als Sozialdemokrat, dass die PDS möglichst klein ist. Wir haben nicht verhindern können, dass sie im Ostteil der Stadt annähernd 40 Prozent bekommen hat, und trotzdem heißt das noch nicht unbedingt, dass sie für eine Koalition unentbehrlich ist. Wenn es möglich ist, eine Koalition ohne die PDS, ist mir das lieber - mit einer Ausnahme: Keine Wiederholung der großen Koalition. Warum nicht? Wir haben mit der großen Koalition ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Was aus der großen Koalition herauskommt, sieht man in Sachsen und in Thüringen. Da wird die PDS laufend stärker, ist zur zweitstärksten Partei geworden; die SPD ist drittstärkste Partei geworden. Und wir haben es 94 und 98 in Berlin gesehen. Seit 94 hat die PDS sich fast verdoppelt, und die SPD hat acht oder neun Punkte verloren. Das heißt, hier macht sich bemerkbar, dass es staatspolitisch nicht zu verantworten ist, wenn man der PDS den Luxus zuweist oder zubilligt, die einzige große Oppositionspartei zu werden.
Burchardt: Sie sprechen jetzt von Berlin . . .
Bahr: . . . ich spreche von Berlin . . .
Burchardt: . . . würde das auch für den Bund gelten?
Bahr: Nein, für den Bund würde es deshalb nicht gelten, weil für den Bund keine Partei regierungsfähig ist, die ein schwieriges Verhältnis zur Nation, ein Null-Verhältnis zu den Vereinten Nationen und ein Null-Verhältnis zur Verteidigung - NATO und Bundeswehr - hat.
Burchardt: Halten Sie hier auch 'Wandel durch Annäherung' für möglich?
Bahr: Na, jedenfalls kann man sagen: Bei den Grünen hat Wandel durch Annäherung einigermaßen funktioniert. Ich will der PDS im Prinzip nicht die Lernfähigkeit absprechen, es wäre ja entsetzlich. Wie will ich denn innere Einheit erreichen? So lange die PDS so stark ist, gibt es keine innere Einheit. Das ist ein Zeichen, dass es die innere Einheit nicht gibt. Wenn ich sie will, muss die Sache - ich sage nochmal - natürlich werden, dass die PDS so klein wie möglich wird, aber im Prinzip als eine demokratische Partei gerechnet werden muss.